Suchprozesse im Feinstaubnebel – Neujahr und darüber hinaus

Autonome aus Berlin

Der Riot ist keine Abkehr vom vermeintlichen wahren Weg, sondern eine Erscheinung des Verlaufs, in dessen Zuge sich der soziale Kampf entfalten kann. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Der Riot kann nur eines, und zwar sich weiter ausdehnen.

Riot. Strike. Riot – Joschua Clover

Am Silvesternachmittag des Jahres 2008 fahren mehrere Zivilbeamte der Berliner Polizei nach Schönfließ, eine kleine Gemeinde nordöstlich von Berlin. Nach einem Hinweis hoffen sie dort den wegen kleinerer Delikte per Haftbefehl gesuchten Dennis J., von seinen Freunden “Jockel” genannt, aufzufinden und festzunehmen. Sie treffen “Jockel” in seinem Fahrzeug sitzend an, er bemerkt die sich anpirschenden Beamten und versucht zu fliehen. Insgesamt acht Schüsse feuert einer der Beamten auf das davon rasende Fahrzeug ab, eine Kugel bleibt in der Lunge des Flüchtigen stecken, “Jockel” schleppt sich noch einhundertfünfzig Meter zu Fuß weiter, dann bricht er zusammen. Wenig später wird sein Tod festgestellt. Er war unbewaffnet.

“Jockel” hatte ziemlich viele Freunde, da wo er aufgewachsen ist, im Neuköllner Rollbergviertel, kennt man sich, hält man zusammen, steckt man unter einer Decke, besonders wenn es um die Bullen geht. Zu seiner Beerdigung kommen mehrere hundert Menschen. Familie, Freunde, Schulkameraden, aber auch etliche aus der Berliner Szene. Seit dem Tod von Jockel sitzen nämlich auf einmal die manchmal großmäuligen Restautonomen ganz brav und still in den Wohnungen der Familienangehörigen und trinken Tee und hören zu. Hören einfach mal nur zu. Was vielleicht das wichtigste von allen ist, weil das Respekt und Augenhöhe ausdrückt, Etwas womit sich die Szene sonst so schwer tut.

Nach der Beisetzung von Jockel ziehen sie dann alle gemeinsam zum LKA am T Damm: “Mörder, Mörder”.

Einige Tage später findet eine spätabendliche unangemeldete Demo in Kreuzberg statt, bei der etliche Scheiben zu Bruch gehen, am gleichen Abend gibt es einen Brandanschlag auf die Polizeiwache am Kurfürstendamm. In den nächsten Wochen und Monaten folgen weitere Demos und Angriffe auf Polizeiabschnitte-und Fahrzeuge, der Todesschütze wird, nachdem es einigen Medienrummel um die Geschehnisse gibt, später festgenommen und – natürlich- in einem Gerichtsprozess nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Bei der Urteilsverkündung kommt es zu Tumulten, eine Spontandemonstration am Abend auf dem Kottbusser Damm wird von den Bullen brutal aufgemischt, eine Woche später folgt eine Scherbendemo in Neukölln. Es bildet sich ein Bündnis mit anderen Angehörigen von Opfern von Polizeigewalt, es folgen weitere Demos, Veranstaltungen und Konzerte…

Das wichtigste war jedoch das neue Verbindungen, Bekanntschaften und sogar Freundschaften unter Menschen entstanden, die sonst im Alltag nicht viel mehr als ein freundliches Kopfnicken füreinander übrig haben. Warum dies alles erzählen, immer und immer wieder…? Weil es um mehr geht, als dass dieser Teil der Geschichte verschwindet, nur noch eine verstaubte Erinnerung in den Köpfen und Herzen der Beteiligten darstellt. Weil sich alles immer und immer wieder wiederholt. Die alltägliche Polizeigewalt gegen gesellschaftliche Minderheiten, der strukturelle Rassismus der Sicherheitsapparate, dem nicht mit Enquete-Kommissionen oder sonstigen reformistischen Vorstellungen beizukommen ist. Die Surplus Proleten hatten schon eine ziemlich genaue Vorstellung ihrer Situation und Rolle in den bestehenden Verhältnissen, bevor sich einige verdienstvolle linke Theoretiker ihrer annahmen.

In der Permanenz des Ausnahmezustandes, in dem wir jetzt schon seit 10 Monaten leben, bündeln sich all diese strukturellen Macht-und Unterdrückungsverhältnisse. Wo sollst du hin, wenn du mit sechs Leuten in einer 3 Zimmer Wohnung lebst und wie lange hältst du da dieses verfickte stayhome aus, ohne durchzudrehen. Auf den Straßen bist du Freiwild für die Bullen, die dir schon vorher auf den Füssen rumgestanden haben und die jetzt unter dem Vorwand des Infektionsschutzgesetzes dir deine letzten Treffpunkte nehmen. Mit dir einfach alles machen können. Bis das Fass überläuft. Das war im Sommer in der Stuttgarter Innenstadt so und wenig später auch in Frankfurt. Und so war auch zu Silvester in Berlin.

An über 50 Orten war es untersagt sich zu treffen und ein bisschen zu böllern und natürlich zählten dazu auch die Neubaughettos wie Heerstraße Nord oder die Gropiusstadt, Nicht-Orte, deren Existenz die meisten Linken nur vom Hörensagen kennen. Und natürlich wurde das Neubauviertel an der Pallasstraße von zwei Hundertschaften hermetisch mit Wannen und Absperrgitter abgeriegelt und man fragte sich nur noch verwundert, warum nicht auch noch Scharfschützen auf den Dächern postiert wurden. Und als sich in Neukölln und Kreuzberg doch einige Jugendliche fanden, die einfach ein bisschen Spaß haben wollten, ging auch da die Hetzjagd los. Bloß dass da auf einmal den Bullen ihre Grenzen aufgezeigt wurden. In einem kleinen Gebiet rund um die Sanderstraße in Neukölln flogen ihnen eine Stunde lang Pyros, Flaschen und Steine um die Ohren (Ein erster Bericht), dass sich unter den Wurfgeschossen auch einige Molotows befanden, Mittel des Strassenkampfes, die in Berlin in den letzten Jahren aus der Mode gekommen sind, führte dann auch zugleich zu Ermittlungen wegen versuchten Totschlages, weshalb an dieser Stelle zu einigen Details der Geschehnisse Stillschweigen angeraten erscheint, auch wenn sicherlich die eine oder andere Anekdote vom Hörensagen wiederzugeben wäre.

Wenden wir uns also lieber den zukünftigen Angelegenheiten zu, die sich im wesentlichen nicht von denen der jüngsten Vergangenheit unterscheiden. Der Fragestellung, wie sich heraus kämpfen aus dieser Defensive, in der die radikale Linke schon vor dem Pandemie Ausnahmezustand ziemlich feststeckte, auch wenn einige vollmundige Verlautbarungen im Zuge der Räumung mehrerer Szeneprojekte in Berlin im vergangenen Jahr etwas anderes behaupteten. Jenseits der notwendigen strategischen Neubestimmung, die einen radikalen Bruch mit all jenen beinhalten muss, die den Ausnahmezustand des Staates mitgetragen und legitimiert haben und die einer eingehenderen analytischen Arbeit zu der gesellschaftlichen Situation jenseits der (Ver)satzbausteine der üblichen Verdächtigen wäre vielleicht für Berlin ein Frühlingskonjunkturprogramm vorstellbar. Dass die von Merkel und Co festgelegte Haftzeit bis Ende des Winters anders als ausgesessen werden kann, scheint angesichts der Erfahrungen der letzten 10 Monate unrealistisch. Nutzen wir also die kommenden Wochen, um erste Visionen zu entwerfen, wie wir wieder auf die Straße zurückkehren könnten.

Erinnern wir uns vielleicht an den 1. Mai 2020 in Kreuzberg, der sich so angenehm von den toten Ritualen der vergangenen Jahre unterschied. Der eine der ersten Massenaktionen in Westeuropa nach dem Beginn der Pandemie war, und der so viele Überraschungsmomente mit sich brachte, dass sogar die Bullen nicht mehr aus dem Staunen heraus kamen. Nutzen wir die Zeit, die uns bleibt, bis die Sonne wieder den Asphalt und unsere Gesichter wärmt, um den Kontakt zu jenen zu suchen, für die dieses System keine Verwendung mehr hat. Erinnern wir uns an die alten Bündnisse, an Antifa Genclik, daran, dass die erste Hausbesetzung in Berlin im Märkischen Viertel stattfand. Erinnern wir uns die wilden Streiks im Herbst 1969, die von Migrant*innen ausgingen, machen wir Werbung für den kommenden 1. Mai, besuchen wir die Viertel der Ausgesteuerten, hinterlassen wir Flugblätter und Parolen, suchen wir das Gespräch mit den Leuten, denen das Wasser jetzt erst recht bis zum Halse steht. Laden wir unsere Freun*innen aus dem Ausland ein, versprechen wir nicht zuviel, aber vermeiden wir trotzdem nicht das Utopische. Verhindern wir, dass die Anhänger der Rituale wieder die Führung an sich reißen, erweitern wir unseren Aktionsradius für diesen Tag. Vermeiden wir taktische Festlegungen und Vorgaben, bleiben wir um jeden Preis unberechenbar und trotzdem sichtbar, bevölkern wir mal wieder die Sonnenallee und die Herrmannstraße, haben wir einen Plan B, den wir auch umsetzen bei Bedarf, denken wir über den Tag hinaus.

Wir haben nichts mehr zu verlieren, und alles was kommen wird, kann nur noch grausamer sein sein, als wir es uns jemals haben vorstellen können. Winter Is Here. Zeit sich zu bewegen.

Autonome aus Berlin, 02.01.2021