Giorgio Agamben
Es ist notwendig, die von den Regierungen immer wieder wiederholte These ernst zu nehmen, dass sich die Menschheit und jede Nation in einem Kriegszustand befindet.
Es versteht sich von selbst, dass eine solche These dazu dient, den Ausnahmezustand mit seinen drastischen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und absurden Begrifflichkeiten wie „Ausgangssperre“ zu legitimieren, die ansonsten schwer zu rechtfertigen sind.
Die Beziehung zwischen der Regierungsgewalt und dem Krieg ist jedoch inniger und substanzieller. Tatsache ist, dass sie auf den Krieg in keinster Weise dauerhaft verzichten kann. Tolstoi kontrastiert in seinem Roman den Frieden, in dem die Menschen mehr oder weniger frei ihren Wünschen, Gefühlen und Gedanken folgen und der ihm als die einzige Realität erscheint, mit der Abstraktion und Lüge des Krieges, in dem alles von einer unerbittlichen Notwendigkeit mitgerissen zu werden scheint.
Und in seinem Fresko im öffentlichen Palast von Siena stellt Lorenzetti eine Stadt im Frieden dar, deren Bewohner, während sie ihren Verrichtungen und Vergnügungen nachgehen, sich frei bewegen, während im Vordergrund Mädchen händchen haltend tanzen. Obwohl das Fresko traditionell den Titel „Die gute Regierung“ trägt, ist ein solcher Zustand, gewoben aus den kleinen alltäglichen Ereignissen des gemeinsamen Lebens und den Wünschen eines jeden, in Wirklichkeit für die Macht auf Dauer unregierbar. So sehr dieses Leben auch Begrenzungen und Beschränkungen aller Art unterworfen sein mag, so sehr neigt es jedoch von Natur aus dazu, sich der Berechnung, der Planung und festen Regeln zu entziehen – oder zumindest ist dies die geheime Angst der Macht. Dies kann man auch so beschreiben, dass die Geschichte, ohne die Macht letztlich nicht denkbar ist, auf engste mit dem Krieg verknüpft ist, während das Leben in Frieden per Definition ohne Geschichte ist.
So etwas Ähnliches hatte Elsa Morante im Sinn, als sie ihren Roman La Storia (Die Geschichte) betitelte, in dem die Wechselfälle einiger einfacher Gestalten den Kriegen und katastrophalen Ereignissen gegenübergestellt werden, die das öffentliche Geschehen des zwanzigsten Jahrhunderts prägen.
Aus diesem Grund müssen die Mächte, die die Welt beherrschen wollen, früher oder später zum Krieg greifen, ganz gleich, ob er real oder sorgfältig simuliert ist.
Und da im Zustand des Friedens das Leben der Menschen dazu neigt, jede historische Dimension zu verlassen, ist es nicht verwunderlich, dass die Regierungen heute nicht müde werden, uns daran zu erinnern, dass der Krieg gegen das Virus den Beginn einer neuen historischen Ära markiert, in der nichts mehr so sein wird wie zuvor.
Und viele unter denen, die sich die Augen verbinden, um die Situation der Unfreiheit, in die sie geraten sind, nicht zu sehen, akzeptieren sie gerade deshalb, weil sie, nicht ohne einen Hauch von Stolz, überzeugt sind, dass sie – nach fast siebzig Jahren friedlichen Lebens, also ohne Geschichte – in eine neue Ära eintreten.
Auch wenn sie, wie es nur allzu offensichtlich ist, eine Ära der Knechtschaft und der Aufopferung sein wird, in der alles, was das Leben lebenswert macht, Kasteiungen und Einschränkungen unterworfen werden muss, fügen sie sich dem bereitwillig, weil sie törichterweise glauben, auf diese Weise den Sinn für ihr Leben gefunden zu haben, den sie im Frieden vergessen und verloren hatten.
Es ist jedoch möglich, dass der Krieg gegen das Virus, der ein ideales Instrument zu sein scheint, das die Regierungen viel leichter als einen echten Krieg nach ihren eigenen Bedürfnissen dosieren und lenken können, wie jeder Krieg damit endet, dass er aus dem Ruder läuft. Und vielleicht werden die Menschen an diesem Punkt, wenn es noch nicht zu spät ist, noch einmal den unregierbaren Frieden suchen, den sie so leichtfertig aufgegeben haben.
23. Februar 2021, Giorgio Agamben