Geboren am 17. November

Dimitris Koufontinas

Seit dem 8. Januar 2021 befand sich Dimitris Koufontinas im Hungerstreik, seit dem 22. Februar auch in einem Durststreik. Am 5. März befand sich seine Seele bereits auf der Reise über den Styx, nachdem er ein akutes Nierenversagen erlitt. Auf direkte Anweisung der griechischen Regierung, die von Anfang an fest entschlossen war, seine Forderungen nach Rückverlegung aus dem Hochsicherheitstrakt, in den man ihn sogar gegen geltendes Recht verlegt hatte, nicht zu erfüllen, wurde er von den Ärzten im Lamia Krankenhaus, in das er mittlerweile verlegt worden war, reanimiert. Sein Leben hing nun an einem seidenen Faden, die Absicht der griechischen Regierung war offensichtlich und auch öffentlich proklamiert, selbst seine Entscheidung über seinen eigenen Tod, übers sein Leben, sollte ihm genommen werden. Oder wie einige ehemalige Gefangenen aus der RAF und der Bewegung 2. Juni in einer Solidaritätserklärung schrieben: “Wir kennen die harte Haltung des Staates und seiner Apparate. Wir kennen Zwangsernährung und exzessive Gewalt der Wächter, wir kennen die ‘Koma-Lösung’, das zynisch so genannte ‘Ping-Pong-Spiel’, mit dem man versuchte, uns in einem Zustand zwischen Leben und Tod zu halten in der Hoffnung, dass wir daran zerbrechen”.

Von Anfang an waren es vor allem Menschen aus dem anarchistischen Spektrum, die versuchten, durch Solidaritätsaktionen Druck für die Erfüllung der Forderungen von Dimitris aufzubauen, allerdings nutzte der griechische Staat die Bedingungen, die er durch den Pandemie Ausnahmezustand geschaffen hatte, um diese Aktionen wiederholt mit brutalen Bullenaktionen zu zerschlagen, gleichzeitig häuften sich aber auch die militanten Aktionen, die teilweise koordiniert erfolgten, allein im Großraum Athen gab es über 400 Angriffe auf Banken, Bullenwachen, Fahrzeuge von Cops, Aktionen an den Wohnorten von Mitgliedern der politischen Klasse…

Anfang März gelang es dann erstmals mit Unterstützung zahlreicher Rechtsanwälte, prominenter Intellektueller und Künstlern eine breite Demonstration in Athen durchzusetzen, an der sich viele tausend Menschen beteiligten, und die nicht sofort von den Bullen massiv angegriffen wurde. Dimitris Schicksal bewegte große Teile der griechischen Gesellschaft, beispielhaft sei jene Anekdote wiedergegeben, die Yannis Youlountas auf seinem blog berichtete: “‘Koufontinas zeigt uns das wahre Gesicht der Macht’. Diesen Satz hat gestern eine Bekannte von mir geäußert, eine Dame, die der Familie meines Vaters in Griechenland nahe steht, eine diskrete Nachbarin, die mit uns bisher nie über Politik gesprochen hat. Sie hatte bei den Kämpfen und Solidaritätsaktionen immer distanziert gewirkt, eher passiv vor ihrem Fernseher, wenn wir vorbeikamen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Und dann, ganz plötzlich, trotz der Medienpropaganda über den ‘blutrünstigen Verbrecher, der die Republik bedroht’ (wie von mehreren Ministern dargestellt), äußert sie schließlich zum ersten Mal ihre Empörung: „’ch mag Koufontinas nicht, aber was sie mit ihm machen, ist schrecklich! Können sie ihn nicht ein bisschen in Ruhe lassen?’ und fügt hinzu: ‘Auch ich unterstütze Koufontinas im Angesicht all dieser verkommenen Menschen. Er zeigt uns, wer die wahren Monster sind. In seinem Unglück zeigt uns Koufontinas das wahre Gesicht der Macht.’“

Abend für Abend füllten nun wütende Menschenansammlungen die Straßen Athens, teilweise über zehntausend Menschen gingen in der Hauptstadt für Dimitris Koufontinas auf die Straße. Was aber zugleich, als Prozeß in diesem Prozeß, geschah, war, dass der lange griechische Winter des Ausnahmezustandes von Unten, durch die Straße gebrochen wurde. In Griechenland galten und gelten seit Monaten strengste repressive Regelungen, das Verlassen der Wohnung war nur aus “zwingenden” Gründen gestattet und musste dokumentiert werden, etliche tausend Menschen mussten beträchtliche Geldbußen bezahlen, während die wirtschaftliche Lage für sie immer katastrophaler wurde. Schon die Gedenkaktionen im letzten Jahr zum Jahrestag des Aufstandes an der Polytechnischen Hochschule am 17. November und am 6. Dezember zum Gedenken an Alexis Grigoropoulos waren unter den Bedingungen des Corona Ausnahmezustandes verhindert und zerschlagen worden. Doch nun wendete sich das Blatt, die gesellschaftliche Lähmung wurde aufgebrochen, die brutale Kontrolle von Spaziergängern in einem Park von Athen, bei der einem Menschen der Arm durch die allgegenwärtigen Bullen gebrochen wurde, führte zu spontanen Versammlungen aus denen sich heraus stundenlange Straßenkämpfe mit den Bullen entwickelten. Das Vorhaben der Regierung, dauerhaft Bullen auf den Universitätsgeländen zu stationierten, brachte tausende von Student*innen auf die Straße, auch in anderen Städten wie Thessaloniki kam es zu Krawallen. Tag für Tag wachten nicht nur in Griechenland viele Menschen mit der bangen Frage auf, ob Dimitris Koufontinas noch am Leben sei. Dimitris selber erklärte, er werde seinen Kampf weiter fortsetzen, “er sei bereit, lieber zu sterben, als wie ein Hund zu leben”.

Die zynische Inszenierung der herrschenden Clique wurde unterdessen unbeirrt fortgesetzt, Anträge seiner Anwält*innen bei Gericht wurden abgewiesen unter Hinweis auf die Zuständigkeit der “Zentralen Verlegungskommision”. Als Dimitris nach seiner Reanimation im Krankenhaus auf das Flehen seiner Angehörigen, Ärzte und Rechtsanwalt*innen hin sich dazu entschloss, dass antibiotische Serum, mit dem er aufgrund seiner chronischen Erkrankungen behandelt wird, wieder zu sich zu nehmen, und somit auch etwas Flüssigkeit, was sein Leben um ein paar Tage verlängern würde, traf er diese Entscheidung, weil aus dem Apparat signalisiert wurde, dass eine Entscheidung der “Zentralen Verlegungskommision” noch am selben Abend, spätestens am nächsten Tag zu erwarten sei. Was dann nicht geschah. Erst etliche Tage später bequemte sich diese Kommission, sich mit dem “Fall Koufontinas” zu befassen, mit dem Ergebnis, dessen Ansinnen abzulehnen. Das Kalkül des griechischen Staates stand nackt im gesellschaftlichen Raum: Entweder Unterwerfung und Reue oder Tod. In dieser Situation entschied sich Dimitris, der zu diesem Zeitpunkt erneut dem Tod näher als dem Leben war, seinen Hungerstreik zu beenden.

Er ließ über seine Anwält*innen am 14 März mitteilen:

Solidarität ist die entscheidende Bedingung, die uns in den Kämpfen vereint. Ich danke meinen Freund*innen und Genoss*innen, die sich mit mir solidarisiert haben. Ich danke allen fortschrittlichen Menschen für ihr Mitgefühl, das nicht bloß Sympathie für eine Person war, sondern in einem Moment des Kampfes, gegen eine unmenschliche Kraft. Solidarität und Unterstützung, die gezeigt haben, dass es lebendige gesellschaftliche Kräfte gibt, die sich gegen Willkür, Gewalt und Autoritarismus wehren. Und das gibt neue Hoffnung.

Die herrschende Familie hat gezeigt, wie rücksichtslos sie die Gesetze und die Verfassung, die Rechtsprechung degradiert. Ich belasse es dabei. Sie werden von den Menschen beurteilt, die auf die Straße gehen.

Was da draußen passiert, ist viel wichtiger, als wie es angefangen hat. Angesichts der Wucht dieser Kämpfe erkläre ich meinerseits, dass ich mit Herz und Seele bei euch bin, mitten unter euch.

Wenn wir nun, da unsere bangen Herzen, die Tag für Tag, Nacht für Nacht für Dimitris geschlagen haben, anfangen sich zu beruhigen, da sein Leben vorerst gerettet ist, beginnen wir zu begreifen, was dieser Kampf eines Einzelnen für eine ganze Gesellschaft bedeutet hat. Wir fangen an, das gesamte Bild zu realisieren, das Ausmaß des Schocks und der Lähmung, die infolge des Pandemie Ausnahmezustandes die Gesellschaft befallen hatten, die Unfähigkeit, sich aus dieser Verwerfung, Unterwerfung zu befreien, die Last, die es bedeutet hat, über all die Monate die Luft anzuhalten. Wir sehen, wie im ganzen Land Nachbarschaftsversammlungen entstehen, überall Kundgebungen und Demonstrationen die Plätze und Straßen einnehmen, wir verstehen, dass unsere Todfeinde tagtäglich unsere tiefsten Ängste gefüttert haben und wir keinen Weg gesehen haben, wie wir aus dieser Situation entkommen können.

Bis ein einzelner Menschen, ein gefangener Revolutionär, sein Leben in die Waagschale geworfen hat und uns daran erinnerte wer wir eigentlich sind, zu was wir in der Lage sind. Voller Scham und Demut stehen wir in der Schuld von Dimitris, der uns unsere Menschlichkeit als Geschenk zurückgegeben hat. Der uns daran erinnerte, dass es selbst in den dunkelsten Nächten immer noch Hoffnung gibt auf ein anderes Leben, ein Leben, in dem wir unsere Träume nicht beerdigen oder für staatliche Garantien vermeintlicher Fürsorge meistbietend veräußern. Dass es immer wieder die Tage und Nächte geben wird, an denen wir Geschichte schreiben, dass unsere Würde davon abhängt, dass wir unsere Geschichte nicht vergessen und verleugnen. Dass es allzu menschlich ist Angst zu haben, dass es Mut erfordert, sich zu dieser Angst zu bekennen und sich nicht hinter falschen Argumenten und politischen Phrasen zu verstecken. Dass der eigentliche Sieg dieser Sieg ist, sich selbst treu zu bleiben, es unseren Todfeinden nicht zu gestatten, Herrscher über unsere Herzen und Seelen zu werden, in diesen, jenen Tagen, da unsere Körper uns nicht mehr selbst gehören, sondern Teil einer spekulativen Verwertungslogik geworden sind, die vorgibt um unser Wohl, unsere Gesundheit besorgt zu sein, während sie in Wirklichkeit versuchen, sich eine Allmacht zu verleihen, nach der sie sich schon so lange sehnen.

Für all das, all diese Erkenntnisse, das Erfahrene, für all die Liebe, die wir wiedergefunden haben, denn all unsere Revolten waren nie etwas anderes als unmittelbare Regungen unserer Herzen, danken wir Dimitris Koufontinas. Mögen wir Wege finden, seine Gefangenschaft zu brechen, oder zumindestens ein Kräfteverhältnis herzustellen in der Lage sind, die seine Haftbedingungen erträglicher machen.

Es folgt ein Auszug aus der Autobiografie von Dimitris Koufontinas, in der er seinen persönlichen und politischen Weg und die Geschichte des bewaffneten Organisation 17. November beschreibt, der er lange Jahre angehörte und für deren Taten er die politische Verantwortung übernommen hat. Das Kapitel wurde uns von unseren Gefährten von ‘Bahoe Books’ freundlicherweise zur Verfügung gestellt, die das Buch auf deutsch verlegt haben. Auch dafür möchten wir uns bedanken. S.L. für Sunzi Bingfa


Die Anfänge des 17. November

In einer ELA-Zelle entwickelte sich schon sehr früh eine andere, «weiterführende» Fragestellung. Diese Zelle hatte sich im Spätsommer 1974 gebildet. Sie wurde organisationsintern besonders geschützt und nahm am Gesamtzusammenhang ELA kaum teil – zu den Koordinationstreffen der Zellen schickte sie nur einen Delegierten. Die Ergebnisse ihrer Diskussionen betrafen sowohl das Organisatorische des ELA wie auch deren Formen der Praxis. In organisatorischer Hinsicht forderte sie eine größere Selbstdisziplin und Bereitschaft für eine illegale Organisation, sah jedoch keine Notwendigkeit das Organisationsmodell zu verändern. Als Gruppe arbeitete sie nach dem Konsensprinzip. Hauptsächlich unterschied sie sich durch das ihrer Ansicht nach erforderliche Aktionsniveau der politischen Intervention. Sie glaubte, dass die Aktionen, wie sie ELA befürwortete, nicht den Notwendigkeiten der bewaffneten Propaganda entsprachen. Weder wurden sie der Volksstimmung gerecht, die eine Bestrafung der Schuldigen für die großen Verbrechen der Diktatur verlangte, noch durchbrachen sie effektiv das Monopol der Staatsgewalt und gaben keine adäquate Antwort auf die Gewalt des Staates, des Imperialismus und des Kapitalismus. Folglich meinte diese Zelle, dass ELA nicht genügend dazu beitrug, die Arbeiter und die Jugend auf eine wirksame alltägliche und langfristig große Konfrontation vorzubereiten. ELA trüge nicht entschlossen genug zur vielfältigen Vorbereitung bei, deren Horizont das bewaffnete Volk als einzige und notwendige Voraussetzung für die Volksmacht und den Sozialismus sei. Die Ziele der revolutionären Organisationen seien nur durch «große» Aktionen zu erreichen.

Diese Auseinandersetzung war keine «technische», es ging nicht nur um kleine versus große Aktionen der Gegengewalt. Selbst wenn es damals als «technische» Frage diskutiert wurde, ging es in theoretischer, politischer und organisatorischer Sicht um zwei komplett unterschiedliche Auffassungen. Die These, dass eine Organisation der Volksgegengewalt mit ihrer Praxis auf zentrale politische Interventionen abzielen müsse und ihre Aktionen politische Ereignisse erzeugen und die Machtfrage stellen müssten – die logisch zu «zwei Machtpolen» führen würde, hatte Konsequenzen, die zu anderen Formen von Organisierung und Handeln führten: Es ging um eine geschlossene und «engere» Organisation, die auf einer anderen politischen Ebene der Kampfformen agieren würde, deren Priorität eindeutig der bewaffnete Kampf war. Ihr Schwerpunkt wäre Guerilla. Wir müssten militant und entschlossen durch starke Aktionen den «Fokus», den revolutionären «Herd» entzünden und dem «Fokus»* würde der Träger, die Partei entspringen… Diese Vorstellung entsprach dem Geist der Erklärung der Trikontinentale von Havanna.

Doch steckte diese Ansicht in jener ELA-Zelle noch in den Kinderschuhen. Genauer gesagt versuchte sie gerade ihren ersten Schritt zu machen, der in Wirklichkeit ein Sprung war. Ein riesiger Sprung im Denken über die bis dahin bekannten Wege des revolutionären Prozesses. Ein qualitativer Sprung auch hinsichtlich der Vorschläge, die man üblicherweise bei den Koordinationstreffen hörte: Aktionen, die die Organisation – ELA – mit den Nachbarschaftskämpfen, den Kämpfen an den Arbeitsstellen und Universitäten, mit allen politischen Kämpfen verbinden würden. Aktionen «niedriger» Gewalt mit einfachen Mitteln: Benzin für Brandanschläge, ein wenig Sprengstoff; «Massenaktionen» wie die Änderung eines Straßennamens, das Verprügeln eines Spitzels, Solidarität mit einem Streik und schließlich Aktionen zur Gegeninformation.

Der konkrete Aktionsvorschlag jener Zelle hätte einen gigantischen Sprung über den üblichen Gang der Dinge in der Organisation hinaus bedeutet: Es war die Liquidierung des Folterers Theofilogiannakos*.

Theofilogiannakos repräsentierte in den Gedanken derer, die die Gründergeneration des 17N bilden sollten, viel mehr als einen wichtigen Folterer der Junta. Er stand für die Kontinuität des repressiven Staats, für die Verräter und Tagmatasfalites, für die parastaatlichen Banden und die Folterer. Der Vorschlag, ihn zu töten, war, vielleicht auch unbewusst, Teil und Weiterführung der kollektiven – und persönlichen – kämpferischen Erinnerung.

Die Idee, einen wichtigen Kader der Junta umzubringen, war nicht neu in der revolutionären Szene. Sie kam seit jenem Tag im Jahr 1968, an dem der Juntachef nur um ein Haar der strafenden Hand von Panagotis, des Vollstreckers des Volkswillens, entkam, immer wieder auf.

Aus diesen Gründen hielten die ersten Genossen des 17N diese Tat für gerecht, legitim und zu einer revolutionären Organisation passend. Allerdings informierten sie aus Sicherheitsgründen nicht ELA, von dem sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits entfernten.

Dieser Folterer der EAT-ESA musste aufgespürt und seine Wege ausgekundschaftet, die Maßnahmen, die er zu seinem persönlichen Schutz traf, erkannt werden. Das war alles andere als einfach, da er immer aufpasste. Ihn schützte die Angst eines Täters, der aus sicherer Position absolute Macht über Leben und Sterben seiner ungeschützten Opfer gehabt hatte.

Danach musste die Aktion geplant werden, Autos enteignet und dauernd bewegt werden, damit sie nicht gefunden würden: Noch etwas, das nicht einfach war, da man immer wieder neue praktische Probleme vor sich hatte, die gelöst werden mussten. Diese ganze Prozedur nahm einige Zeit in Anspruch. Endlich wurde der erste Versuch gestartet, doch die Koordination der Bewegungen der Gruppenmitglieder stieß auf unerwartete Hindernisse und die Aktion wurde gestoppt. Beim zweiten Versuch wohnte der Folterer nicht mehr dort. Vielleicht wäre der Lauf der bewaffneten Bewegung in Griechenland ein anderer geworden, hätte diese Aktion damals stattgefunden – ein paar Monate nach dem Zusammenbruch der Junta, als das Volk am Kochen war, und die radikalisierten Jugendlichen ihre revolutionäre Identität suchten.

Jahre später diskutierten wir als 17N die Veröffentlichung eines kleinen Buches ähnlich den Actas Tupamaras – Wir, die Tupamaros, mit den wichtigsten Aktionen der Organisation. Damals sprachen wir viel über diese Aktion, ihre praktischen Einzelheiten und ihre politischen Dimensionen – und natürlich auch über unsere fehlenden Erfahrungen.

Das Fehlen elementarer Kenntnisse vom Autoklauen zum Beispiel. Bis sie es schafften, eine Tür zu öffnen, einzusteigen und den Motor zu starten, vergingen sehr viele Versuche und Nächte des Herumirrens auf den Straßen. Und als sie es an die vorgesehene Stelle fuhren, um die Nummernschilder zu wechseln, merkten sie, dass sich die rostigen Schrauben mit ihrem Werkzeug nicht lösen ließen. Nach Stunden, es wurde bereits hell, machten sie einen dieser antikonformistischen Züge, die sozusagen die interne «Schulung» der Organisation waren, der einzigartige «Stil» des 17N: Sie beschlossen, das Auto zurückzubringen, das richtige Werkzeug zu kaufen und, falls die Zeit reichte, es am selben Tag oder dem nächsten nochmal zu holen.

Sein Besitzer dürfte am Morgen an seinem Erinnerungsvermögen gezweifelt haben: Das Auto stand ein bisschen weiter weg, als er gedacht hatte, denn in der Nacht hatte es nur noch einen anderen Parkplatz gegeben. Die Genossen warteten derweil immer noch voller nächtlicher Anspannung, Staub und Dreck mit vor Müdigkeit geröteten Augen darauf, dass die Eisenwarenhandlung in Monastiraki öffnete. Der Ladenbesitzer gab ihnen die Zange, die Blechschere, den Metallbohrer… und zwinkerte schelmisch mit einem Auge: «Also, na dann frohes Schaffen!»

Doch es war diesem Auto nicht beschieden, alt zu werden. Als sie es geholt hatten und nach allen Schwierigkeiten endlich die Nummernschilder ausgetauscht hatten, mussten sie feststellen, dass kaum Benzin im Tank war. Zum Glück fanden sie im Kofferraum einen Kanister mit Benzin – nein: der nach Benzin roch. Erst als das Auto mitten auf der Straße die Weiterfahrt verweigerte, merkten sie, dass es doch kein Benzin gewesen sein konnte…

Beim nächsten Auto, das sie nach etlichen Versuchen klauen konnten, verbanden sie die Zündkabel. Der Genosse, der diese Kabel-Bypass-Operation mit Wollhandschuhen und ohne einen Helfer, der ihm den Schweiß abtupfte, durchführte, hob plötzlich die Augen, weil er einen Zuschauer spürte. Ein Pope hatte sich an das Fenster des Beifahrers gebeugt und schaute ihm mit einem kritisierenden «Du sollst nicht stehlen»-Blick zu. Den ganzen Fluchtweg lang hielt der Genosse die Kabel zusammen, obwohl seine Finger fast verbrannten. Solche und dutzende andere Probleme bremsten, egal wie sehr die Erinnerung an die vielen Genossen, die gefoltert wurden, und die Demoparolen «Gebt die Junta dem Volk», «Tod den Folterern», «ESA SS Folterer» zur Eile antrieb. Hinzu kam die provozierende Straflosigkeit der Folterer durch den «Europäer» und «Volksanführer» Karamanlis. Für ihn war der Fortbestand des Staats wichtiger, er brauchte Experten für die «Kommunistenverfolgung». Er konnte den staatlichen Repressionsinstitutionen nicht einmal beibringen, dass Folter von nun an bestraft werden würde.

Bei der Gerichtsverhandlung gegen Theofilogiannakos und seine Mitläufer in der EAT-ESA lachten die Folterer, als ihre Opfer über die Spuren der bestialischen Gewalt aussagten. Spiros Moustaklis kam in einem Rollstuhl, sie hatten sein Gehirn auf ewig zerstört. Alekos Panagoulis sagte knapp und ehrlich vor Gericht: «Nur wenn es Gerechtigkeit gibt, wird Selbstjustiz vermieden werden.» Die Richter und die Staatsanwälte hatten sieben Jahre lang der Militärdiktatur gedient, sie hörten den Prahlereien Theofilogiannakos’ verständnisvoll zu – er hätte nur «seine Pflicht gegen den Kommunismus getan». Das Gericht ließ keine Gerechtigkeit walten und der oberste Folterer wurde auch nicht von der Volksjustiz gerichtet … Bei Mallios würde sie diesen Fehler nicht begehen. Auch nicht bei Mpampalis.

Die Organisation arbeitete systematisch gegen die Folterer. Sie sammelte auf diverse Arten Informationen und baute ein Archiv auf. Sie fand einen schlauen Weg sie zu fotografieren. Durch die Fotos wurden sie identifiziert. Sie mussten bei jedem absolut sicher sein. Wenn es nur den geringsten Zweifel gab, holten sie eine zwei- oder dreifache Bestätigung ein. Einmal verkleidete sich ein Genosse als Reporter und «interviewte» einen Kämpfer, der sehr stark gefoltert worden war, und zeigte ihm ein «Album» mit den Fotos der Folterer. Unter dem Foto des einen, bei dem sie sich sicher sein wollten, dass er wirklich die besagte Person war, hatten sie den Namen eines anderen Folterers geschrieben. Der alte Kämpfer – er lebt seit Jahren nicht mehr – strich den falschen Namen durch und schrieb den richtigen hin. Ich habe die Seiten mit den Fotos und der handschriftlichen Korrektur selbst gesehen.

Die griechischen Kapitalisten gaben die Folterer nicht der Wut des Volkes preis. Sie wurden für ihre Dienste durch hohe Renten oder durch Stellen als «Sicherheitsbeauftragte» in ihren Unternehmen belohnt, wo sie die Arbeiter terrorisierten. Die Reeder waren da ganz vorn dabei: Viele Folterer fanden eine glückliche Zuflucht in den Firmen des superreichen Öl-Tycoons Giannis Latsis in Saudi-Arabien und anderswo.

Der nächste Aktionsvorschlag war noch wichtiger. Die wenigen Mitglieder des eben entstandenen 17N spürten, dass in der Geschichte der Bewegung und der Geschichte generell noch eine Rechnung offen ist: Sie planten, die meistgehasste Person im ganzen Land zu entführen, den CIA-Repräsentanten in Griechenland! Sie würden ihn so lange wie nötig gefangen halten, verhören, und die Ergebnisse des Verhörs dem Volk und der Geschichte übergeben. Und der Abgesandte der CIA weiß sehr viel. Über Griechenland und dessen Umfeld – das Land spielt für die Interventionen der USA in der ganzen Region eine wichtige Rolle. Er weiß viel über die revolutionären Bewegungen der ganzen Welt, nicht nur der Länder, in denen er die schmutzige konterrevolutionäre Arbeit der CIA organisiert hatte.

Speziell erwarteten sie von dem Verhör, dass es Licht auf die neuere Geschichte Griechenlands werfen würde, schließlich war das Land seit 1947 ein Protektorat der USA. Ein wirtschaftlich, politisch, kulturell und militärisch unterlegenes Land: Militär und Polizei standen im Endeffekt unter dem Befehl der militärischen und polizeilichen Autoritäten der USA, die Geheimdienste waren Zweigstellen der CIA. Der CIA, die ein ganzes Netzwerk geflochten hat, um die finanziellen und politischen Entscheidungen zu kontrollieren. Sie hat Minister und Ministerpräsidenten als Agenten rekrutiert, Ministerialbeamte, Offiziere, Unternehmer, Intellektuelle, Künstler. Sie hat Akten über alle angelegt. Die CIA steckte hinter allen Verschwörungen und allen Verbrechen gegen das griechische Volk.

Die Entführung des CIA-Repräsentanten würde eine Aktion von höchster Wichtigkeit sein, mit weltweiter Resonanz, eine äußerst politische Aktion. Sie müsste bis ins kleinste Detail vorbereitet werden, alle Möglichkeiten gründlich untersucht werden, alle Konsequenzen, die eine längere Gefangennahme haben könnte. Monatelange fieberhafte Vorbereitung, der Druck war nur schwer auszuhalten. Manch einer kam nicht damit klar und zog sich zurück… Die Kräfte waren minimal, sie reichten nicht, weder für die Entführung, noch für die Bewachung des Chefagenten, noch für das Verhör und alle erforderlichen Unterstützungsaktionen. Sie spielten mit dem Gedanken sich an ELA zu wenden, doch schätzten sie, dass die nicht positiv antworten würde. Die spätere Entwicklung bestätigte sie.

Der Entführungsplan wurde daher letztlich fallengelassen. Mit ihm wurde auch das Haus aufgegeben, das als «Volksgefängnis» hätte dienen sollen. Die Umbauarbeiten vieler Monate waren umsonst gewesen.

Stattdessen wurde die Erschießung des CIA-Agenten beschlossen. Sein Wohnsitz war einem Teil der revolutionären Bewegung von früher bekannt. Während der Aktionsplanung wurde der CIA-Repräsentant St. Holts aber aus Griechenland versetzt und seit dem 30. Mai 1975 blieb die Villa im Athener Vorort Psychiko geschlossen. Sein Nachfolger wurde einige Tage später gesichtet. Er benutzte das gleiche Auto mit den grünen Diplomatennummernschildern, ΔΣ 3 131, allerdings mit einem anderen Fahrer. Während kleinerer Umbauarbeiten an seiner Dienstvilla blieb er in der Villa seines Stellvertreters P. East, die ein Stück weiter an derselben Straße lag.

Die Genossen mussten sich nun vergewissern, dass es sich tatsächlich um den neuen Repräsentanten handelte, und dessen Namen herausfinden. Das Problem wurde durch das «Ei des 17N» gelöst, einen sehr einfachen, aber intelligenten Trick. Der Hochmut der Amerikaner und ihre Verachtung des griechischen Volkes und der revolutionären Organisationen konnten ausgenutzt werden, weil sie glaubten, dass es keine entschlossenen Kämpfer gäbe und sie deshalb auf wesentliche Sicherheitsmaßnahmen verzichteten. Vielleicht glaubten sie auch selbst an den Mythos der «unsichtbaren» allmächtigen CIA. Die Genossen nutzten auch die Widersprüche der Funktionsweise der amerikanischen Geheimdienste, um den vollen Namen und die tatsächliche Eigenschaft des Ersten Sekretärs der Botschaft zu erfahren – des Abgesandten der CIA, Richard Wells. Wells war nicht neu in Griechenland. Er hatte die griechische Sprache während seiner ersten Amtszeit von 1952 bis 1960 perfekt gelernt. Es waren die Jahre, in denen die amerikanische Vorherrschaft in Griechenland etabliert wurde, er diente bei der amerikanischen Militärmission JUSMAG, die in militärischer und politischer Hinsicht eine Schlüsselrolle innehatte. In diesen neun Jahren rekurrierte oder «manipulierte» Wells viele griechische Politiker und Offiziere, die das Wohlwollen der Supermacht-Vertreter suchten, um Karriere zu machen. Er spielte eine wichtige Rolle beim Entwurf der Pläne «Perikles» und «Prometheus», die bei den «Wahlen der Gewalt und des Betrugs» von 1961 und dem Militärputsch 1967 eine Rolle spielten.

Von 1961 bis 1964 war er für die CIA auf Zypern. In seiner Position unterstützte er den US-Plan für eine Teilung der Insel und die geplante Achse Israel – Zypern – Griechenland. 1964, nach den Angriffen auf die türkischen Zyprioten, die er für die CIA auf der Insel organisiert hatte, ging er nach Lateinamerika. Dort nahm er an führender Stelle mehr als zehn Jahre lang an dem konterrevolutionären CIA-Plan für den ganzen Subkontinent teil. Zehntausende «Verschwundene» und abertausende Gefolterte sind die blutigen Spuren, die er in Südamerika hinterließ.

1975 kam die CIA zu der Ansicht, dass Griechenland und die umliegende Region seine «Expertise» bräuchten. Mitte Juni 1975 kam er zur Verabredung mit seinem Schicksal nach Athen.

Die Genossen observierten seine Bewegungen sehr vorsichtig und mit ganz unterschiedlichen Methoden. Unter anderem nutzten sie die lokale Buslinie von Psychiko. Der Bus fuhr eine große Runde, und es kostete sie viel Zeit, bis sie mit den Gewohnheiten der Fahrgäste vertraut waren ohne den misstrauischen Kontrolleuren aufzufallen.

Wells ging am Abend selten aus. Die erste Aktion des 17N sollte aus Sicherheitsgründen in der Nacht stattfinden, die Dunkelheit des Vororts sollte sie schützen. In den zwei Monaten vor der Aktion gingen sie nicht mehr nach Psychiko. Wells war der Typ Agent, der keine Leibwächter hatte, weil die auf ihn aufmerksam gemacht hätten. Zu diesem Typus gehörten auch ein paar seiner Nachfolger, die meistens schlichte europäische Automodelle benutzten. Wells’ Fahrer war kein Leibwächter, es wurde beschlossen, ihm nichts anzutun.

Der Aktionsplan stand. Die Rolle jedes einzelnen wurde festgelegt: Wer fahren würde, wer Deckung geben, wer schießen würde. Als der Tag der Aktion dämmerte musste man aber feststellen, dass sich Theorie und Praxis unterscheiden. Je näher das Auto Psychiko kam, desto langsamer fuhr der Fahrer. Dann hielt er an. Er hatte politische Meinungsverschiedenheiten mit der Aktion, der Organisation…

Bei militanten Aktionen ist es so, dass alle Teilnehmer, besonders diejenigen, die eine exponierte Rolle übernehmen, mehr oder weniger Angst haben. Wir haben Angst. Die Angst wird durch logische, innerliche Bearbeitung, durch individuellen und kollektiven Umgang von jedem einzelnen überwunden. Manche schaffen es nicht. Wenn sie ehrlich dazu stehen – niemand ist ihnen deswegen böse oder lacht über sie – bleiben sie meist als Unterstützer in der Organisation; selbst, wenn sie sich zurückziehen, helfen sie immer auf die eine oder andere Art. Die aber, die «Differenzen» oder «politische Meinungsverschiedenheiten» vorgeben, um ihre Angst zu verstecken, können sich in Gegner der Organisation verwandeln.

Am Abend des 23. Dezembers 1975, gegen 22.30 Uhr, fuhr ein grüner Simca mit geknacktem Lenkradschloss und einem Fahrer, der keine «Meinungsverschiedenheiten» hatte, an das Auto von Wells heran, das vor dem Garten der Villa gehalten hatte. Der Genosse würde mit einem alten .45er Colt schießen, einer geschichtsträchtigen Pistole, die an Kämpfen und Revolutionen teilgenommen hatte… Er hatte unzählige Mal geübt, aus bestimmtem Abstand, vor ihm stehend das Bild des legendären Wells. Deshalb rief er auch «Hände hoch!», so dass er den Abstand und die Position wie beim Üben vor sich hatte. Um die Kraft zu finden den Abzug zu drücken, dachte er – wie er Jahre später erzählte – an die unzähligen Opfer der CIA in Griechenland, Zypern, Lateinamerika… Mit drei Kugeln beendete er eine blutige Laufbahn.

Der Genosse, der mit der Maschinenpistole in der Hand die Deckung übernommen hatte, konnte es nicht fassen, dass die Aktion, die sie so viele Monate lang vorbereitet hatten, tatsächlich stattgefunden hatte. Er hatte wie beim Übungsschießen auf kleine Explosionsgeräusche gewartet, aber die drei Schüsse waren von den Bäumen und den Büschen und der Nacht verschluckt worden, wie in einer zusammengepressten oder auseinandergezogenen Zeitverzerrung. Doch selbst als dumpfe Geräusche holten sie ihn in die Realität zurück. Er folgte den beiden anderen in einem gewissen Abstand zum grünen Simca. Freude und Erleichterung überfluteten ihn. Er blieb mitten auf der Straße stehen. Er hob die Hand in einem dicken, wollenen Handschuh und streckte die Maschinenpistole in die Höhe. Er jubelte. Und hörte den Jubel an Hunderten Orten in aller Welt. Ein Auto bog um die Ecke. Er wurde von dem Scheinwerferlicht erhellt: Ein Mann voller wilder Freude, der eine Maschinenpistole gen Himmel hält. Das Auto bremste, hielt. Dann fuhr es seine Kurve zu Ende und verschwand. In dieser Nacht bekam die Gruppe, die ein neues und anderes Kapitel der revolutionären Bewegung aufschlug, offiziell ihren Namen: Revolutionäre Bewegung des 17. November. Noch in derselben Nacht wurde eine vierseitige Bekanntmachung, die mit «Der Kampf geht weiter» endete, in ein paar proletarischen Vierteln verteilt und an viele Zeitungen verschickt, auch Reporter wurden angerufen, um die Verantwortung zu übernehmen. Die Presse wurde informiert. Die Regierung wurde informiert. Die Parteien wurden informiert. Doch von weit oben kam ein Befehl: Verdeckt es. Verdreht es. Es darf nicht bekannt werden. Die Zeitungen verfassten fantasievolle Szenarien. Die Parteien redeten von einer Abrechnung zwischen Agenten.

Zwei Tage später verschickte der 17N eine neue Bekanntmachung. Auch sie wurde von der Dunkelheit der Informationssperre und Sprachregelung «Provokateure» verschluckt. Die Zelle, die später den 17N bilden sollte, hatte ELA bereits im Frühling 1975 verlassen, aber an dem Tag, an dem die zweite Bekanntmachung veröffentlicht wurde, informierte ein Genosse einen sehr engen Kreis des ELA offiziell, wer die Aktion durchgeführt hatte. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Sehr. Christos Kassimis war einer, der wütend wurde. Doch hatte er die Größe, später, besonders nach der Erschießung von Mallios, voller Wärme über die Genossen des 17N zu sprechen.

Ein paar Tage später bat der 17N über seine Kontaktperson den ELA 5.000 Kopien der ersten Bekanntmachung zu Wells zu drucken und zu verteilen. ELA weigerte sich und bot einen handbetriebenen Vervielfältiger an. Der 17N wollte ELA seine Ansichten schriftlich erklären und ein Vertreter der Organisation las einen mehrseitigen Text mit Thesen des 17N, die einen Plan für die Zusammenarbeit enthielten, auf einem Delegiertentreffen der ELA-Zellen vor. Bei diesem Treffen wurden wie sonst auch alle Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Zum Beispiel waren sowohl der Vertreter des 17N wie auch die Vertreter der Zellen vermummt, so dass sie sich untereinander nicht erkennen konnten. Der ELA beschloss sein Aktionsprogramm weiterzuverfolgen und seine Beziehung zum 17N auf der Ebene des gegenseitigen Informationsaustausches zu belassen. Der 17N druckte und verteilte die Bekanntmachung in den Arbeitervierteln weiterhin. Per Post und sonst wie ging sie an ausländische Zeitungen und Korrespondenten ausländischer Medien. Die Mauer des Schweigens, die die CIA weltweit errichtet hatte, blieb undurchdringlich. Wenig später wurde ein ausführlicher Text mit Details der Aktion gegen Wells an eine Person mit großem Prestige in französischen philosophischen und literarischen Kreisen übermittelt, die heute noch anonym bleiben soll. Aufgrund der Bedeutung und der Glaubwürdigkeit dieser Person gelangte der Text zur Zeitung Liberation. Doch er blieb in den Tiefen ihres Tresors liegen. Neun Monate lang wurde er verborgen, bis er nach der Aktion des 17N gegen den Folterer Mallios das Licht des Tages erblickte. Die Nachforschungen des 17N über die Folterer der EAT-ESA und der Staatspolizei in der Mpoumpoulinas-Straße liefen die ganze Zeit über weiter. Endlich fanden sie einen der Schlimmsten: Mallios. Er war der Chef der Folterer bei der Staatspolizei. Er hatte Spaß daran, die Kämpfer, die durch die Hände seiner Geheimpolizisten gingen, persönlich zu foltern. Er war so dreist und feige, vor Gericht zu behaupten, es hätte keine Folter gegeben: Alles sei eine Verschwörung der Kommunisten, um das Ansehen der Polizei in Frage zu stellen. Die Richter, die der Diktatur ähnlich gut gedient hatten, schützten dieses «Ansehen» natürlich: Er erhielt eine Geld-, beziehungsweise Ersatzfreiheitsstrafe von zehn Monaten. Wie viel kosteten die Gewalt, die Schläge, die Elektroschocks? Wie viele Drachmen für jede Wunde, wie viele Münzen für jeden Schrei nicht aushaltbarer Schmerzen? Acht Folterer, die mit Mallios vor Gericht standen, wurden freigesprochen. «Unschuldig» lautete auch das Urteil über Mpampalis.

Am 13. Dezember 1976 begegnete der vom Dienst befreite, aber im Geheimen aktive Ratgeber der «demokratischen» Staatspolizei, der Chef der Folterer Mallios, der strafenden Hand der Justiz des Volkes. Derselbe alte .45er-Colt, mit dem auf Wells geschossen worden war, verletzte ihn schwer. Dem Genossen, der das Fluchtauto fuhr, hallten die Schreie der Opfer des Folterers in den Ohren und er versuchte ihn zu überfahren. Doch dadurch verdeckte er ungewollt die Sicht des Genossen, der erneut schießen wollte. Mallios wurde erst mit Verspätung ins Krankenhaus gebracht. Nur im Kleingedruckten einer Zeitung stand der Grund dafür: Als die Fahrer der Autos, die anhielten, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, von den Anwohnern erfuhren, wer er war, fuhren sie weiter…

Viele Kilometer entfernt, in dem Dorf Terpni bei Nigrita in der Region Serres, inmitten bitteren Staubes, der aus den Tüchern mit den Stapeln trockener Tabakblätter quillt, wurde die Bitterkeit in der Seele meines kommunistischen Opas erleichtert: «Enkelsohn, unsere Leute haben es getan. Kinderchen, die gefoltert wurden, haben ihn erschossen.» Der Instinkt der einfachen Leute war der Propaganda der Regierung und der Parteien weit überlegen. Lass die Parteien ruhig reden, unter ihnen auch seine eigene. Opa hörte nur auf die Freude in seinem Herzen: Die Orthodoxie ist von der Häresie vernichtend geschlagen worden…

Als ich später die einfache Bekanntmachung des 17N las, war es ein Satz, der mich gefangen nahm und lange Zeit fesselte: «Die Straffreiheit der ‹Dosilogoi› wird sich nicht wiederholen.» Tatsächlich war Griechenland das einzige Land Europas, in dem die Kollaborateure der Nazis, die Dosilogoi, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht bestraft wurden.

Diese Worte erschütterten mich. Wie ein Schlag auf das Gewissen, wie ein Lichtstrahl im Verständnis der Geschichte, der Seele des Volks, meiner selbst. Es gibt Momente in der Geschichte eines Volkes, in denen eine einzige Tat, ein einziger Satz ganze Areale in den Tiefen seiner Seele aktiviert, die scheinbar vergessen waren. Wie ein Musikinstrument, das staubig im Lauf der Zeit und der Gewohnheit in der Ecke steht, aber von einer einzigen Note neu gestimmt wird, einem weit entfernten Ton. Es pulsiert, erwacht zum Leben und fordert seine Rechte. Ein Satz: «Es wird sich nicht wiederholen».

Mallios war kein zufälliger Folterer, keine soziale oder historische Ausnahme. Er repräsentierte die härteste repressive Form der griechischen Geschichte. Mallios war ein Verräter, ein Dosilogos, ein Kapuzenträger-Denunziant während der Besatzung, ein Kollaborateur, der Tagmatasfalitis, der Paotzis, der Folterer von Makroniso, ein Parastaatlicher, der Mörder von Lamprakis, der Killer von Petroulas. Mallios selbst, der Chef der Folterer der Junta, der im Nachhinein als inoffizieller Ratgeber der «demokratischen» Staatspolizei fungierte. Der später in den USA ausgebildete Vorsitzende der Antiterroreinheit, der folternde Staatsanwalt, dem Orden verliehen wurden…

Derjenige, der unsere Großväter, unsere Väter, uns selbst schlug. Doch nun hatten wir geantwortet. Wir hatten ein wenig von unserem Blut zurückerobert. So wurde allmählich die Verbindung zwischen der revolutionären Organisation und dem Volk geknüpft, so wurde das Gewebe der kollektiven kämpferischen Erinnerung aufs Neue gesponnen, so wurde der Faden der Kontinuität der revolutionären Tradition wieder eingefädelt. So entstand wieder das Gefühl für die Geschichte.

Ungefähr 25 Jahre nach der Liquidierung des britischen Militärattachés durch den 17N erklärte ein englischer Offizier in London: «Seit 1945 war in Athen kein englischer Offizier mehr getötet worden.» Sie fühlten sich historisch als Kolonialmacht. Wir wollten die Wiederherstellung des historischen Denkens der Revolte.

Die revolutionäre Bewegung fordert die Revolte des Volkes. Das Volk fordert zuerst, dass die revolutionäre Bewegung Rache nimmt. Für die Jahre, in denen es blutete, erniedrigt und gedemütigt wurde. Es fordert Rache für unser vergossenes Blut. Es fordert Gerechtigkeit.

Wir wollten die Revolution. Die große Rache der Träume. Die wichtigste Aufgabe der Justiz des Volkes. Wir schrieben und beschrieben den Weg, der uns dorthin führen würde.

Im April 1977 verfasste der inzwischen auf festen Füßen stehende 17N einen wichtigen Text. Die Zeitungen gaben ihm den treffenden Namen «Manifest ’77». Ich schnitt ihn aus der Zeitung aus und klebte ihn in ein Heft. Ich las ihn immer wieder. Ich stimmte mit allem überein.

Obwohl er erst im April 1977 erschien, deklarierte er die Grundthesen des 17N. Das heißt, dass dieser Text dem Lipasmata-Text von 1975 gleichgesetzt werden kann: Ein Text der ersten Phase der griechischen Stadtguerilla, ein Text der Radikalität der Metapolitefsi. Er wurde an einem Wendepunkt geschrieben, dem Epochenwechsel jener Periode, die ich als Ende der Metapolitefsi verstehe. Es mag sein, dass die Besonderheiten des 17N und sein weiterer Weg nicht zu einer direkten Reflexion der neuen soziopolitischen und bewegungsspezifischen Gegebenheiten führten, so wie es stärker bei ELA der Fall war, doch würde auch der 17N bald in eine nächste Phase übergehen.

Dieser Text schaute in die Zukunft, doch handelte er von einer Epoche, die schon zu Ende ging. Er hatte sowohl einen Wert als revolutionärer Text, wie auch als erste Thesenproklamation. Für mich hatte er einen speziellen Wert, da er – wie der Lipasmata-Text – dazu beitrug, mich als Stadtguerillero zu formen. Da ich mit seinen Thesen damals absolut einverstanden war. Da ich zum größten Teil noch heute einverstanden mit ihm bin. Da ich morgen ebenso einverstanden mit ihm sein werde…

Der Text beginnt mit der These, dass unser Land absolut keine Chance auf einen friedlichen Weg zum Sozialismus hat. Dies bestätigte nicht nur die Erfahrung der Unidad Popular Allendes, sondern auch unsere griechische Erfahrung. Weil die offizielle Linke den sozialen Umsturz nicht wirklich will, stützt sie das politische System. Deshalb verleumdet sie alle militanten Aktionen, anstatt ihnen mit politischem Dialog und Kritik zu begegnen. Ob Militanz massenhaft wie am 23. Juni 1975 oder 25. Mai 1976 usw. oder bewaffnet auftritt, sie benutzt dieselben eingefahrenen Charakterisierungen wie «Provokateure» oder «suspekte Kräfte» usw.

Wenn die Kritik an der offiziellen Linken im Text von 1977 leicht war, so war die Kritik an der radikalen Linken eher schwach. Eine Schwäche, die sich in den nächsten Jahren fortsetzte. Wir unterschätzten die radikale Linke. Dabei kamen von dort viele Aktionen der Selbstorganisation und der Konfrontation, militante Jugendbewegungen, die siegreich kämpften, ideologisch disziplinlos mit Kritik am bürokratischen «realexistierenden Sozialismus», Solidaritätsaktionen mit den Verfolgten usw. Von dort kam 2002 ein kleines, aber wichtiges Stück der Solidarität, im schwarzen Sommer der Verhaftungen.

Obwohl die Kritik an den Positionen der radikalen Linken im Text von 1977 hart war, hatte sie damals eine richtige Basis. Die beiden ersten Aktionen des 17N – Wells und Mallios – stellten speziell die Frage nach der Organisation der Gegengewalt von unten. Als Antwort der radikalen Linken kamen Verurteilungen und Verdrehungen der Ansichten der Organisation, oder arg simple Charakterisierungen wie «individueller Terrorismus» usw. Die wenigen Ausnahmen passten sich im Lauf der Zeit meist der radikalen Linken insgesamt an. Auf den Kern der aufgeworfenen Frage, ich meine damit die vielseitige politische und materielle Vorbereitung der Selbstverteidigung und die Förderung einer militanten vielfältigen Bewegung entlang einer konfrontativen Linie des Bruchs, reagierte man nur mit simplen und veralteten Sprüchen.

Der Hauptbeitrag des Textes drehte sich für mich um die Frage der Kombination der Kampfformen und der strategischen Richtung des «Volkes in Waffen», wie sie aus der Erfahrung der Pariser Commune abgeleitet wurde. Er bestimmt, dass neben den klassischen auch die bewaffneten Kampfformen entwickelt werden müssen. Und dass die Entwicklung aller Aktivitäten die Einheit der revolutionären Kräfte und den Aufbau der Partei zur Folge haben würde. Die Kombination vieler Aktionsformen ist für Revolutionäre prinzipiell akzeptierbar, der Text erwähnte die Unterstützung der Guerilla durch Lenin, die Partisanenaktionen, wie er sie nannte, und solche Kombinationen wurden in der Vergangenheit von den revolutionären Bewegungen in unserem Land wie auch in anderen Ländern benutzt. Der Text verneinte nachdrücklich die Beschuldigung, dass «wir anscheinend nur für die illegale bewaffnete Aktion sind» und gegen legale Massenaktionen. Außerdem erklärte der 17N seit seinem Text von 1975, dass die Entwicklung der revolutionären Bewegung eine dialektische Einheit von Massenmobilisierung und Militanz sei.

Der letzte Satz des Textes ist dem strategischen Ziel der Aktionsvielfalt gewidmet und dem «zukünftigen bewaffneten Volk, das notwendig ist, um zur Volksmacht und dem Sozialismus zu gelangen».

Nach dem Text von 1977 schien auch der 17N den Weg einer langjährigen Transmission von seiner ersten Phase hin zur Überwindung seiner Grenzen zu beschreiten – unter neuen sozioökonomischen Bedingungen in einem neuen Umfeld von Bewegungen. Manche Kräfte wurden stillgelegt oder traten aus und manche – noch weniger – kamen neu hinzu. Als sich die 1970er Jahre ihrem Ende zuneigten, kam es zu einer Beugung der Bewegung, der Reformismus gewann an Boden und das Regime hatte sich stabilisiert. Die finanzielle Krise hatte sich zugespitzt, die Arbeitslosigkeit nahm zu, die Inflation im Land war die höchste in Westeuropa. Gegen die Politik der Sparmaßnahmen gab es wenige Reaktionen der Arbeiter und kämpferische Mobilisierungen, die staatlich wild unterdrückt wurden. Die skrupellosen verbrecherischen MAT agierten mit bestialischer Gewalt und einem wahllosen chemischen Krieg. Sie wurden hemmungslos für Terroreinsätze verwendet. Es gipfelte 1978 darin, dass der Rebell Vasilis Tsironis* geradezu terroristisch aus dem Weg geräumt wurde. Der 17N beschloss den für alle MAT-Einsätze der letzten Zeit verantwortlichen MAT-Vize Pantelis Petrou und seinen Fahrer und Leibwächter Sotiris Stamoulis zu töten. Die Aktion fand am 16. Jänner 1980 statt. Zwei Genossen schossen. Zum ersten Mal wurde ein Auto benutzt, um einem Wagen den Weg abzuschneiden. Zum ersten Mal wurde dafür telefonisch kommuniziert: Ein Genosse rief in einem Kafeneion an und ließ eine fiktive Person ausrufen. Die dort wartenden Genossen wussten dadurch, dass die beiden losgefahren waren.

In seiner Erklärung grüßte der 17N die militanten Aktionen der Gegengewalt des Volkes, die bewaffneten Organisationen ELA, LEA aus Thessaloniki, Kanaris* usw.

Diese 17N-Aktion fand genau zur Zeit der großen Spaltung des ELA statt, die das Ende der ersten Phase der griechischen Stadtguerilla markiert. Zur selben Zeit schritt der Rückzug der radikalen Massenbewegung der Metapolitefsi immer schneller voran.

Die Ebbe der Bewegung ließ die bewaffneten Organisationen nicht unbeeinflusst. Nun waren sie nicht mehr «Fische im Wasser» einer kämpferischen Massenbewegung. Im Gegenteil, der Ozean des Einverständnisses, der Passivität, der Individualisierung stieg rund um die revolutionären Inseln noch mehr an. Um den Widerstand aufrecht zu erhalten, musste man in dieser Zeit subjektiv stark sein und brauchte eine intensive Erdung mit den revolutionären Traditionen und den kämpferischen Idealen des Volkes. Erforderlich war auch ein theoretisches Rüstzeug gegen den Zeitgeist, der an allen Ecken in die Organisation eindrang. Außerdem brauchte man eine neue zeitgemäße Strategie und einen Plan zur Entwicklung einer revolutionären Bewegung. Die alten Pläne der revolutionären Organisationen wurden angezweifelt, auch ihre alten Interventionsarten und -formen. Die damals in bewaffneten Bewegungen vernehmbaren Stimmen kann man in zwei Worten zusammenfassen: Einheit und Aufrüstung. Diese Stimmen kamen aus einer starken und stetig wachsenden Strömung.

Diese Strömung hatte mich zu jener Bank geführt. Ich schaute auf die Uhr. Es war Zeit. Das Treffen war ein «Lauftreffen». Bei den unzähligen Treffen, die diesem ersten folgten, war er immer da. Er war der Einzige, mit dem ich keinen Sicherheitstermin abgemacht hatte, falls wir uns verpassten. Ehrlich gesagt hatten wir irgendwann einmal so einen Termin abgemacht, doch hatten wir ihn beide vergessen, da er nie genutzt wurde. Die ein-, zweimal, die wir uns in den ganzen Jahren verpassten, gingen wir einfach wieder zu dem Treffen, das wir zuletzt abgemacht hatten, oder er kam ohnehin auch zur Vorbereitung einer gerade geplanten Aktion.

Dimitris Koufontinas: Geboren am 17. November

Bahoe Books, Wien

Aus dem Griechischen übersetzt von Fee Meyer

ISBN 978-3-903022-89-8

Erschienen im Oktober 2019