Wir sind immer noch hier

Mona Rafea

Am zehnten Jahrestag des syrischen Aufstands schreibt Mona Rafea aus dem Herzen von Homs, der verwüsteten Stadt, die einst „die Hauptstadt der Revolution“ genannt wurde. Sunzi Bingfa

Während Sie die kleinen Fältchen zählen, die sich auf Ihrem Gesicht gebildet haben, kommt jemand und sagt Ihnen, dass zehn Jahre vergangen sind. Sie haben das Gefühl, dass Sie nicht ganz zwischen wach und schlafend, zwischen lebendig und tot unterscheiden können. Sie schauen auf den Kalender und zählen an den Fingern: zwei Jahre, fünf, sieben, neun, zehn… Im ersten Jahr waren Sie dort, im dritten Jahr waren Sie woanders, im fünften an einem anderen Ort, und im zehnten erinnern Sie sich nicht mehr an die Orte, denn Sie haben sich selbst vergessen, und die Zeit hat Sie vergessen. In Wahrheit ist es Ihnen lieber so.

Aber wo bist du?

Sie erinnern sich an das, was war, vor zehn Jahren. Sie zwingen Sie, sich daran zu erinnern, obwohl Sie es lieber vergessen würden, aus keinem anderen Grund als dem, dass Sie den Schmerz nicht mehr ertragen können. Sie können es nicht mehr ertragen, sich an die Verluste und das Blut und die Verwüstung und den Schlamm zu erinnern. Sie haben sich entschieden, nichts zu sagen, nichts hinzuzufügen, weil Sie alles, was gesagt wurde, genau kennen, weil Sie es auswendig gelernt haben, daran krank geworden sind, weil Sie nach vorne schauen und vergessen wollen, was zurückliegt. Doch das, was zurückliegt, wiegt schwer – sehr schwer – und zieht dich immer wieder nach nach hinten zu sich, packt dich an deinen Kleidern und Haaren, fleht dich an, es nicht zu verlassen und es vor dich herzutragen. Wenn du nachgibst und dich ihm zuwendest, sagt es dir: „Aaaaaaaah…“ Deine Brust hebt sich beim Seufzen, und du gibst dich ihm hin und erbarmst dich endlich.

Aber wo bist du jetzt?

Ich bin jetzt in Homs. Ich gehe durch die Straßen, die zerstörten und die intakten. Ich sehe mir die Gesichter an, die Märkte, die Waren, und sage mir: Dieses grausame Gesicht, das gerade an mir vorbeiging, würde zu einem Mörder unter der Erde passen, und dieses freundliche Gesicht könnte ein Märtyrer sein, misshandelt und ermordet von einer heimtückischen Kugel. Das ist mein Hobby auf der Straße, die Gesichter der Passanten zu kategorisieren. Das da ist ein Mörder, das da ist ein Opfer, da drüben geht ein Märtyrer, da drüben ein Schlächter. Bei manchen Gesichtern sage ich mir: Das ist ein Mörder, vielleicht wird dieser Mörder in der Nacht von seinem Gewissen geweckt. Vielleicht hatte dieser Märtyrer eine Geschichte, von der er nicht wollte, dass sie jemand erfährt. Ich unterbreche das Spiel und schimpfe mit mir selbst, aber diese kleinen Urteile sind letztlich meine Bemühungen, eine bleibende Ohnmacht zu überwinden, ein angesammeltes Versagen, das einen zu den erbärmlichsten, sinnlosen Taten treibt.

Am Telefon sagt eine traurige Stimme, die letzten zehn Jahre seien wie ein langer Traum vergangen, dessen Ende wir noch erwarten. Ich stimme ihr zu und schaue zum Himmel hinauf, wo der fallende Regen wie Stahlstäbe aussieht und die Sonne wie gelber Kummer. Ich höre den Menschen zu, und ihre Worte klingen wie Euphemismen für eine Niederlage, für die sie sich zu sehr schämen, um sie zuzugeben.

Jedermanns Lieblingsspiel hier scheint es zu sein, die Dinge beim falschen Namen zu nennen. So haben wir zehn Jahre lang „den Krieg“ erlebt, und die gegenwärtige erstickende „Krise“ ist auf „die Regierung“ zurückzuführen, und die Armut wird von den „Tycoons“ verursacht, und die „weise Führung“ erlässt Dekrete ohne Rücksicht auf die Situation des Volkes und die „Behörden“ ergreifen einen jungen Mann und töten ihn „unabsichtlich“.

Solche pathetischen Euphemismen sind die Art und Weise, wie die Menschen die unausgesprochene Wahrheit umgehen. Das hat seinen Preis. Man fühlt sich hier völlig entstellt, ebenso der eigene Geist und die eigene Existenz. Um hier eine sichere Existenz aufzubauen, muss man alles in seinem Herzen zerstören. Um sich zu schützen, muss man bis zum Äußersten lügen. Furcht und Frustration sind dein tägliches Los. Wenn du jemals mit der Wahrheit konfrontiert wirst, oder mit einer Lüge, die zu groß ist, um damit umzugehen, hast du keine andere Wahl, als zu fliehen und zu verschwinden, bis du wieder zu Atem kommst.

Ich bin jetzt in Homs, spreche zu Ihnen und sage Ihnen, dass ich immer noch durch seine Straßen gehe und die Stimmen der Abwesenden höre. Ihre Stimmen quälen einen hier. Sie sprechen sehr viel, trotz ihrer Abwesenheit. Manchmal sagen sie: „Wir warten auf dich“, manchmal sagen sie: „Wir bleiben bei dir, wach oder schlafend“, manchmal sagen sie: „Wir zählen auf deine Wut und deinen Kummer“, und schließlich sagen sie: „Wir schweigen und warten auf deine Worte.“

Den Kopf auf die Schulter geneigt sagt ein Freund: „Wir vertrödeln unsere Tage mit Ablenkungen.“ Wir neigen unsere Köpfe zustimmend.

Ein anderer sagt: „Wir vergeuden unser Leben in diesem miserablen Land.“ Wir nicken zustimmend.

Ein anderer sagt: „Wäre nur nicht passiert, was passiert ist.“ Diesmal ist die Bewegung der Köpfe konfus. Unsere Augen bleiben starr auf den Boden gerichtet. Es gibt keine Worte. Das Reden über das, „was passiert ist“, ist manchmal ein Rätsel, oder eine ferne Vergangenheit, die man besser hinter sich lässt, oder ausgewählte Erinnerungen an Ereignisse, aus denen wir durch ein Beinahe-Wunder lebend herausgekommen sind. Die Lippen weigern sich, mehr als das zu sagen, während der Verstand schweigend mit der Erinnerung an das „Geschehene“ verglüht.

Dieselbe Person streckt den Finger in unsere Gesichter, eine Ader pocht auf seiner Stirn, und sagt: „Das sind keine Wahlen, das sind Erneuerungen des Treueeids. Erneuerungen des Treueschwurs!“ Als wir nach Hause zurückkehren, wiederholen wir seine Worte hinter unseren verschlossenen Türen und verfluchen, was gesagt wurde und die Person, die es gesagt hat.

Das Zusammentreffen von beidem – das Verstreichen von zehn Jahren und die bevorstehenden „Präsidentschaftswahlen“ – macht beides nicht leichter zu verkraften. Die Frau, deren Mann getötet wurde, die einst schwor, auf der Straße zu kochen und kostenloses Essen zu verteilen, wenn das Regime fällt, kann kaum glauben, dass wir an diesem Punkt angelangt sind und über Wahlen sprechen. Sie ist nicht die Einzige.

Wir brauchen keinen zehnten Jahrestag der Revolution, um sie in unseren Herzen zu tragen, denn sie wird jeden Morgen beim Aufwachen mit neuem Leid fortgesetzt, ob wir es wollen oder nicht. Man muss nicht „revolutionär“ sein, im aktiven Sinne des Wortes, um zu bekräftigen, dass man alles ablehnt, was geschehen ist und noch geschieht.

Das Herz mag manchmal damit kämpfen, die Unfähigkeit zu ertragen, das zu tun, was getan werden muss, aber nicht getan werden kann. Doch das Herz hat auch keine andere Wahl, als weiterzupochen, mit all den Aaaaahs und Verlusten und dem Kummer, die nicht vergessen werden können, egal wie viel Zeit vergeht.

Wir sind hier. Wir suchen immer noch nach einem Witz, um inmitten von allem, was passiert, zu lächeln. Selten finden wir jedoch einen, weshalb wir uns auf Facebook-Seiten stürzen, um Smiley-Gesichter zu verschicken, ein weiterer falscher Ersatz für das echte Lächeln, das wir vor Jahren verloren haben.

Wir sind immer noch hier, in Homs. Es gibt immer noch eine Entschlossenheit in uns. Wir gehen, und schlafen, und essen, und haben Angst, und träumen. Was zählt, ist, dass wir immer noch träumen. Das Einzige, dessen wir uns immer noch sicher sind, ist, dass niemand entwurzeln kann, was in unseren Herzen ist, egal wie sehr das Gegenteil der Fall zu sein scheint.

Mona Rafea ist das Pseudonym einer syrischen Schriftstellerin in Homs. Der Text erschien zuerst auf arabisch auf al jumhuriya, wir haben ihn aus der englischsprachigen Übertragung von Alex Rowell übersetzt, die ebenfalls auf al jumhuriya erschien, übersetzt. Sunzi Bingfa