DIE MACHT DER LANGEWEILE (und die Praxis des Aufruhrs als Unterhaltung)

Koubilichi

Ein weiterer, wunderbarer Text aus Frankreich, der bei den Gefährt*innen von Lundi Matin erschien und den wir für die Sunzi Bingfa übersetzt haben.

Langeweile ist ein Instrument der sozialen Kontrolle. Macht ist die Macht, Langeweile zu erzwingen, Stagnation auszulösen…’ Unbeweglichkeit.

Saul Bellow: ‘Humboldts Vermächtnis’ (1978)

Um ihre absolute Unzulänglichkeit zu kaschieren, versucht die Exekutive offensichtlich, die ganze Härte ihrer Gewalt auszuüben: einsperren, zum Schweigen bringen, unter Hausarrest stellen, Langeweile um jeden Preis produzieren.

Polizeiliche Schikane zur Durchsetzung von Freiheitsentzug ist vergleichbar mit der Brutalität des Hundeführers, der seine Macht genießt. Es ähnelt einer Art von Training: „Nicht bewegen verstanden!”. Es ist, als ob die Exekutive Ihre Angst anhand der Langeweile messen und durchsetzen will: „Geh zur Arbeit und um 18 Uhr nach Hause und ab ins Bett!”

Der Schriftsteller Saul Bellow hat diesen Zusammenhang zwischen Macht, Angst und Langeweile in ‘Humboldts Vermächtnis’ anhand von Djilas Schilderung der stalinistischen Gelage aufgezeigt (1):

“Die Gäste tranken und aßen, aßen und tranken und mussten dann um zwei Uhr nachts einer Vorführung eines amerikanischen Westerns beiwohnen. Es bereitete ihnen Schmerzen im Gesäß, sich bloß hinzusetzen. Die Angst schnürte ihnen die Eingeweide zusammen. Stalin wählte, während er plauderte und scherzte, geistig aus, wer in den Hinterkopf geschossen werden sollte, und während sie würgten, rülpsten, glucksten, wussten sie, was ihnen drohte …“ (2)

Wir verstehen: „Langeweile ist ein Instrument der sozialen Kontrolle. Macht ist die Macht, Langeweile zu erzwingen, Stagnation auszulösen …“, Unbeweglichkeit. In der Tat leben wir heute sozusagen mit der gleichen Langeweile wie die stalinistische Gesellschaft, die Saul Bellow als die langweiligste der Weltgeschichte beschreibt: “ Scheußliche, spießige, graue, traurige Waren, unheimliche Gebäude, unheimliches Unbehagen, unheimliche Kontrollen, öde Presse, öde Erziehung, düstere Bürokratie, Zwangsarbeit, ständige Polizei- und Strafpräsenz, erdrückende Parteikongresse, usw.“ – Das Einzige was von Dauer war, war der Zusammenbruch jeglichen aufrichtigen Interesses.

Indem sie das Individuum nicht auf ein Objekt reduziert, wie man zunächst glauben könnte, sondern auf seine reine Subjektivität, die jeglichen Objekten (einem Betrachter), Handlungen und sozialen Beziehungen beraubt ist, wird das Individuum durch die herrschende Macht in einen Zustand der Lähmung versetzt, entleert sich von allem Inhalt, allem Willen, allem Interesse. Dies ist im Übrigen die eigentliche Entfremdung nach Marx: „Ein Wesen, das seine Natur nicht außerhalb seiner selbst hat, ist kein natürliches Wesen, […]. Ein Wesen, das nicht selbst ein Objekt für einen anderen ist…ist ein Wesen, das nicht in objektiven Beziehungen steht. Ein nicht-objektives Wesen ist ein Nicht-Wesen“. (3)

Ein Zombie. Eine metaphysische Entfremdung also, die schwer zu messen ist, ebenso wie Armut, Hunger, Ungleichheiten aller Art. Die Produktion des Selbst als Subjekt, die reine Passivität, ist der beste Indikator für unsere Entfremdung. Der Eingeschlossene ist ein Untoter: ohne Anlass, ohne Objekt, ohne Vorhaben. Sein Erwachen bleibt im Kern unvorhersehbar: „Die Historiker werden hinterher sagen, dass politische, wirtschaftliche und soziale Ursachen diesen Ausbruch erklären; natürlich, aber sie werden die elementare Tatsache nicht gesehen haben, dass dieses Volk gelangweilt war“, (4) schrieb Benjamin Fondane in seiner Studie über Baudelaire und sein Verhältnis zur Langeweile.

Der Aufruhr ist eine Sache des Auftauchens, einer Ästhetik des Auftauchens. Es scheint kein ausreichender Grund dafür gegeben zu sein. Könnte es sein, dass Langeweile einer davon ist?

Könnte es also sein, dass wir uns auf etwas zubewegen, das man als Revolte gegen die Langeweile bezeichnen könnte, nämlich die Praxis des Randalierens als Unterhaltung? Kann es sein, dass der tödlichen Macht der Langeweile, die eine Brutalität ist, der Bewegung des Lebens, die in der aufkommenden Form des Riot-Entertainment Gewalt ist, entgegengesetzt ist? Eine Darbietung, die in ihrem Ursprung metaphysisch und in ihrer Bestimmung ästhetisch ist.

Wenn der Gewehrlauf zu lange im Nacken sitzt und die Langeweile die Grenzen des Erträglichen überschreitet, schwelt die Revolte, der Aufstand ist dann der Ausdruck des Lebens im Angesicht der tödlichen Brutalität des Staates.

Wenn dieser Tag kommt, wird es ein großes Fest sein…

Fußnoten

(1) Milovan Djilas: Gespräche mit Stalin (1962)

(2)Saul Bellow: Humboldts Vermächtnis (1978)