Zwei kleine Geschichten

Cesare Battisti

Anfang September 2020 trat Cesare Battisti in den Hungerstreik (seine Hungerstreikerklärung), um gegen seine fortlaufende Isolationshaft zu protestieren. Gleichzeitig verweigerte er die lebensnotwendige Behandlung seiner medizinischen Therapie (er leidet an chronischer Hepatitis B und Lungeninsuffizienz). Er forderte auch seine Verlegung in einen norditalienischen Knast, um Kontakte zu seiner Familie (er hat einen fünfjährigen Sohn) und zu Freunden pflegen zu können.

Als Reaktion wurde er in die AS2-Hochsicherheitsabteilung des Rossano-Gefängnisses in Kalabrien verlegt. In dieser Abteilung sind militante Islamisten inhaftiert, Cesare erklärte unmittelbar nach seiner Verlegung, dass er nun um sein Leben fürchte, da er in der Zeit seiner Inhaftierung in Frankreich bereits sowohl von Al Qaida als auch von ISIS Gefangenen mit dem Tode bedroht worden war, weil er sich gegen die Unterdrückung der Frauen durch die islamistische Bewegung und für den Kampf der Kurden in Kobane gegen ISIS positioniert hatte.

Cesare Battisti gehörte in den 70ern der italienischen Gruppierung “Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus (PAC)” an, er wurde von den Bullen geschnappt, ihm gelang aber 1981 die Flucht aus dem Knast. Jahrzehntelang konnte er untertauchen, viele Jahre lebte er erst in Frankreich und später in Lateinamerika, bis er nach dem Regierungswechsel in Brasilien 2018 nach Bolivien flüchten musste, wo er von der dortigen Polizei in Zusammenarbeit mit einem Zielfahndungskommando der Italiener festgenommen und Anfang 2019 nach Italien ausgeliefert wurde.

In Knast von Rossano zielt der italienische Staat fast 40 Jahre nach den Taten, die Cesare Battisti zur Last gelegt werden, weiterhin auf die psychische Vernichtung des Gefangenen ab, formal der Isolation der Terrorismusgesetzgebung enthoben, werden ihm weiterhin elementare Mittel zur Kommunikation mit der Außenwelt vorenthalten. Selbst seinen PC enthält man ihm in seiner neuen Zelle vor. In der Einsamkeit der Zelle sucht der menschliche Verstand, der Ort, den wir die Seele nennen, nach Mittel und Wegen nicht zu verzweifeln, sich an das lebenswerte des Lebens zu erinnern, ein jeder, der schon einmal über längere Zeit hinter Mauern verwahrt worden ist, kennt diesen Kampf um die eigene Identität. Wir haben zwei poetische Botschaften übersetzt, die Cesare Battisti uns, die wir tagtäglich wie selbstverständlich in die Welt hinaus spazieren können, jüngst zukommen hat lassen. Sunzi Bingfa

EINE BLUME

Marco trinkt dreimal und versenkt seine Hände zu einer Schale geformt im kalten Wasser des Baches. Dann steht er auf, streckt die Hände aus und betrachtet die Libellen, die wie in Trance die Strömung streifen. „Das Wasser singt den Fluss des Lebens“, sagt er zu seiner Überraschung laut, in dem Moment, in dem ihn ein Zittern erfasst und ihn wie eine Note vibrieren lässt, die der Partitur entkommen ist. Er sieht sich selbst am gegenüberliegenden Ufer stehen. Wütend über die Erscheinung, glaubt er nicht an eine Illusion. Bei dem unglaublichen Zusammentreffen der Reflexionen auf der Wasseroberfläche ist der Himmel so dicht mit Türkis überzogen, dass er unecht aussieht. Oder spielt ihm die Müdigkeit einen Streich…. Er denkt nicht, er ist wie hypnotisiert. Das heftige Zittern vergeht so plötzlich, wie es gekommen ist. Marco nippt am Wasserdampf, der mit dem Duft jener Blumen getränkt ist, die erst am Rande des Todes blühen. Die anfängliche Besorgnis wurde durch den Gesang des kristallklaren Wassers hinweggetragen. Von einem Ufer zum anderen beobachtet er seine dünne Gestalt lächelnd. Er versucht eine Geste, wie ein Spiegel, und der Andere wiederholt sie. Er fühlt sich töricht und atmet immer noch den Duft dieser Blumen ein. Vom gegenüberliegenden Ufer fällt ein Schuss aus einer Pistole. Es liegt eine zarte Musik in der Luft, die die Natur und den Fluss des Lebens feiert.

EIN KRAFTWERK AUS LUFT

Sein Ohr gegen die Schaumstoffmatratze gepresst, hört Marco das Knurren der von Schmerzen durchtränkten Wände. Wasserdichte Luft, Geruch nach Totzeit.

„Sie sollten Ihr Ohr wechseln“, sagt der braune Fleck an der Wand, der sich im Rhythmus der Atmung ausdehnt und wieder zusammenzieht. Es ist eine Frage der Luft, meint Marco. Die feine ist gut für verschlossene Gemüter und sonnenlose Schatten.

Marco ist jemand, der geschwitzt hat, um sich von Grundbedürfnissen zu befreien. Bis auf die Luft vermisst er sie zu Tode. Und doch dominiert er das Geschehen mit seinen Tausenden von ausgeblasenen Kerzen.

Wenn er auf einem Ohr ruht, hört er die uralten Geräusche, die Fallen der verstaubten Illusionen und ausgefransten Versprechen. Echos einer Welt, die noch immer von der Zeit geprägt ist. Man ist nie absolut frei. Die Wände wissen es, die Flecken, Spinnen und Stechmücken sagen es. Millionen von Gesichtern lächeln mit einem höhnischen Grinsen der Zufriedenheit.

Wenn Marco sich aufregen würde, nur um etwas zu tun, würde er die Weisheit seiner Mauern beleidigen, und er würde allein gelassen werden. Marco trennt sein Ohr abrupt von der entmutigten Matratze, um zu sehen, ob es nichts anderes zu beseitigen gibt. Er neckt die Zeit, was eine letzte Wiederholung nicht vor ihm verbirgt. Aber die Mauern lassen sich nicht täuschen, es sind paranoide Vorsprünge.

Wie wenn man sich vorstellt, dass man den Raum mit den Händen fühlen kann. Er spreizt seine Finger gerade so weit, dass ein Rinnsal Luft durchströmen kann, und saugt mit geweiteten Nasenlöchern den Abstrom aus ihnen heraus. Nur ein Trick, um den Geist abzulenken und ein Fenster zu öffnen. Geben Sie abgestandenen Schatten Bewegungsfreiheit.

Wenn Marco träumt, scheint er zwischen bunten Luftballons und Girlanden aus Gold und Silber zu fliegen.