2021 – Sternenstaub

Sebastian Lotzer

Die Leute haben ihre Sterne, für jeden sind sie anders. Für manch Reisenden sind die Sterne Führer. Für andere sind sie nichts anderes als kleine Lichter. Und wieder andere, für die Gelehrten, sind sie Probleme. Für meinen Geschäftsmann waren sie Gold. Aber alle diese Sterne schweigen. Du aber, du wirst Sterne haben wie niemand anderes …

Der kleine Prinz – Antoine de Saint-Exupéry

Sich fügen, sich beherrschen, unkenntlich werden, nicht aus klandestiner Absicht, sondern in Verleugnung. Kein Lächeln. Nirgendwo. Wer aber hat all die Menschen gezählt, denen ein unverhofftes Lächeln die Kraft gegeben hat, diesen Tag, nur diesen einen Tag noch weiterzuleben, den Strick beiseite zu legen, die Schlaftabletten in der Toilette herunter zu spülen. Wer zählt die Kinder, die in den Dörfern Afrikas an banalsten Krankheiten sterben, während hier die Virenbeherrschungsmaschine mit Milliarden gefüttert die neurotische Angst zu bannen verspricht. Wer zählt die Toten, die, bevor sie sich zu den Toten gelegt haben, einsam und verlassen in den Betten der Pflegeheime darbten, keine Hand zu halten, kein zärtlicher Finger, der die Tränen aus den Augenwinkeln wischt, keine letzten Worte des Abschieds, keine Versöhnung mit den Altlasten, die ein jeder von uns mit sich selbst herum schleppt. Nicht einmal der Pfarrer fand den Weg. Da war nur diese Kälte, die fast immer zum Schluß da ist und niemand reichte eine zweite Decke, kein warmer Körper, der noch einmal mit all der Liebe zu der nur ein Herz fähig ist, Trost spendete. Nur der Übergang, dieser Ort wo die Farben verschwinden, alles zurücktritt, man nur noch Erinnerung ist. Allein ins weiß geworfen. Verbuddelt wie ein Hund, die Kapelle auf dem Friedhof zugesperrt, keine Klagelieder, keine Reden, keine Würde. Wo es nur noch um das nackte Überleben geht, verliert selbst der Tod seinen Sinn.

恭賀新禧 / 恭贺新禧

Wir haben die Wahl. Diesmal haben wir wirklich die Wahl. Weiter zu machen. Weiter mit zu machen. Uns einzureden es sei vernünftig. Oder für eine gute Sache. Die ganze Welt und uns selbst zu belügen. Unsere Sehnsüchte und Träume einzutauschen für ein paar Tage, Wochen, Monate dessen, was von nun an bis in alle Ewigkeit Immunität genannt werden wird. Immunitätsjunkies werden wir werden, abhängig vom nächsten Schuß, der unsere Immunität verlängert oder uns vor dem nächsten Virus, das kommen wird, weil es unvermeidlich ist, beschützen soll. Und so werden wir wie alle Junkies uns selbst verlieren und uns dabei einreden es sei uns noch niemals so gut gegangen, jetzt wo wir nicht mehr jeden Tag Angst zu haben müssen. Doch wer wird uns immun machen gegen das was da noch auf uns wartet? All die Feuerstürme, die Dürren, die Hungersnöte, die abertausenden von Leichen, die diesmal nicht fast unbemerkt im Meer ertrinken werden, sondern deren Überreste sich zu Bergen an den Wällen unserer Wohlstandsfestungen türmen werden. Wie werden wir uns dann noch im Spiegel ertragen? Wie werden wir es mit uns aushalten und unserem Wissen, das wir jetzt, in diesen Tagen, ja zur ewigen Herrschaft der Algorithmen, zur Unendlichkeit der Herrschaft dieses Zwitterwesens aus politischer- und wissenschaftlicher Klasse, das sich selbst befruchtet und vermehrt, gesagt haben. Durch Akklamation, durch Abwarten, durch bloße Unterlassung.

恐懼是敵人,唯一的對手

Oder wir werfen unseren Mut in die Waagschale, überlisten uns selbst, was bekanntlich der schwierigste aller magischen Tricks zu sein scheint. Strömen auf die Straßen um das neue Jahr zu begrüßen, treffen unsere lange nicht gesehenen Nachbarn wieder, wagen eine Umarmung, vielleicht sogar ein Tänzchen, wird sich schon eine Mundharmonika oder gar eine Geige finden, die uns aufzuspielen vermag. Oder wir ziehen in kleinen Gruppen in die proletarischen Viertel, zu den Jugendlichen, die schon seit Wochen, seit Monaten, auf diese eine Nacht warten, um endlich einmal ein paar Rechnungen mit den allgegenwärtigen Ordnungskräften zu begleichen. Wir erklären uns für vogelfrei und unverantwortlich, wir verzichten auf ihre Immunität, weil der Preis dafür zu hoch ist, weil er das Ende dieser unserer Welt bedeutet. Weil jeder Tag fehlt, in dem wir untätig die Hände in den Schoß gelegt und darauf gewartet haben, dass sie sagen, es sei wieder okay dieses oder jenes zu tun. Weil uns irgendwann all diese Tage fehlen werden, wenn die Zeit endgültig knapp wird und es an jeder Wand geschrieben steht: “Winter Is Here!” Aber noch ist es nicht soweit, noch können wir wählen, uns entscheiden. Wir wir das neue Jahr begrüßen. Sklaverei oder Aufstand. Dazwischen gibt es nichts mehr. Der kommende Faschismus sagt: “Ich sorge mich um Dich!” Wir alle werden gescannt und selektiert werden, Gesundheit wird die neue Währung sein, zumindestens bis der Albtraum einer Unsterblichkeit am Horizont aufscheint. Zugangsberechtigungen und Privilegien werden erkauft und getauscht werden mit der Warenförmigkeit des eigenen Körpers. Waren es bisher nur die Armen des Trikont und der Metropole, die für einige wenige Kröten ihre Gesundheit in Massentest der Pharmaindustrie verkauften, werden wir nun alle endgültig der Kontrolle über unsere Körper enthoben. Denn jener Teil der doch so unzertrennlich zu uns zu gehören scheint, ist in der Wahrnehmung des Neutronenempires wahlweise ein Gefährder, ein potentieller Gefährder oder ein unterworfener ungefährlicher Kollaborateur. Und nur letzterer genießt Zugangsrechte zu den privilegierten Orten von Wohlstand und Versorgung.

Es ist an der Zeit. Trennen wir uns endgültig von den falschen Freunden und Gefährten, die uns im Notstand die Tür vor der Nase zuknallen, die Überwachungstechnologie auf ihr smartphone laden, die lautstark nach Bullengewalt rufen, nur dass die sich gefälligst gegen die Richtigen zu richten habe. Die wieder und wieder nur das eine Narrativ wiederkäuen als sei es ein Mantra das böse Geister banne. Die mit den Fingern auf die Schmuddelkinder zeigen, die sich nicht zu benehmen wissen, die sich nicht zu schade für jegliche Denunziation sind. Begeben wir uns auf die Suche nach unseren wirklichen Verbündeten hier, nehmen wir uns ein Beispiel an den einfachen Menschen, die nur allzu oft belächelt und von oben herab behandelt werden. Ohne die es aber weder die Zapatisten noch die Gilets Jaunes, weder die Primera Línea noch die verzweifelt Wütenden von Beirut geben würde.

Seien wir zur Abwechslung doch einfach mal wir selbst, mit all unseren eingestandenen Träumen und Sehnsüchten, die wir immer noch vor uns hertragen, während wir eigentlich doch darum wissen, dass wir der Welt nur die einbalsamierten Leichen unserer eigenen Kinder auf unseren ausgebreiteten Händen präsentieren. Unsere Kinder, die unsere Träume und Sehnsüchte sind und die wir haben sterben lassen und an deren Tod uns der größte Teil an Schuld trifft. Und lassen wir der Verzweiflung und all der Wut, insbesondere über unser eigenes Versagen doch endlich mal Raum, ersticken wir sie nicht wieder und wieder mit Rationalisierungen. Erinnern wir uns, wie es war, wie es sich angefühlt hat, als wir uns für einige Momente unseren Gefühlen hingaben. Wie es gewesen war, als wir im Oktober wie die Irren stundenlang im Regen tanzten inmitten von Berlin und tausenden von ohnmächtigen Bullen. Wie wir uns danach gegenseitig fassungslos durch das nasse Haar gefahren sind und wie wir gelächelt haben. Und so schön waren. Und mutig. Weil wir es gewagt hatten das Leben zu leben.