Ghassan Salhab
Ein weiterer Text von Ghassan Salhab aus dem Libanon. Wir haben ihn ja bereits zweimal übersetzt (Eins | Zwei ). Nur Worte, die doch alles bedeuten. Traurig, wütend, desperat, unglaublich traurig, wütend und desperat. Und voller Sehnsucht, der einzigen Sehnsucht, die noch geblieben ist, die Sehnsucht danach, einmal, nur dieses eine Mal, die Angst in ihren Augen zu sehen. Sunzi Bingfa
Alles ist knapp, die schlechtesten materiellen Bedingungen sind ausgezeichnet. Die Wälder sind weiß oder schwarz, wir werden nie schlafen.
André Breton
Jede Reflexion, jeder Gedanke, jede Analyse der libanesischen Situation, gleich welcher Art, ist jetzt mehr als vergeblich, überwältigt (und erdrückt) von so vielen Ereignissen. Ebenso jede Aktion. Sie befördert uns noch tiefer in diesen bodenlosen Brunnen, den unsere vielfältigen Gegner zu graben versucht haben und an dem sie immer noch graben.
Sie kichern nicht versteckt unter dem Deckmantel unserer eigenen Sehnsüchte, sie glucksen mit offenem Gesicht, schamlos. Wir jagen ihnen keine Angst ein. In ihren Augen, ihren Stimmen, auf ihren Stirnen, auf ihren Schultern: keine Angst, kein Zittern, allenfalls Irritation. Sie beherrschen uns hervorragend, um die Wahrheit zu sagen.
Ihre verschiedenen Sicherheitsvorkehrungen sind nur dieses Ritual, das sie schon immer drauf hatten, das sie uns zwingen zu spielen, jeder beschränkt auf seine Rolle: Weichen Sie nicht davon ab.
Die gleichen alten Mauern, gegen die wir immer kämpfen, Mauern, hinter denen sie nicht wirklich Schutz suchen, sie alle mit ihrem unvergleichlichen Egoismus und ihrer Herablassung. Unsere Gegner, mit ihrer schwindelerregenden Mittelmäßigkeit, unfähig, irgendeinen Anschein von Know-how, von Führung zu bewahren (da sie doch behaupten, zu führen), die zu nichts anderen in der Lage waren oder sind als uns weiterhin in diesen sinnlosen Wettlauf um jene Seifenblasen hineinzuziehen, von dem ein großer Teil der Mitbürger seit langem profitiert, wobei die Gewinne natürlich sehr ungleich verteilt sind, aber Profite, libanesische Dollar und Pfund in der Summe. Gegner, die so sehr in ihren endlosen internen Streitereien und allen möglichen Interessen gefangen sind (trotz eines immer enger werdenden Handlungsspielraums, der fast nicht mehr vorhanden ist, aber was soll’s!), dass sie absolut nichts anderes mehr wahrnehmen.
Ihre Polizisten, ihre Soldaten, ihre Handlanger, ihre Spitzel, ihre Gewehre, ihre Kugeln, sowohl echte als auch Gummigeschosse, ihre Knüppel, ihre Tränengasbomben, ihre Wasserwerfer, sind alle mit einer Fallgrubenvorrichtung versehen. Sie warten genau dort auf uns, wo wir sie angreifen. Sobald unser Aufstand begann, so unerwartet er für sie und für uns war, wurde das Territorium der Konfrontation sehr schnell abgesteckt. Und heute, mit diesem noch unerwarteteren infektiösen Erreger, ist der Aktionsradius enger denn je gefasst.
Wir sind nur schmutzige Kinder in ihren Augen, undankbare Menschen, die unterworfen werden müssen, die ausgelaugt werden müssen, die schließlich müde werden und vielleicht sogar, was für mehr als einen von uns gilt, durch den Eintritt in ihre Reihen, oder sogar durch den Übertritt ( für jene, die den schamlosen Schneid aufbrachten, sich loszureißen) zu ihrem Lager, auf die andere Seite wechselten. Sie haben so viel zu einer Familienangelegenheit gemacht, genauer gesagt, zu einer Familien- und Clan-Angelegenheit. Und der Clan, man ist entweder Teil davon oder man ist davon ausgeschlossen. Schmutzige Kinder oder andernfalls schwarze Schafe. Wir können es nicht ignorieren, der Feind hat mehr als einen Stützpunkt unter uns, in jedem von uns, und ob wir es wollen oder nicht, das bestimmt die Wiederholung unserer Niederlagen. Jeder Angriff, jede Schlacht, die geschlagen wird, bekräftigt nur diese katastrophale Realität.
Worum geht es heute angesichts all des „Es“, aus dem wir irgendwie hervorgegangen sind? Wer von uns hat nicht eine Schwester, oder einen Bruder, oder einen Cousin, oder eine Tante, oder einen Onkel, oder einen Vater, oder eine Mutter, oder ein Kind, oder einen Freund aus der Kindheit, oder einen Nachbarn, oder sogar einen Teil von sich selbst, der nicht dazugehört? Auf welches Territorium soll diese Hydra gezerrt werden? Wie können wir endlich die Angst in ihren Augen sehen? Sie soll sie nie mehr loslassen, Tag und Nacht, besonders nachts. Wie können wir, ihrem Beispiel folgend, flüssig werden, eine schwer fassbare Materie, in ihre Arterien, Nerven, Muskeln und Konten eindringen und ihr Gleichgewicht nachhaltig und unwiderruflich aus dem Gleichgewicht bringen, das sicherlich prekär ist, schon immer, seit ihren ersten Bestrebungen zu regieren, ein echter Balanceakt war?
Welche Kämpfe haben sie geführt, die eigentlich der Rede wert sind? Die Krise, unsere Krise, wirtschaftlich, sozial, „strukturell“, ist nicht, wie wir entschlossen gedacht hatten, der berühmte Schlüssel, der Sesam öffne Dich. Ganz im Gegenteil, sie ist eines der Meisterwerke im Arsenal der herrschenden Ordnung, auch „stay home“, diese namenlose Sauerei, aber eine Sauerei, die sehr klar in ihrem unstillbaren Wunsch ist, auch das auszunutzen, wenn nicht sogar es vor seiner Zeit provoziert zu haben, um es besser eindämmen zu können, und um schließlich einen jämmerlichen Wundverband vorzuschlagen. Ja, welche Kämpfe sind anzustrengen, die nicht nur eine weitere festgefahrene Sackgasse bedeuten, welche Kämpfe, die sie überraschen können, die sie zutiefst verblüffen können?
Ich wage es nicht, hier eine Antwort einzufordern, Antworten im Plural in diesem Fall, individuell(e) und kollektiv(e), „und“. Vielleicht stellen wir uns einen Weg vor, dessen Verlauf unbestimmt ist. Niemals ritualisiert handelnd, sondern ständig in Bewegung, unvorhersehbar, launisch bleibend. Vielleicht stellen wir uns Tausende von kleinen Aktionen vor, Tausende von Graffiti, Tausende von losen Blättern, Tausende von Begegnungen aller Art, provozieren wir sie, vorzugsweise im Kleinen, verwickeln wir sie, verbreiten wir unsere Gerüchte, ob begründet oder nicht, verbreiten wir sie, während sie bewusst unpräzise bleiben. Sei es in Beirut, Tripolis, Jal el-Dib, Kfar Roummane, Nabatiyeh, Saida, Baalbeck, Sour, Aley, Halba, überall in dieser Gegend des Mittelmeers, angeblich dort zu sein und nicht dort zu sein. Nicht greifbar.
Ich möchte die Angst in ihren Augen sehen, schrieb mir kürzlich ein Freund und Genosse.
Wir wollen die Angst in den Augen unserer Gegner sehen, wir wollen sehen, wie ihre Pupillen in Panik geraten.