Der Kapitalismus ist noch an der Macht, aber er ist bereits tot.

Franco Bifo Berardi

Das folgende Interview mit Franco “Bifo” Berardi erschien am 28.12.2020 in der brasilianischen “The Intercept”, es wurde allerdings schon vor einigen Wochen geführt. Anlass war u.a das Erscheinen seines Buches “Extrem” auf portugiesisch. Franco “Bifo” Berardi haben wir ja in der Sunzi Bingfa schon wiederholt vorgestellt, deshalb wollen wir an dieser Stelle vor allem dem Genossen danken, der das Interview für uns übersetzt hat: Thomas Walter. Er lebt seit 1995 im Exil, nachdem ein Anschlag auf den Neubau eines Abschiebeknast in Berlin misslang. Er musste damals mit zwei weiteren Genossen fliehen und lebt seit längerem in Venezuela. Seit kurzem betreibt er auch einen Blog, auf den wir ebenfalls hinweisen möchten und auf dem Ihr auch eine Kontaktmöglichkeit findet. Sunzi Bingfa

Intercept: Auf den ersten Seiten von „Extrem“ sagst Du, dass das Ende nah ist und dass es zwei Möglichkeiten gibt: Den Kommunismus oder die Auslöschung. Stehen wir heute tatsächlich vor dieser Wahl?

Franco Berardi: Ich mag die rhetorische, die hyperbolische Figur (dramatische Übertreibung). Es ist eine passende Art, um die extreme Situation zu beschreiben, in der wir leben. Wenn man sich in einer ausweglosen Situation wiederfindet, kann man einerseits ironisch sein, und andererseits hyperbolisch. Das ist der Geist dieses Satzes aus dem Buch, eine Übertreibung, um das Extreme auszudrücken. Ich denke tatsächlich, dass es für die menschliche Zivilisation im aktuellen Kontext keinen Ausweg gibt, weil die auf der extraktiven Ausbeutung der natürlichen Ressourcen basierende Ökonomie an ihre Grenzen gestossen ist. Die Wälder brennen ab, die Gletscher schmelzen, die Ozeane weiten sich aus und bedecken sich mit Plastik… wir sind nicht mal mehr wirklich lebendig. Wir sterben täglich spirituell und physisch. Siehst Du, ich bin hyperbolisch. Aber die Wirklichkeit ist es auch. Gibt es einen Ausweg? Ich weiss es nicht. Was ich weiss ist, dass die letzten 40 Jahre Neoliberalismus von Privatisierung, Armut, Ungleichheit und der Zerstörung des Planeten geprägt waren.

Die Welt muss sich verändern. Und die Veränderung beinhaltet zwei Bedingungen. Erstens, aufzuhören nach unbegrenztem Wachstum zu streben, sondern nach der Umverteilung des Reichtums. Warum soll die Wirtschaft weiter wachsen, warum sollen wir uns weiter auf Kosten der Natur ausbreiten? Wir haben uns schon zu viel ausgebreitet. Wir müssen stattdessen die Ungleichheit aufhalten, indem wir den Reichtum umverteilen. Zweitens müssen wir das Wissen, die Wissenschaft und die Technologie auf das soziale Wohl ausrichten, nicht auf die Bereicherung.

Ob es uns gefällt oder nicht, das ist Kommunismus. Wir können ein anderes Wort dafür suchen, aber das ist das Konzept, zweifellos.

Mit anderen Worten: Sozialismus oder Barbarei [Slogan der Soziologin, Philosophin und marxistischen Aktivistin Rosa Luxemburg].

Ja, das war eine Parole, die in den 60er Jahren viel benutzt wurde. Ich denke, dass das Konzept richtig war, aber wir haben die Option des Sozialismus verloren. Das reale Experiment ist in der ehemaligen Sowjetunion zwischen Autoritarismus und Gewalt gescheitert. Das war eine schlechte Erfahrung. Daran kann man sehen, wie die Anhänger*innen die guten Ideen ruinieren können. Man erinnert sich an Christus als an einen feinen Kerl, aber wie viele Verbrechen wurden in seinem Namen begangen? Bei Marx dagegen geraten seine Ideen in Vergessenheit und man erinnert sich nur an die in seinem Namen begangene Gewalt. Bis zum heutigen Tag ist es möglich, die Realität aufgrund der Schriften dieses alten deutschen Philosophen zu verstehen.

Ich bin Marxist, aber kein Dogmatiker. Mich persönlich interessieren die starren Konzepte und die Einteilungen nicht so sehr. Ich denke, dass wir eine Form finden müssen, den Reichtum umzuverteilen, was für mich eine Suche nach Gleichheit und Genügsamkeit bedeutet. Tatsächlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass das passiert, aus verschiedenen politischen, ökonomischen und kulturellen Gründen. Und weil die aktuelle Generation, also deine Generation, von einem pathologischen Projekt aus Politik, Kultur und Kommunikation geprägt wurde, das keine mögliche Alternative kennt.

Die Auslöschung ist ein reales Risiko, eine wahrscheinliche Zukunft. Ich finde, dass wir über das Wahrscheinliche hinaus denken müssen, um herauszufinden, was möglich ist. Im Gegensatz zu den Ökonomisten, die nur den Tendenzen folgen und Rechnungen aufstellen, müssen wir Philosophen die Wahrscheinlichkeit beiseite lassen und das Mögliche suchen. Das ist unsere Aufgabe als Denkende. Ich bin alt, ich komme aus der Vergangenheit, aber mein Geist wird von der Zukunft angezogen.

Siehst Du einen Dialog zwischen den Generationen? Reden die Philosophen deiner Generation mit jüngeren Leuten und umgekehrt?

Danke für diese Frage, die mir Gelegenheit gibt, über meine eigenen Erfahrungen zu reden. Seit 50 Jahren schreibe ich Bücher, mein erstes Buch „Gegen die Arbeit“ ist 1976 herausgekommen. Vor kurzem habe ich versucht, es nochmal zu lesen, und ich habe nichts verstanden. Es ist voller komplizierter und esoterischer Konzepte, Marx und Lenin und all das.

Bis Ende der 90er habe ich viele Bücher veröffentlicht, die sich an meine eigene Generation richteten. Und wer waren meine Freund*innen? Eine Handvoll Intellektueller meines Alters, in Italien und Frankreich. Wo sind sie heute? Viele sind tot.

Aber in den letzten Jahren haben sich meine Bücher zehnmal mehr verkauft. Und wer sind meine Leser*innen heute? Jugendliche um die 20, die aktuelle Generation. Ich merke, dass es unnötig ist, allzu abstrakte Konzepte von Politik und Ökonomie mit diesen Jugendlichen zu diskutieren. Am besten ist es darüber zu reden was uns wirklich betrifft, der Schmerz, die Depression, das Leiden, die Sexualität, das Leben. Das alles ist politisch und psychologisch, aber es nicht nötig, dafür schwierige Worte zu benutzen.

Das erste mal, als ich vorgeschlagen habe über sexuelle Impotenz als heutiges Symptom nachzudenken, habe ich das Interesse bei meinen Schüler*innen bemerkt, wie stark sie sich auf den Unterricht konzentriert haben. Danach habe ich begonnen, aus der Sicht des alltäglichen Schmerzes zu schreiben. 2001 habe ich „Die Fabrik des Unglücks“ geschrieben, es geht da um Technologie und Psychopathologien.

Als Autor war das für mich der Gipfel einer neuen Erfahrung. Es war auch der Höhepunkt einer neuen Beziehung mit den anderen, also meinen Gesprächspartner*innen. Ich sehe dieses Verhältnis ungern als ein paternalistisches Muster, eher als einen Dialog zwischen Geschwistern. Ich will ihr Leiden sehen, ich will davon lernen. Ich habe keine Ratschläge zu erteilen.

Findest Du, dass sich die Verhältnisse in Bolivien, in Chile, in den USA ändern? Gibt es heute einen Grund, optimistisch zu sein?

Ich verstehe, was du sagen willst, aber ich verwende die Worte Optimismus und Pessimismus nicht. Für mich ist es der Moment der Erwartung einer positiven Transformation.

Ich schlage vor, das gelassen zu sehen. Der linke Wahlsieg in Bolivien und das Referendum in Chile sind kleine politische Errungenschaften gegen die extreme Rechte. Es kann sein, dass Trump die Wahl nicht gewinnt, aber trotzdem politisch gewinnt: Die Tatsache, dass ein faschistisches und rassistisches Monster in US-Wahlen Millionen von Stimmen erhält, bedeutet, dass die extreme Rechte weiterhin stark ist und dass die Linke nicht stark genug ist, um wirklich Interessen von Jugendlichen, Latinos und Schwarzen zu vertreten. Das ist die Realität.

Der Wind hat noch nicht gedreht, so leid es mir tut. Es ist der Hauch einer Möglichkeit. Der Fall Chile zum Beispiel ist interessant. Dort entstand mit dem faschistischen Putsch von Pinochet 1973 die neoliberale Diktatur. Und symbolisch gesehen könnte sie dort enden. Ich erwarte nicht, dass die Siege von Bolivien oder Chile die Welt verändern, aber es könnten symbolische Ereignisse sein für alle, die für Gleichheit überall in der Welt kämpfen. Es eröffnet die Möglichkeit, die kulturellen und politischen Erwartungen der nächsten zehn Jahre zu verändern.

Wie siehst Du in diesem Kontext den Sieg von Biden über Trump?

Jeder anständige Mensch auf diesem Planeten erwartet und erhofft die Niederlage von Donald Trump. Es genügt aber nicht, anständig zu sein. Was würde Joe Biden tun, wenn die Polizei einen weiteren schwarzen Jugendlichen tötet? Wird er diesen extrem gut ausgerüsteten “Ku Klux Klan” in blauen Uniformen die Finanzen kürzen? Wird er nicht. Was wird er mit der Aufkündigung des Pariser Abkommens machen, wenn der Senat und der Oberste Gerichtshof in den Händen von Klimaleugner*innen sind? Wird das Fracking gestoppt werden?

Seien wir realistisch: Das einzige, was die USA einigen könnte, wäre ein Krieg gegen China. Im Hinblick auf den Weltfrieden ist der Sieg von Biden nicht beruhigend.

 

Ist es möglich, die Welt zu verändern, ohne an die Macht zu kommen?

Im Jahrzehnt nach 2000, als Regierungen wie die von Bachelet in Chile, Lula in Brasilien, Morales in Bolivien antraten, hat sich Lateinamerika verändert. Ich war glücklich darüber, denn natürlich ist ein Lula besser als ein Bolsonaro. Aber ich habe ehrlich gesagt nicht viel erwartet von der Linken an der Macht, weil ich glaube, dass wir von Konzepten ausgehen, die mehr als 200 Jahre alt sind. Linke, radikale Linke, Sozialdemokratie…

Tatsächlich glaube ich, dass eine Regierung keinen radikalen Wandel der Verhältnisse herstellen kann, weil sie sich an die Regeln des internationalen Finanzmarktes halten muss. Das ist eine globale Diktatur. Ein Staatschef kann kleine Dinge im nationalen Maßstab verändern, aber er ist so eingeschränkt in seinen Möglichkeiten, dass er früher oder später enttäuschen wird.

Ich will damit sagen, dass es für eine Transformation nötig ist, die globale kulturelle und psychosoziale Mentalität zugunsten der sozialen Solidarität zu verändern. Das geht nur kollektiv, das kann keine Regierung tun. Überall auf dem Planeten werden von den Menschen neue Welten ausgedacht, geträumt, aufgebaut, ausgehend von einer neuen, komplexen und chaotischen Informationssphäre. Eine zeitgemässe Ökonomie der Verknüpfungen. Wer will das Chaos regieren?

Leute wie ich, du, alle anderen, alle miteinander verknüpft in einem Netz von Ideen, Handlungen, Zuneigungen. Das ist eine Veränderung, die sich nicht auf’s Nationale begrenzt. Du bist in Japan, ich sitze in Italien, und wir unterhalten uns mit Brasilien. Wir reden über einen selbstverwalteten Mikrofluss technologischer Infrastruktur, dezentral, um die starren Modelle zu überwinden. Das ist außerhalb der Kontrolle der Staaten. Ich hoffe darauf, dass es eine Transformation im Chaos gibt, das, was sonst im Trauma stattfindet. Und wir leben ja in einem globalen Trauma.

Und das Trauma, das wir jetzt erleben, die Covid-19-Pandemie, ist das vielleicht ein morbides Symptom? Wie Antonio Gramsci es ausdrückte: Die alte Welt liegt im Sterben, aber die neue ist noch nicht geboren?

Völlig klar. Die alte Welt stirbt, es ist vorbei. Ein Organismus kann sich selbst überleben, wenn seine Tentakel nach dem Tod des Körpers noch am Leben sind.

Die Pandemie hat diese Vergeisterung alter Institutionen und Ideen wie die Verschuldung und das Geld, die die menschliche Aktivität der kapitalistischen Abstraktion unterwerfen, noch beschleunigt.

Was ich sagen will ist, dass es nicht die traditionelle Politik sein wird, die die Beziehung zwischen Zeit, Arbeit und Geld auf der Basis von willkürlichen Regeln eines totalen Makroprojektes ausbalanciert, sondern die Millionen Körper, die in der konkreten Notwendigkeit sind, zu leben, zu atmen, zu essen, kurzum, Dinge, die im Wesentlichen nichts mit Geld zu tun haben sollten.

Warum soll ich Miete bezahlen, um einen Platz zum Leben zu haben? Warum brauche ich Geld, um zu essen? Wird eine Regierung etwa irgendwann die Wahrnehmung von Schulden und Geld abschaffen? Natürlich nicht, aber wir können das. Das ist es, was die Streikbewegung 2020 gemacht hat.

Zum Abschluss: Meinst du, dass die Zukunft nach der Pandemie besser wird oder schlechter?

Giorgio Agamben (italienischer Philosoph) sagt, dass wir am Beginn eines technototalitären Systems stehen, das den Kapitalismus über die technologische Kontrolle, die Überwachung und die Gewalt erneuern will. Kann sein, dass er Recht hat. Slavoj Žižek (slowenischer Philosoph) dagegen meint, es sei der Moment, den Kommunismus neu zu erfinden, alles zu revolutionieren, und vielleicht ist er es, der richtig liegt.

Was ich sagen will ist, dass es Voraussagen gibt, aber niemand weiss, was passieren wird. Wir stehen am Rand des Traumas, auf einem Weg, der vom Licht in die Dunkelheit führen kann, oder von der Dunkelheit ins Licht.

Wie ich in meinem Buch schreibe: Wir stehen am Ende, das Resultat hängt von uns ab. Für mich ist es am wichtigsten, ein Bewusstsein davon zu haben, in welcher Zeit wir leben, nur so können wir uns eine Zukunft vorstellen. Unsere Tage sind von einer tiefen Wahrnehmung der Gefahr geprägt, eine Atombombe für die menschliche Psychologie. Wenn wir uns kein Morgen vorstellen können, in dem wir uns wieder umarmen können, wofür ist dann alles andere gut?

Wir brauchen Essen, Zärtlichkeit, Lust, Sensibilität, Solidarität, all das, was uns zu Menschen macht. Wir müssen die Pandemie überleben, um die anderen zu sehen, zu küssen und zu umarmen. Das ist das Wichtigste, was ich in letzter Zeit gelernt habe.