Trauriger Eros

Franco “Bifo” Berardi

Dieser Text erschien am 28. November 2020 auf commune info, wir haben ihn aus dem italienischen übersetzt, Schwächen in der Übersetzungsarbeit bitten wir zu verzeihen. (Sunzi Bingfa)

Mit jedem Tag offenbart das Virus mehr und mehr die Ohnmacht der Politik, die Vergänglichkeit ihrer Konzepte und Praktiken. Gleichzeitig wirkt es tiefgreifend auf der Ebene der Beziehungen, die bereits seit langem zerrüttet sind. Treten wir nicht in einen Zustand ein, der auf dem Einfrieren der Erotik und damit auf einer Deaktivierung der Empathie beruht?

Unterdessen vervielfacht das Virus im Zusammenwirken mit den (sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen) Verwüstungen, die eh seit Jahren präsent sind, die Ausbreitung von Angststörungen vor allem unter jungen Menschen, die zu Hause eingeschlossen und einem ununterbrochenen Informationsfluss ausgesetzt sind und denen ein direkter Kontakt, sprichwörtlich Haut an Haut, mit den anderen verwehrt ist.

Welche Rolle kann die Psychoanalyse in diesem Zusammenhang spielen, fragt Franco Berardi Bifo, wenn wir sie nicht nur als eine individuelle Therapie, sondern als bewusste Modellierung von Erwartungen und Motivationen verstehen? „Was können wir über die “Pandemie-Schwelle” hinaus erkennen? Eine Verminderung der Begehrlichkeit oder eine kreative Verschiebung der Triebkräfte…“ (comune info)

„Diejenigen, die das Verlangen zurückhalten, tun dies, weil ihres schwach genug ist, um zurückgehalten zu werden“ (William Blake)

Anmerkungen zum Konzept der Sublimation

Franco “Bifo” Berardi

Kurz nach Freuds Tod schrieb Wystan Hugh Auden ein Gedicht, das dem Begründer der Psychoanalyse gewidmet ist und dessen Ton zwischen der stillen Weisheit und dem Gefühl der bevorstehenden Tragödie oszilliert. Wir schreiben das Jahr 1939, der Zweite Weltkrieg hat gerade erst begonnen, und der Dichter ist sich seiner apokalyptischen Auswirkungen sehr wohl bewusst.

Freud, der jüdische Exilant, der in London stirbt, während Europa in den furchterregendsten Abgründen versinkt, wird von dem Dichter als ein Geist erzählt, der den Weg der Menschheit gerade dann erhellt, wenn sie am Rande einer großen Katastrophe nicht nach dem Sinn der Geschichte sucht, sondern nach der Kohärenz innerhalb des psychischen Wesens, d.h. nach einer Praxis, die in der Lage ist, ein Gleichgewicht zu bewahren.

Freuds Tod ist der Tod desjenigen, der versucht hat, die Geister zu verstehen, die die Gewalt hervorrufen, und der versucht hat, die Gewalt durch Analyse, Interpretation und jenes Verständnis zu überwinden, das die Heilung möglich macht.

„Nur der Hass feiert, weil er hofft, zu ermutigen…

seine Praxis und seine schäbige Klientel

die glaubt, sie könne sich durch Töten heilen

und die Asche im Garten zu verstreuen“

Das Verschwinden Freuds wird nur von den Predigern des Hasses mit Freude begrüßt, sagt Auden, denn die Psychoanalyse muss als ein Heilmittel gegen das Leiden verstanden werden, welches Hass erzeugt, ausgehend von einer sprachlichen Ausarbeitung des seelischen Materials, das verdrängt wird.

Es ist klar, dass der Dichter sich auf die Faschismen bezieht, die Europa verwüstet haben, wenn er von der schmutzigen Klientel spricht, das von sich glaubt, sich durch Töten heilen zu können. Diese schmutzige Klientel hat nicht aufgehört zu existieren, sie ist mit dem Zusammenbruch des Faschismus nicht verschwunden. Im Gegenteil, in unserem neuen Jahrhundert ist diese schmutzige Klientel geradezu expandiert, und wir sehen, wie sie sich ausbreitet und vielleicht gerade jetzt dabei ist die Zukunft der Welt zu unterjochen.

Nationalismus und Rassismus sind so aufdringlich geworden, dass sie die Präsidentschaft des mächtigsten Landes der Welt übernommen haben, gerade weil psychisches Leiden noch nie so weit verbreitet war wie heute. Es genügt zu wissen, wie viele Menschen in den Vereinigten Staaten an einer Überdosis psychotroper Opiate gestorben sind (67.000 im Jahr 2018), um den Nährboden für einen übermächtigen Rassismus zu verstehen.

Auden suggeriert in diesem Text, dass die Macht die Psychoanalyse fürchtet, weil ihre therapeutische Technik gerade darin besteht, den Einzelnen von Furcht und Konformismus zu befreien. Und er schreibt:

Die alte Kultur der Täuschung hatte vorausgesagt

dass seine aufwühlende Technik

zum Sturz von Königen führen könnte

und den Zusammenbruch ihrer lukrativen Frustrationsschemata.

Eine Stimme der Vernunft ist jetzt verstummt. Auf seinem Grab

weint die Trieb-Familie um einen geliebten Menschen:

traurig ist Eros, der Erbauer der Städte,

es weint die anarchistische Aphrodite.

Dieser Text von Auden (1) ist heute, wo sich Psychosen ausbreiten und eine destruktive Dynamik in Gang setzen, wenn auch in anderen Formen als den von Freud beschriebenen, von enormer Aktualität. Aber ich bin besonders daran interessiert, weil Audens poetischen Überlegungen eine grundlegende Frage zugrunde liegt: Wie wirkt die Psychoanalyse auf den Prozess der bewussten Subjektivierung ein, über ihre rein therapeutische Funktion hinaus? Welchen Beitrag leistet die Psychoanalyse zur kollektiven psychischen Entwicklung in Momenten der Apokalypse, wie sie Auden beschrieb und wie die, die wir jetzt schreiben und leben?

Ausgehend von dieser Frage möchte ich das Thema der Sublimation vertiefen: ein Thema, das Freud auf einigen Seiten seines Werkes fast beiläufig einführt, das aber, wenn ich mich nicht irre, nie eine vollständige Behandlung oder zumindest eine theoretische Definition erfahren hat.

Die Abfolge von Katastrophen, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, nach dem Terroranschlag auf die Türme von Manhattan, nach der Finanzkrise von 2008, nach Fukushima im Jahr 2011, bringt die Schrecken des Zweiten Weltkriegs zurück: die Bombardierungen von syrischen, afghanischen und kurdischen Städte erinnern an die Bombardierungen von 1943-45. Die im Mittelmeerraum verstreuten Internierungslager für Migranten erinnern an die Konzentrationslager der Nazis, in denen Millionen von Menschen verschwanden. (2)

Keine Revolution kann die Umweltzerstörung in der Luft, im Wasser und auf der Erde aufhalten und noch weniger rückgängig machen, denn dieser Prozess hat den Punkt ohne Wiederkehr überschritten und ist Teil des sehr generativen Codes der sozialen Reproduktion geworden, so dass der politische Wille nicht mehr ausreicht, ja vielleicht sogar nicht mehr nützlich ist angesichts von Phänomenen, die irreversibel sind.

Von hier an, egal was wir tun, werden wir immer noch mit verschiedenen Formen und Intensitäten der Strahlung der anfallenden Abfälle leben müssen, deren Auswirkungen zeitlich und räumlich unterschiedlich sind.

Schließlich ist klar geworden, dass es bei der Begebenheit von Fukushima nicht nur um Japan geht: Es geht um globale Machtverhältnisse. Seine Unumkehrbarkeit und sein Ausmaß werfen ein intensives Licht auf die jene Welt, die begonnen hat, auf der Erde selbst zusammenzubrechen, und zwingen alle ihre lebenswichtigen Aktivitäten dazu, mit ihr einen Doppel- Selbstmord zu begehen. (Sabu Kosho: Strahlung und Revolution, 2020)

Keine politische Entscheidung kann die Ausbreitung eines Virus stoppen. Während dies die Ohnmacht der Politik, die Überkommenheit ihrer Konzepte und Praktiken offenbart, erhöht es gleichzeitig die Funktion, die die Psychoanalyse erfüllen kann, wenn wir sie nicht nur als individuelle Therapie, sondern als bewusste Modellierung der Erwartungen, Motivationen und des Rhythmus der kollektiven Atmung verstehen.

In diesem neuen Kontext – der Irreversibilität der Katastrophe – erscheint es mir sinnvoll, über das Konzept der Sublimation nachzudenken.

Sublimations- und Vernetzungstechnologie

Engel!: Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten,

auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die’s hier

bis zum Können nie bringen, ihre kühnen

hohen Figuren des Herzschwungs…

(Rainer Maria Rilke: Sechste Elegie von Duino)

Es gibt nicht viel Literatur zum Thema Sublimation, von der ich weiß. Freud spricht in einigen seiner Werke darüber, insbesondere in den drei Essays über Sexualität, in denen er eine Definition skizziert:

„Ich nenne Sublimation die Fähigkeit, den ursprünglichen sexuellen Zweck gegen einen anderen, nicht mehr sexuellen, sondern psychologisch verwandten auszutauschen…“.

Kultur entsteht nach Freud aus einer Verschiebung des Begehrens-Impulses hin zu einem nicht-sexuellen Objekt: In der affektiven Ökonomie wird eine Verlagerung der libidinösen Investition von der Sexualität hin zur Sprache vollzogen. Doch diese Verschiebung erfolgt nicht ohne pathologische Kosten: In „Das Unbehagen in der Kultur“ spricht Freud von dem neurotischen Leiden, dass das gesellschaftliche Zusammenleben voraussetzt und erfordert.

Bei Freud spielt die Sublimation eine schützende Rolle in Bezug auf die Angst: Da das soziale Zusammenleben die Ausschaltung eines großen Teils unserer sexuellen Imagination erfordert, muss die Energie, die von diesem Trieb ausgeht, in eine andere Richtung investiert werden als in das Vergnügen, das als Entladung und Entspannung der Körperspannung verstanden wird. Diese andere Richtung ist die Erschaffung von Sprache: der Bau von Städten, wissenschaftliche Forschung, technologische Innovation, die Komposition von Kunstwerken.

Es geht hier um drei Ebenen: die erste ist die der Verlagerung, die zweite ist die der libidinösen Verdrängung, die dritte ist die der Sublimation als Schöpfung. Die sublimierende Verdrängung erzeugt jedoch notwendigerweise einen inhärent repressiven Effekt, dessen Folgen sich in neurotischen Pathologien manifestieren können. Was mich interessiert, ist zu verstehen, wie (mit welchen Mitteln) diese Verlagerung ein bestimmtes Ergebnis haben kann und nicht ein anderes: ein sublimiertes und kreatives Ergebnis und nicht ein pathogenes repressives Ergebnis. Das ist meiner Meinung nach keine Kleinigkeit, denn der neue Ausnahmezustand, der in diesem Jahr 2020 entstanden ist, die pandemische Ausbreitung eines Virus, der die Distanzierung der Körper, die Vermeidung des Kontakts mit der Haut und den Lippen des anderen, die Verlangsamung der erotischen Rhythmen und des Austauschs erzwingt, öffnet der Psychoanalyse abgründige Probleme, die vorher nicht existierten.

Bereits im Gestern, in den Jahrzehnten der Digitalisierung, hatte der Begriff der Sublimation eine neue Bedeutung erlangt, verbunden mit den Technologien, die eine Kommunikation ohne Präsenz und ohne Kontakt ermöglichen. Die Sterilisierung des Sozialen, die diese technologische Passage bestimmt hat, hat den erotischen Kontakt weitgehend durch pornografische Phantasmagorie ersetzt.

Nach dem, was Professor Spiegelhalter in „Sex by numbers“ schreibt, hat die Häufigkeit sexueller Begegnungen in den letzten drei Jahrzehnten enorm abgenommen, da die digitale Verbindung den Ort (und die Zeit) der sinnlichen Verbindung ersetzte. Heute jedoch verändert die Pandemie zwangsläufig die Proxemie der Beziehungen, da sie Distanz als Regel der Kommunikation festlegt und ein ganz neues Kapitel in der Psychopathologie aufschlägt. Treten wir nicht in einen Zustand ein, der auf dem Einfrieren der Erotik und damit auf der Deaktivierung der Empathie beruht?

Im April 2020 veröffentlichte The Guardian einen Artikel von Ciara Gaffney mit dem Titel: Wie wird das Sexualleben werden? Was wird Sex in den Monaten der Gefangenschaft vor allem für die jüngere Generation, die oft als Generation Z bezeichnet wird, bedeuten (mit einem Hinweis auf die Zoom-Plattform). Zwischen 1991 und 2017 sank die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die Sex hatten, von 54% auf 40%.” Dann kam die globale Pandemie, und in ihrem Gefolge entstand eine sexuelle Revolution. Clara Caffneys bizarre These ist, dass die Pandemie die Voraussetzungen für eine neue sexuelle Revolution schafft, deren Wesen die berührungslose Sensibilität ist. „In der rosaroten Zeit vor dem Coronavirus war das Versenden von Aktbildern Gegenstand einer gewissen Scham. Diese Bilder wurden als ungeschickt, ja sogar als etwas pathetisch empfunden. In der Zeit der Abriegelung erlebt das Senden von Nacktbildern jedoch eine glorreiche, unbußfertige Rückkehr als stolzer Faktor der sexuellen Befreiung. Durch die Entfernung geschichtet, scheint die Generation Z neu erfinden zu müssen, was Sex bedeutet, in einer Welt, in der physischer Sex oft unmöglich ist. So wie die Bewegung der freien Liebe die Konventionen ihrer Zeit erschütterte, so erschüttert die sexuelle Renaissance der Generation Z die Konventionen organischer sexueller Beziehungen.”

Ich erinnere mich an bestimmte Cyber-Sex-Diskurse, die zwischen den 1980er und 1990er Jahren kursierten. Kann man an die Übertragung erotischer Emotionen im Austausch von Worten und Bildern glauben? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein Entwicklungsfeld der elektronischen Technologie in naher Zukunft gerade die Veredelung von virtueller Realität und tele-stimulierenden Sensoren ist. Dies taten bereits die Protagonisten in der “Neuromancer-Trilogie” von William Gibsons, die 1984 erschien.

Clara Caffney schrieb folgendes: „Die Quarantäne fördert und erzwingt nicht nur die sexuelle Erkundung: Experimente mit Aktaufnahmen, Durst-Fallen. meist ohne Auswirkungen im wirklichen Leben“. Unter einer Durst-Falle versteht man Fallen, die durstig machen, aber was ist, wenn es kein Wasser gibt? Kann die Erotik ganz vom sprachlichen Austausch absorbiert werden?

Die Fernübertragung von Sinnesreizen, die in der virtuellen Realität empfangen werden, hätte aus demographischer Sicht eine nützliche Funktion; sie würde schließlich die Vermehrung reduzieren, zumindest für die nächsten zwei- oder dreihundert Jahre. Aber ich glaube nicht, dass es ein Universum der Lust gibt, das unabhängig ist vom Kontakt der Haut mit der Haut, vom trivialen Zwinkern des Auges aus nächster Nähe, von Geruch und Tastsinn.

Im Mai informierte Julie Halpert in der New York Times über die Ausbreitung von Angststörungen unter jungen Amerikanern, die in ihren Häusern eingesperrt und einem ununterbrochenen Informationsfluss ausgesetzt sind und vor allem eines epidermalen Kontakts mit dem anderen beraubt sind.

Es ist viel wahrscheinlicher, dass die phobische Sensibilisierung für den Körper des anderen, die aus dem Bewusstsein der anhaltenden Ansteckungsgefahr resultiert, psychopathologische Auswirkungen wie Panik, Depression, sexuelle Anorexie und letztlich eine wirklich weitreichende autistische Mutation verursacht. Die digitale Sublimation kann keine positiven Auswirkungen auf die erotische Empfindsamkeit und damit auf das psychische Glück des Einzelnen haben, denn während sie den visuellen und sprachlichen Reiz verstärkt, verschiebt sie die Möglichkeit des sinnlichen Genusses und des Orgasmuserlebnisses ins Unendliche oder löscht sie ganz aus.

Dennoch bleibt das Problem der Sublimation bestehen und stellt das erotische Potential der Sprache in Frage. Diese Frage ist in der Geschichte der westlichen Kultur aufgeworfen worden, seit Platon auf dem Symposium Alcibiade über die Beziehung zwischen Körperkontakt und Wissen sprechen ließ.

„Ich sage dir, Sokrates, eine unglaubliche Sache, bei den Göttern, aber wahr! Ich machte Fortschritte, wenn ich mit ihnen zusammen war, selbst wenn ich nur im selben Haus, aber nicht im selben Zimmer war; noch mehr jedoch, wenn ich im selben Zimmer war, und noch viel mehr, schien es mir, wenn ich im selben Zimmer war und ihnen beim Reden zuhörte, mehr als anderswo; aber vor allem und im höchsten Maße machte ich Fortschritte, wenn ich direkt neben ihnen saß, neben ihnen war und Sie berührte“.

Erotischer Kontakt ist daher als Öffnung des Geistes für das Wissen zu betrachten. Plotinus behandelt dieses Thema, indem er die Idee einführt, dass der Wandel zum Guten vom Begehren ausgeht.

„Jedes verstandesmäßige Wesen ist das, was es in sich selbst ist, aber es wird begehrenswert, wenn das Gute es mit seiner eigenen Farbe färbt, indem es verstandesmäßigen Wesen Gnade verleiht und denen, die dies wünschen, Impulse der Liebe gibt. Die Seele empfängt dann in sich selbst den Fluss dort oben, erregt sich wie eine Baccante und begehrt, von akuten Begierden durchdrungen, jegliche Liebe.“ (Plotinus: VI, 7, 22, 9-10)

Der süße neue toskanische Stil und allgemein die höfische Literatur, die sich im Spätmittelalter über ein weites Gebiet des Mittelmeerraums ausbreitete, kann als eine Fortsetzung der von Agathon bekräftigten Idee betrachtet werden; Sehnsucht und physische Nähe ermöglichen den Zugang zur Erkenntnis. Die Funktion von Beatrice, ein Objekt der sinnlichen Begierde, aber gleichzeitig ein Medium der spirituellen Erhebung, veranschaulicht dieses Konzept.

Aber kann man glauben, dass auch das Gegenteil der Fall ist, dass intellektuelle Lust den Genuss der Sinne ermöglicht? Kann sich der menschliche Organismus, der sowohl bewusst als auch emotional, sprachlich und sinnlich ist, vom erotischen Körper emanzipieren und die begehrende Energie auf den höfischen Körper (den Sprachkörper) übertragen, ohne die Intensität und befreiende Kraft des erotischen Orgasmus zu verlieren?

Entgegenkommen, Neugierde und erotisches Bewusstsein

Im VII. Seminar, das die Sublimation zum Thema hat, unterscheidet Lacan zwischen der vormodernen Sexualität, in der das Begehren (der Trieb) im Mittelpunkt des Eros steht, und der modernen Sexualität (Post-Cortese und Post-Renaissance), in der das Objekt der Begierde, die Person, auf die der Trieb gerichtet ist, den zentralen Platz der erotischen Emotion einnimmt. Die christliche Kultur hat Individualität und Selbstreflexion betont, so dass im christlichen Kulturraum der Faden der höfischen Liebe, der vom Trovadorismus bis zur modernen Romantik reicht, aufgetrennt wird: Dieser Faden besteht in der Erotisierung des Wissens. Die Neugierde des Einzelnen setzt das Begehren in Gang, und das Wissen um die Singularität ist der Kern des erotischen Vergnügens.

Das aristokratische Prinzip der Hingabe an den König, die Kirche, den Papst und Gott wird neu kodiert und durch ein neues Prinzip der Frömmigkeit ersetzt: die Hingabe an die Liebe (Im Bilde der Treue der Liebe zu den höfischen Troubadouren).

In dem Buch “Die Liebe und das Abendland” beschreibt Denis de Rougemont diese Divergenz im höfischen Mythos schlechthin: Tristan, ein edler junger Mann, der den Auftrag erhält, die versprochene Braut seines Königs, die liebliche Isolde, aus Irland zu holen. Während der Reise geraten Tristan und Isolde in ein Liebeswahn, dem sie sich nicht entziehen können, so dass sie unsäglichen Schmerzen und unteilbaren Freuden und schließlich dem Tod ins Auge sehen müssen.

Die anthropologische Revolution des Humanismus ist hier in Nuancierung enthalten: Während im traditionellen patriarchalen Zeitalter das Wissen darin besteht, zum Ursprung zurückzukehren, zum obsessiven Schutz einer ursprünglichen Wahrheit, die ständig der Gefahr der Zerstreuung ausgesetzt ist, kündigt die in der höfischen Kultur implizierte Feminisierung eine neue Art des Denkens und Wahrnehmens an: Wissen ist eben die Zerstreuung des Selbst, die Entgrenzung der Identität, die Erfahrung des Unbekannten. Gerade weil das Unbekannte uns anzieht, treibt uns das Verlangen nach Wissen an. Und das Gefühl der erotischen Anziehung ist in diesem Wunsch enthalten, die Emotion des anderen, den sexuellen Ausdruck des anderen kennen zu lernen.

Entgegenkommen ist die sprachliche Evolution des Begehrens, die Ausgestaltung des Triebes durch das Werben, also die sprachliche Handlung, die auf das Streben nach fleischlicher Erkenntnis abzielt. Sublimation hingegen ist eine sprachliche Ausarbeitung des Begehrens, die sich dem fleischlichen Zweck entzieht, aber die fleischliche Emotion auf die Ebene der kognitiven, ästhetischen, politischen Emotion überträgt.

Der Begriff der Aristokratie selbst wird dann neu definiert: Die Aristokratie besteht nicht mehr in der Zugehörigkeit zur Klasse der Reichen, sondern in der Begegnung derjenigen, die eine höfische Sprache verstehen und praktizieren und Gemeinschaften aufbauen, die dazu gehören, auch wenn sie nicht der gleichen Abstammungslinie angehören.

Die sprachliche Intention tritt an die Stelle der ontologischen, religiösen oder sozialen Herkunft.

Hier geht es um den Begriff der Gemeinschaft selbst im Gegensatz zum Begriff der Gesellschaft: kulturelles und einfühlsames Teilen im Gegensatz zur Teilnahme der Über(geordneten)-Gemeinschaft an der Konvention der Politik.

In unserer Zeit des sozialen Zerfalls ist die Idee der Gemeinschaft mit all ihrer Zweideutigkeit zurückgekehrt: Es gibt eine nomadische Gemeinschaft, die auf dem bewussten Teilen ästhetischer und intellektueller Elfenbeine beruht, die spontan zusammenkommt und sich auflöst, eine Gemeinschaft von Menschen, die nur so lange am selben Ort bleiben, wie sie zusammen sein wollen. Dann gibt es eine Gemeinschaft der Zugehörigkeit, die auf der Illusion eines gemeinsamen Ursprungs und eines gemeinsamen Territoriums beruht. Diese Gemeinschaft drückt sich auf autoritär-patriarchalische und aggressive Weise aus.

Die erste Gemeinschaft verteidigt ihre Grenzen nicht, weil sie ihre Identität nicht bewaffnet schützt; sie ist im Wesentlichen dispersiv und neigt dazu, sich durch eine semiotische Ausbreitung auszudrücken. Der Zweck der nomadischen Gemeinschaft ist es, etwas anderes zu werden, ihre Ursprünge zu vergessen; sie ist sowohl elektiv als auch zerstreuend. Wahlfrei, weil sie auf Wahl und Wunsch beruht und zerstreuend, weil ihr Zweck die Proliferation ist.

Aber wenn Küsse zu einer Bedrohung der Gesundheit werden und das Unbewusste den Kontakt der Lippen phobisch sensibilisiert, ist dann nicht gerade die Quelle dieser Energie, die zum Handeln, zum Wissen, zum Abenteuer führt, gefährdet?

Was gibt es jenseits der Pandemie-Schwelle zu erahnen? Eine Verminderung der Begehrlichkeit oder eine kreative Verschiebung der Antriebsenergie?

Fussnoten des Übersetzers:

  1. In Memory of Sigmund Freud“ von W. H. Auden https://poets.org/poem/memory-sigmund-freud

  2. Ich sehe hier die Möglichkeit des Missverständnisses der “Relativierung der Shoah”, gebe jedoch zu bedenken, das wohl nichts “Bifo” ferner liegen dürfte