Riot Turtle
Nach dem Kampf um ein besetztes Haus in der Vondelstraße, über den wir in der letzten Ausgabe von Sunzi Bingfa berichtet haben, befasst sich dieser zweite Teil unserer Serie über Häuserkämpfe in den Niederlanden mit dem Aktionsmonat der Hausbesetzerbewegung im April 1980. Der Aktionsmonat erreichte am Krönungstag von Beatrix, dem 30. April 1980 seinen Höhepunkt. Dieser 30. April 1980 war die größte Revolte, die in den Niederlanden nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat. Dieser Beitrag erzählt von jenem April, außerdem haben wir dem Dokumentarfilm über den 30.4.1980: „Keine Wohnung! Keine Krönung!“ eine deutsche Untertitelung hinzugefügt. Den Film findet Ihr am Ende des Textes. Sunzi Bingfa
Die Schlacht um die Vondelstraße hatte alles verändert. Seit Anfang März wurden immer mehr Gebäude besetzt, nicht nur in Amsterdam, sondern überall in den Niederlanden. Viele neue Hausbesetzergruppen entstanden und der Einsatz der Armee in der Vondelstraat hatte den Staat auch in bürgerliche Kreisen viel Vertrauen gekostet. Soldaten im Einsatz hatte man in Amsterdam seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen. Die Politik hatte es nicht geschafft, die Wohnungsfrage mittels einer massiven Kriminalisierungskampagne und einer anschließenden militärische Operation unter den Teppich zu kehren. Stattdessen: Viel Wut und ein enormes Wachstum der Hausbesetzerbewegung. Ich war damals 15 Jahre alt und verfolgte die Entwicklungen genau. Auch in dem 600-Einwohner-Dorf, in dem das Kinderheim war, in dem ich untergebracht war, wurde ein Gebäude mit neuen leeren Luxuswohnungen besetzt. Bald war ich dort ein regelmäßiger Besucher und saugte alle Informationen auf, die verfügbar waren. Auch in der Schule waren die Themen Hausbesetzung und Wohnungsnot Gesprächsthema Nummer eins.
Ursprünglich sollte der 30. April ein Aktionstag gegen die Wohnungsnot werden. Aber daraus wurde ein Aktionsmonat. In Amsterdam gibt es ein neues Ziel: leerstehende Luxusapartments. Die erste größere Aktion fand am 2. April statt. In einem neuen Gebäudekomplex an der Prinz Hendrik-Kade gegenüber dem Hauptbahnhof werden leeren luxuriöse Wohnungen besetzt. Die Besetzung der Luxuswohnungen ist eine neue Provokation für die Lokalpolitik, einen Monat nach der Schlacht in der Vondelstraße stehen Bürgermeister Polak und alle Stadtratsfraktionen so unter Druck, dass sie in einer ersten Reaktion nur Verständnis für diese Aktion gegen Leerstand in einer Zeit akuter Wohnungsnot äußern können. Sogar die Konservativen. Die gesamte politische Klasse war in die Defensive gedrängt worden.
Einen Tag später stürmt eine große Gruppe von Hausbesetzern das Büro des städtischen Wohnungsamtes GDH. Sie besetzten das Gebäude für ein paar Stunden und entwenden Dutzende von Akten aus dem Verzeichnis der Häuser, die zur Räumung vorgesehen sind. Die Lokalpolitik ist wütend. Die Verteilung des Wohnungsbestandes in einer Zeit der Knappheit ist der Stadtverwaltung heilig. Die Hausbesetzer weisen jedoch darauf hin, dass die GDH nur dazu diene, diese Knappheit zu erhalten. Aus ihrer Sicht fungierte das Verteilersystem als Blitzableiter für die eigentliche Herangehensweise an den Wohnungsmangel, diese Ansicht der wird zunehmend von den GDH-Beamten selbst unterstützt. Eineinhalb Monate zuvor hatten sie für einen Tag die Arbeit niedergelegt, weil sie mit dem schlechten Funktionieren des Dienstes unzufrieden waren.
Nach der Aktion in den Büros der GDH ziehen die Besetzer zum Palast am Dam-Platz, wo mehrere Rauchbomben gezündet werden, begleitet von der Parole „Keine Wohnung! Keine Krönung!“ Für die Außenwelt wird langsam klar, dass die Hausbesetzerbewegung den Tag der Inauguration von Beatrix für einen breit angelegten Protest gegen die Wohnungsnot nutzen will. Innenminister Wiegel reagiert auf diesen Druck, am Abend der Demonstration auf dem Dam-Platz wendet er sich im Fernsehen an die Bevölkerung: „Der 30. April muss ein Tag des Feierns werden.“
Wiegel selbst wurde allgemein für den Einsatz der Armee in der Vondelstraße verantwortlich gemacht, und sein Aufruf für eine feierlichen Amtseinführung von Beatrix fungiert daher eher als Brandbeschleuniger eines bereits schwelenden Feuers. Als Kind in einem Kinderheim in den achtziger Jahren in einem 600-Einwohner-Dorf lernt man schnell, was Diskriminierung ist und das Märchen von der Chancengleichheit wird schnell als das erkannt, was es ist: ein Märchen. Die meisten aus unserer Gruppe wussten, dass sie in der Regel mit 16 Jahren das Kinderheim verlassen mussten, und Jugendliche wie ich, die über das Familiengericht einen Vormund zugewiesen bekamen, wussten, dass sie mit 16 Jahren auf dem Wohnungsmarkt mit nur 600 Gulden im Monat mithalten sollten. 600 Gulden im Monat für alles: Essen, Trinken, Kleidung, Miete, und so weiter. Das war damals auch schon nicht möglich. So ist es nicht verwunderlich, dass sich viele in unserer Gruppe mit dem Thema Hausbesetzung auseinandergesetzt haben. Auch ich. Also beschloss ich mit 3 Freunden, dass wir am 30. April aus dem Kinderheim weglaufen würden, um nach Amsterdam zu fahren.
Bei den Politikern liegen die Nerven blank. Die Polizei und die Justiz führen eine Fahndung nach dem „30. April-Aktionstag“-Plakat durch, das überall im Land aufgetaucht ist. Außerhalb von Amsterdam machen sie mehrere Razzien bei Jugendorganisationen und besetzten Häusern, die das Plakat im Fenster aufgehängt haben. Die Stadt Amsterdam beeilt sich, ein von Hausbesetzern und anderen organisiertes Musikfestival am 30. April im Stadtteil „de Pijp“, das ‚Braak Festival‘, zu subventionieren.
Der geplante Stadtrundfahrt der königlichen Familie nach der Inauguration wurde abgesagt, und Stadtrat Schaefer ließ durchsickern, dass er bereit sei, eine Reihe von besetzten Häusern aufzukaufen, notfalls auch ohne Zuschuss der niederländische Regierung. Dabei zielt er insbesondere auf den Handelsblad-Komplex (NRC), der buchstäblich nur einen Steinwurf vom Palast am Dam-Platz entfernt ist. Die Amsterdamer Wohnungsbaugesellschaften ihrerseits kündigten an, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, dass bis zum 30. April keine Wohnungen mehr leer stehen. Eine Woche vor der Amtseinführung von Beatrix verkündete die Regierung, dass die Vorschläge für das “Anti-Hausbesetzung-Gesetz” endgültig zurückgezogen werden.
In den Wochen vor der Krönung herrscht eine kollektive Paranoia, hervorgerufen durch nichts weiter als ein einfaches, von einer kleinen Gruppe zusammengeschustertes Plakat. Der beispiellose Erfolg des ersten Plakats veranlasst die Macher, die Kampagne weiter zu intensivieren. Mitte April erscheint ein zweites Plakat, das dazu aufruft, sich am 30. April am Dokwerker zu einer “Demonstration mit Effekten“ zu versammeln. Das Plakat ist mit einem Bild der Rauchbombe verziert, die den Hochzeitszug von Beatrix und Claus im März 1966 störte. Diesmal ist das Plakat nicht anonym, sondern “die Autonomen“ übernehmen dafür die Verantwortung. Für mich persönlich war es das erste Mal dass ich das Wort Autonome gehört habe. Das Plakat hing ungefähr drei Stunden in meinem Zimmer, bevor einer der Betreuer es beschlagnahmt hat. Er fand jedoch nicht die Exemplare, die wir noch verteilen wollten.
Es war jedoch ursprünglich nicht beabsichtigt, dass der 30. April ein Tag der Auseinandersetzungen mit den Bullen werden sollte. Der Plan war, möglichst viele Häuser zu besetzen, nicht nur in Amsterdam, sondern auch in anderen Städten. Es war klar, dass Räumungen nicht akzeptiert werden und dass wir uns den Versuchen der Bullen, besetzte Gebäude zu räumen, widersetzen würden. Da ich noch in einem Kinderheim lebte und nicht viel von den Vorbereitungen mitbekommen hatte, wusste ich viele Dinge nicht. Aber dass es zunächst darum ging, so viele Gebäude wie möglich zu besetzen, war auch in unserem 600-Seelen-Dorf angekommen.
Am 30. April wurden in den Morgenstunden mehrere hundert Gebäude in den Niederlanden besetzt. Außerhalb von Amsterdam bekamen die Besetzer nicht nur Probleme mit den Bullen, sondern auch mit zivilen Schlägertrupps, von denen etliche von den Hauseigentümern selbst bezahlt wurden. In Amsterdam ist die Atmosphäre an diesem Tag extrem angespannt. Das Zentrum von Amsterdam ist hermetisch abgeriegelt und in eine Festung verwandelt worden. Wir hatten uns frühzeitig auf den Weg gemacht und waren gut angekommen.
Plötzlich tauchten die Bullen auf und fingen an auf alles eindreschen was sie in die Fingern bekamen. Wir kamen gerade noch so gut weg, aber die Wut über diese Gewaltorgie der Bullen war groß. Der Ton war gesetzt. Wir redeten mit ein paar LeuteAm frühen Nachmittag des 30. April setzen sich dort mehrere tausend Menschen in Bewegung, die Demo wurde von den Bullen aber auf der Blauwbrug (Blaubrücke), beim Waterlooplein, gestoppt. Ein Grund für dieses Aufstoppen wurde nicht durchgesagt. Ich hab zumindest nichts gehört. Für mich war dies nicht die erste Demonstration.
Die von Wiegel erwünschten Feierlichkeiten endeten in Plünderungen und Zerstörungen, die bis in die Nacht andauerten. Wir haben ohne Pause die Straßen aufgerissen und Menschen mit Wurfmunition versorgt, es sei denn, wir waren selbst an der Front und haben dort die Bullen angegriffen. Wir merkten bald, dass sich immer mehr Menschen an der Revolte beteiligten. Die Bullen mussten sich immer wieder zurückziehen und konnten auf der Hoogstraße mit vereinten Kräften nur mit Mühe verhindern, dass die Kampfhandlungen den Dam-Platz erreichten, wo die Krönung von Beatrix realisiert wurde.
Ich erinnere mich, dass wir eine lange Zeit auf dem Rokin verbracht haben. Das Rokin liegt ebenfalls in der Nähe des Dam-Platzes. Wir kämpften dort stundenlang mit den Bullen und versuchten, den Dam-Platz zu erreichen. Es war das erste Mal dass ich Barrikaden gebaut habe, aber so etwas lernt man schnell. Learning by doing. Überall hing Tränengas in der Luft und es gab viele Verletzten. Immer wieder haben wir Verletzte zu den Krankenwagen gebracht, die am Rande des umkämpften Gebietes in langen Schlangen warteten. Manche Verletzungen sahen schlimm aus, aber wir hatten meistens keine Zeit um uns damit richtig auseinanderzusetzen. Die Kämpfe waren dermaßen heftig, das dies schlichtweg nicht wirklich möglich war. Man brachte die Leute aus der Gefahrenzone raus, zum Krankenwagen
Auf dem Rokin gab es auch viele Nahkämpfe. Es gab reichlich Fahnenstange, da die Anhänger des Königshauses überall ihre Fahnen gehisst hatten. Deren Fahnenstangen wurden dann gegen die Bullen eingesetzt: Fahnenstangen gegen Knüppel. Die Bullen waren über diese direkte Konfrontationen sichtlich geschockt. Sie mussten immer wieder Terrain aufgeben,Wir entschieden uns noch ein paar Tage zu bleiben und danach getrennt und mit zeitlichen Abstand zurück zu fahren, und wir jeweils unsere eigene Geschichte für den Heimdirektor parat hatten. Das war in diesem Fall leider nicht so.
Auch die Tage nach der 30. April waren sehr bewegt. Es ging ein ersten Riss durch die Hausbesetzerbewegung. Niemand hatte mit damit gerechnet dass die Auseinandersetzungen
Es kam sogar zu einigen Distanzierungen. Es gab einige Gruppen, wie die „Autonomen“ die „die Verantwortlichkeit“ für die Revolte übernahmen, und es gab Gruppen, die den eingeschlagenen Weg für eine Sackgasse hielten. Die “autonome Strömung” argumentierte damit, dass sich der friedliche Weg bis zur Vondelstraße längst in einer Sackgasse befunden hatte und dass es der militanten Widerstand war, der den Armeeeinsatz provoziert hatte und damit die Auseinandersetzung um die Wohnungsnot und Stadtpolitik im allgemeinen auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Die Diskussionen waren manchmal anstrengend, aber für einen 15 jährigen sehr lehrreich. Heute weiß ich das dort die Basis für ein Leben jahrzehntelanger Kämpfe gelegt wurde, Als ich 1981, als Sechzehnjähriger, nach Amsterdam zog, um in meine erste eigene Wohnung zu ziehen, wechselte ich nach drei Monate in ein besetztes Haus. Meine erste WG. Aber darüber erzähle ich in der nächsten Ausgabe von Sunzi Bingfa mehr.Dokufilm (22 Minuten, deutsche Untertitel) Keine Wohnung! Keine Krönung! (Amsterdam, 30. April, 1980)