Ausgerechnet in der im ewigen Biedermeier zu verharrenen Schweiz brachen Anfang der 80er Jugendkrawalle aus, die das Land erschütterten und weit über die Schweiz hinaus ausstrahlten. Überall wurde das Packeis aufgebrochen und mit Bedauern festgestellt, dass Beton nicht brennt. Da wir große Freunde der oral history sind, was geneigten Leser*innen nicht verborgen geblieben ist, folgen an dieser Stelle einige Interviews mit Beteiligten, die wir dem wunderbaren Sammelband “Wir wollen alles und zwar subito” entnommen haben, der 2001 im Limmat Verlag erschienen ist. Leider ist das Buch mittlerweile vergriffen, aber ein umfangreiches Online Archiv findet sich noch hier. Hinzugefügt haben wir noch eine Chronologie, die auch aus der genannten Quelle stammt, das Ganze schließlich etwas aufbereitet und bebildert. Sunzi Bingfa
Jetzt liegt die Macht auf der Gasse
Markus Kenner, bekannt als Punky, geboren 1956 in Zürich, interviewt von Heinz Nigg
Markus Kenner: Als Lehrling ging ich schon an Vietnam-Demos und 1972/73 erlebte ich den Kampf um ein Jugendhaus im Drahtschmidli. Dann ging es ums Jugendhaus Schindlergut. Das war zwar nicht so eine riesige Sache wie das AJZ 1980. Aber es hatten dort doch ein paar hundert Jugendliche vorübergehend eine Heimat gefunden. Im Schigu habe ich als einer der Ersten Platten aufgelegt. Punk kam gerade auf, und weil ich als DJ Punk aufgelegt habe, erhielt ich den Namen Punky, der mir bis heute geblieben ist. Bei mir war alles immer gekoppelt mit meiner Freizeit: Leute treffen, kulturelle Aktivitäten, Disco machen, Konzerte organisieren, Filme zeigen. Und das alles war verbunden mit politischem Engagement. Als Lehrling begann ich andere Lehrlinge zu organisieren. Zusammen mit Trotzkisten und anderen Grüppchen machte ich im KV-Komitee mit. Jugendrevolte, Jugendhäuser: Das interessierte mich brennend!
Mit einigen meiner politischen Freunde begann ich auch vermehrt ins Ausland zu schauen. Wir lasen alles über Punk und Rock against Racism in England. Wir gingen nach Frankfurt an Konzerte von Rock gegen Rechts und hatten dann die Idee, in Zürich auch so etwas zu gründen: Rock als Revolte. Wir begannen nach der Schließung des Schindlergutes an anderen Orten weiter Konzerte und Discos zu veranstalten, zum Beispiel im Polyfoyer. Dann wurden 1979 alle diese Lokale geschlossen. Und plötzlich kam diese Stimmung auf: Es gibt zu wenig Orte für uns Junge. Wir müssen raus auf die Gasse. Deshalb dieser Name «Rock als Revolte», RAR. Es ging um Musik, aber es ging auch um den Kampf für Freiräume.
Wie habt ihr euch zusammengefunden?
Nach einer Niederlage – nachdem das Schigu geräumt wurde – gibt es immer verschiedene Fraktionen: die Militanten, die Gewaltfreien, die Reformisten und andere. Wir beschimpften uns gegenseitig als Verräter. Plötzlich merkten wir, dass die kleinen Gruppen für sich allein nichts mehr zustande brachten und wir wieder zusammenarbeiten mussten. Wir gründeten mit der RAR also etwas Breiteres, Unabhängigeres und vergaßen den Detailstreit.
Was machte den Power von Rock als Revolte aus?
Das Besondere daran war eben, dass alle wieder zusammenkamen, die sich vorher bekriegt hatten. Ein Höhepunkt war ein Konzert im Herbst 79 mit der Gruppe Schröders Roadshow, einer deutschen Anarcho-Rockband. Das Konzert hat die Leute wie beflügelt. Es genügte also nicht, Flugblätter an Gleichgesinnte zu verteilen. Wir stürmten dann auch Konzerte von Good News: «Wir wollen billige Konzerte, Gratiskonzerte, wir wollen eigene Räume!» Dies interessierte die Leute, weil die Aktionen im Zusammenhang mit Musik standen und weil es keine Treffpunkte gab. Eine grössere Anzahl von Discos und Partys gab es noch nicht. Die Polizeistunde war auf zwölf angesetzt, und die hat gegolten. Du konntest kaum einen Club eröffnen. Es war ein Mangel da, den viele Leute gespürt haben.
Ich machte mit bei den Piratenradios. In einer Wohnung im Kreis 4 sassen wir zusammen. Der eine hat Musik mitgenommen, der andere sprach ein Textli ins Mikrofon. Das nahm man auf, und einer sendete das Ganze. Das war unsere Art des Aufrufs zur Rebellion. Die dazu passende Musik war eindeutig Punk, Rock und Reggae.
Viele Leute sind auf den fahrenden Zug aufgesprungen. Wir wussten auch: Mit der Roten Fabrik muss es vorwärts gehen. Dann kam noch die Geschichte mit dem Umbau des Opernhauses, als wir dachten: für die gibt es wieder so viel Geld und für uns nichts. Vor dem Opernhauskrawall sind wir schon zweimal nach Veranstaltungen in der Roten Fabrik einfach dringeblieben, haben unsere eigenen Konzerte durchgezogen, hatten Mikrofone auf der Bühne und haben diskutiert. Hunderte von Leuten kamen zusammen: solche, die auf Punk standen, andere auf Blues-Rock, Langhaarige, Kurzhaarige, Freaks. Ein paar ältere 68er schauten auch herein – Unzufriedene von früher. Der 30. Mai 1980, der Opernhauskrawall, ist also nicht aus heiterem Himmel gekommen. Wir ahnten aber nicht, welche Ausmaße das Ganze annehmen würde. Dass Bob Marley am gleichen Abend im Hallenstadion spielte, war ein Zufall. Da strömten ja dann tausende von Jungen in die Stadt. Die Stadtbehörden hätten es eigentlich kommen sehen müssen. Wir waren in Briefkontakt mit dem Stadtrat, haben unsere Forderungen deponiert und sind abgewiesen und abgespeist worden. Die merkten nichts. Die dachten: «Was wollen jetzt da die Jungen, und was ist jetzt plötzlich los mit der Roten Fabrik? Nur nöd gsprängt!» Stadtpräsident Sigi Widmer war schon damals nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Wie hast du die erste Nacht erlebt?
Da hatten wir also unsere Demo vor dem Opernhaus, und es knallte wirklich. Ich war überrascht. Aufregung war da. Wir gingen nicht mehr nach Hause. Es war eine ungemeine Wut da, aber auch Stärke. Man spürte, dass die Macht eine Nacht lang auf der Gasse lag. Leute wurden verprügelt und verhaftet, aber die Polizei kam nicht mehr mit. Bei der Polizeiwache neben dem Rathaus wurde das erste Polizeiauto umgekippt. Man rannte im Niederdörfli herum, die einen warfen Scheiben ein, andere schmissen Container um. Am Abend darauf kamen wir wieder vors Opernhaus. Auf der Opernhaus-Wiese hatte es ein Festzelt. Wir gaben durch: «Morgen um 8 Vollversammlung!» Das Medienecho war enorm, und wir merkten: Aha, es bewegt sich etwas. Überall wurde berichtet, im Radio, in der Tagesschau. Der «Sonntagsblick» schrieb: «Toll, wie sie plünderten und prügelten!» Mehr als tausend Jugendliche kamen an die erste VV. Wir forderten: «Gebt uns das AJZ bis in drei Wochen!» Das alles gab uns eine Menge Auftrieb. Diese Aufbruchstimmung hielt den ganzen Sommer über an.
Wie ging es für dich weiter?
Wir diskutierten das im kleinen Kreis, mit den Leuten, die bei den Vorbereitungen der Opernhaus-Demo dabei gewesen waren. Wir hatten an der VV gesehen, dass ganz andere Leute am Mikrofon das Wort ergriffen und dass die Bewegung an Breite zugenommen hatte. Wir beschlossen, unsere Gremien aufzulösen, weil es nun nicht mehr darum gehen konnte, das eigene Zeug durchzupushen. Es gab neue Allianzen, und jeder musste für sich selbst entscheiden, wo und wie er weitermachen wollte. Ich machte in diesem ersten Sommer, als das AJZ aufging, in mehreren Arbeitsgruppen mit. Wir gaben im AJZ die erste Zeitung der Bewegung heraus – das «Subito». Ich blieb auch weiterhin im Kontakt mit der Roten Fabrik.
Gab es auch Enttäuschungen?
Es kam, wie es kommen musste. Man hatte untereinander Probleme. Das AJZ musste eine Menge soziale Aufgaben wahrnehmen, was eigentlich gar nicht vorgesehen war: die ganze Drogengeschichte, der Fixerraum. Zu viele verschiedene Leute wurstelten an den gleichen Sachen herum. Die zunehmende Repression gab mir schon zu denken, viele in meinem Freundeskreis sind drangekommen – ich auch.
Wie?
Ein Erlebnis vergesse ich nie. Es gab eine Demo gegen die Wohnungsnot. Ich wurde von der Polizei mit hundert anderen in eine Tiefgarage beim Kaufleuten hinabgetrieben. Wir waren in der Falle! Die Schmier kam, völlig aggressiv, die haben gezittert. Es fehlte nicht viel, und die hätten uns alle mit Tränengas eingenebelt und zusammen geknüppelt. Wir wurden alle verhaftet. Ich hatte nachher einen Prozess wegen Landfriedensbruch und wurde zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt. Solche Ereignisse, aber auch die Straßenschlachten, das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei und das Niederknüppeln, beschäftigen mich noch heute manchmal in meinen Angstträumen: ausweglose Situationen, das Gefühl, an die Kasse zu kommen. Dann merkst du im Verlauf der Jahre, du stehst nicht mehr so in dem drin, bist jetzt an einem andern Punkt. Und dann tauchen sie plötzlich doch wieder auf – diese Gewaltszenen, Polizeiszenen. Da merke ich, dass mich das immer noch nicht ganz losgelassen hat.
Wann kam das Ende der Bewegung?
Ich war dabei bis zur zweiten Schliessung des AJZ am 23. März 1982. Dann gab es den Kampf gegen die Wohnungsnot – den Häuserkampf.
Wie ging es für dich beruflich weiter?
Ich arbeitete ein paar Jahre in der Betriebsgruppe der Roten Fabrik, dann im Quartier- und Kulturzentrum Kanzlei. Ich machte auch beim «Lora» mit. Irgendwann kam der Moment, in dem ich genug hatte von den endlosen Diskussionen, vom Immer-wieder-von-vorne-Beginnen und wo niemand dem anderen gute Ideen gönnen mag. Dann stieß ich zu Radio DRS 3, zuerst als Plattenwäscher und später als Musikredaktor. Ich konnte also Musik, die ich mochte, ins Programm einbringen und hatte Breitenwirkung.
Parallel zu meiner beruflichen Tätigkeit habe ich mich bis heute immer wieder für kulturelle Freiräume eingesetzt: zum Beispiel in der Kaserne mit dem Disco-Syndikat und später das Organisieren von Bar- und Partyveranstaltungen. Es interessiert mich weiterhin, was mit dem grossen Kasernenareal geschieht. Für mich bedeutet dieses Areal nach wie vor eine Chance für die Kultur und das soziale Leben mitten in dieser Stadt. Die letzte Entscheidung ist da noch nicht gefallen.
Jetzt, da mein Sohn 19 ist, eine Lehre absolviert hat und ausgezogen ist, suche ich eine Neuorientierung in meinem Beruf. Ein neuer Lebensabschnitt hat begonnen.
Wie war die Zeit mit deinem Sohn?
Als Steff auf die Welt kam, gab es in unserem Umfeld nur wenige Leute mit Kindern. Man wohnte in Kommunen und Wohngemeinschaften und dachte: Was soll das, Kinder? No future! Ein Kind zu haben, angesichts der damaligen Lage der Welt – das war gar nicht angesagt. Ich reduzierte dann meine Arbeit und musste mich in der Roten Fabrik noch für Kindergeld und Teilzeitpensen einsetzen. Da hiess es oft: «Ist ja euer Bier, ein Kind zu machen!» Meine Freundin und ich arbeiteten also beide Teilzeit und teilten uns in die Erziehung und Betreuung von Steff – auch später, als unsere Beziehung auseinander gegangen ist.
Wie beurteilst du rückblickend die Auswirkungen der Jugendunruhen auf die achtziger Jahre?
In Zürich gab es kulturell einen Nachholbedarf. Die Leute sind aktiv und kreativ geworden: im sozialen Bereich, in der Drogenarbeit, in den Schulen, beim Aufbau von sozialen und kulturellen Netzen. Von den Leuten des damaligen Videoladens, die «Züri brännt» gedreht hatten, sind heute viele mit ihren eigenen Projekten beschäftigt oder sind in neuen Zusammenhängen tätig. Ehemalige «Lora»-AktivistInnen sind nun beim Radio, beim Fernsehen und in anderen Medien. In der Kunstszene gab es neben den traditionellen Galerien neue Projekte. Auch in den Quartieren war etwas los. Da und dort wurde ein Haus besetzt: der Häuserkampf in der Schmiede Wiedikon, am Stauffacher. Dann kam der Kampf ums Quartier- und Kulturzentrum Kanzlei und später in den frühen neunziger Jahren die Besetzung der Wohlgroth. Immer wieder sind so neue Freiräume entstanden.
Was erwartest du von einer Aufarbeitung der 80er-Bewegung?
Man vergisst schnell einmal, was diejenigen gedacht haben, die nicht im eigenen Grüppli gewesen sind, und dass es noch ganz andere Ansichten und Analysen gibt. Ich habe diese Bewegung als eine von hunderten, von tausenden erlebt. Man verzieht sich dann wieder und weiss gar nicht, an welchen anderen Projekten gearbeitet wurde oder welche Schlüsse andere aus den damaligen Ereignissen zogen.
Welche Schlüsse ziehst du aus deinen 80er-Erfahrungen?
Dass es sich immer wieder lohnt, sich zu wehren und sich für etwas einzusetzen, ob das nun parlamentarisch, mit Petitionen oder mit Demos sei – ob gewaltfrei oder militant auf der Strasse. Und dass man sich dauernd überlegen soll: Wo kann man etwas erreichen? Ich möchte auch aufzeigen, dass die Tatsache, dass heute einige 68er und 80er an den Schalthebeln der Macht sitzen, mit dem zu tun hat, was sich damals auf der Gasse abgespielt hatte, und dass die heutige kulturelle Vielfalt vor allem auf die achtziger Jahre zurückgeht. Viele, die in den letzten Jahren von auswärts in diese Stadt gezogen sind, wissen davon überhaupt nichts – warum was wie entstanden ist und dass alles erkämpft werden musste, mit Druck und Engagement.
Chronologie: Auseinandersetzungen um die Eröffnung eines Autonomen Jugendzentrums in Zürich
30. Mai 1980 Am Abend des 30. Mai demonstrieren – organisiert durch die ARF – rund 200 Personen vor dem Opernhaus für die Förderung alternativer Kultur in der Stadt Zürich. Sie wollen die OpernhausbesucherInnen im Vorfeld der städtischen Abstimmung über den 60-Millionen-Kredit für den geplanten Opernhausumbau auf die Bedürfnisse eines alternativen Zürcher Kulturbetriebs aufmerksam machen. Die Demonstration beginnt friedlich. 30 Polizisten in Kampfausrüstung fordern die DemonstrantInnen auf, den Platz innert 15 Minuten zu räumen. Der Platz wird jedoch nicht geräumt. Erste Scharmützel. Am späteren Abend entwickeln sich die Scharmützel zu einem eigentlichen Krawall, als die BesucherInnen des Bob Marley-Konzerts in die Innenstadt strömen. Am Bellevue werden Barrikaden errichtet. Die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden dauern bis in die frühen Morgenstunden.
31. Mai 1980 Die Szenen vom Vorabend wiederholen sich.
1. Juni 1980 Das zu Public Relations-Zwecken für die kommende Abstimmung vor dem Opernhaus aufgestellte Festzelt wird von rund 2000 Personen besetzt. Eine VV wird abgehalten. Die Ereignisse der Vortage werden diskutiert und neue Forderungen an die Stadtregierung gestellt: Rückzug der Strafanträge gegen alle Verhafteten; keine weitere Verwendung von CB-Tränengas und Gummigeschossen; die Teilinbetriebnahme der Roten Fabrik als Kultur- und Jugendzentrum ab Herbst 1980, was bedingt, dass dem Opernhaus die Verträge zur Benützung der Roten Fabrik als Lager- und Probelokal gekündigt werden; die leerstehende Fabrikhalle an der Limmatstrasse 18-20 als Autonomes Jugendzentrum ab 8. Juni, 12.00h. Abends setzt sich ein Demonstrationszug in Richtung Bezirksgefängnis in Bewegung, in dem sich die verhafteten Personen befinden.
3. Juni 1980 Nach einer Kundgebung der Jugendlichen auf dem Hirschenplatz Demonstration zur kantonalen Polizeikaserne und zum Bezirksgebäude.
4. Juni 1980 Stadtpräsident Widmer und Stadträtin Lieberherr nehmen – zusammen mit rund 2000 Jugendlichen – an einer VV im Volkshaus teil. Sie hören sich die Forderungen der Jugendlichen an: In Bezug auf das Geschehen in der Roten Fabrik verweisen Widmer und Lieberherr auf die IGRF als Gesprächspartnerin; in Bezug auf das geforderte Jugendzentrum zeigen sie sich gesprächsbereit – unter der Bedingung, dass keine weiteren Ausschreitungen stattfinden. Sie fordern die Versammelten auf, eine Delegation zu bilden, welche die anstehenden Verhandlungen führen soll. Die VV ist nicht bereit, auf diesen Vorschlag einzugehen, sie beharrt auf Verhandlungen mit der VV. Es wird ein Videofilm einer Gruppe von EthnologiestudentInnen über den Opernhauskrawall gezeigt.
6. Juni 1980 Der kantonale Erziehungsdirektor, Regierungsrat Gilgen, lässt den Videofilm über den Opernhauskrawall wegen politischer Agitation mit wissenschaftlichem Material konfiszieren. Eine Untersuchung über die Verantwortlichkeit der Leitung des Ethnologischen Seminars wird eingeleitet.
7. Juni 1980 Auf dem Platzspitz findet eine VV statt die Nutzung der Räumlichkeiten an der Limmatstrasse 18-20 betreffend. Die Jugendlichen sind unschlüssig, wie sie auf die Vorschläge der Stadt reagieren sollen. Man beschliesst, die neuen Lokalitäten zuerst einmal zu besichtigen. Ein Demonstrationszug von mehreren hundert Personen zieht an die Limmatstrasse 18-20 und von dort via Bezirksgebäude und Polizeikaserne zum Bellevue, wo über das weitere Vorgehen beraten wird. Die Mehrheit stimmt dem Vorschlag zu, sich in die Rote Fabrik zu begeben, um dort weiter zu diskutieren.
8. Juni 1980 Die Volksabstimmung zum Opernhaus-Kredit wird knapp angenommen. Eine weitere VV in der Roten Fabrik entscheidet, nicht auf die Bedingungen des Stadtrats einzugehen. Es werden erste Arbeitsgruppen gegründet.
9. Juni 1980 Vor der Universität Zürich findet eine Manifestation statt. Der sofortige Rücktritt von Regierungsrat Gilgen wird gefordert. Demonstration nach der Protestversammlung: Am Central wird der Verkehr blockiert. Man zieht weiter zum Gebäude der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Ein Polizeieinsatz setzt der Verhinderung der Auslieferung der NZZ ein Ende. Nach diesem Vorfall kündigt der Stadtrat eine härtere Linie an.
11. Juni 1980 Die VV im Volkshaus erklärt sich bereit, die Verhandlungen mit dem Stadtrat fortzuführen, weigert sich jedoch weiterhin, eine Delegation zu bestimmen.
12. Juni 1980 An der Universität führen 2000 StudentInnen einen Protesttag durch, in dessen Verlauf sich der Rektor an die Versammelten wendet.
14. Juni 1980 In einer auf dem Platzspitz abgehaltenen VV wird beschlossen, am 21. Juni eine Großdemonstration zu veranstalten, um den Forderungen der Bewegten Gehör zu verschaffen. Nacktdemonstration durch die Zürcher Altstadt.
17. Juni 1980 Demonstration nach einer Protestkundgebung an der Universität zum Gebäude der Erziehungsdirektion.
18. Juni 1980 Demonstrierende versammeln sich vor dem Rathaus: Sie fordern den Gemeinderat zu einer Diskussion auf. Der Gemeinderat verweigert das Gespräch. Die Demonstrierenden harren aus, worauf die Polizei eingreift. Sachbeschädigungen in der Innenstadt.
19. Juni 1980 Ausserordentliche Delegiertenversammlung der SP Stadt Zürich. Sie protestiert gegen das Demonstrationsverbot des Stadtrats für den 21. Juni und beauftragt die Geschäftsleitung, mit dem Stadtrat und den Jugendlichen in Kontakt zu treten.
20. Juni 1980 Sogenannte «Rädelsführer» werden in Präventivhaft genommen. Die Geschäftsleitung der SP bietet dem Stadtrat an, die Trägerschaft für ein autonomes Jugendzentrum zu übernehmen. Die Arbeitsgruppen der Bewegung beschließen, die für den 21. Juni geplante Großdemonstration abzusagen und stattdessen auf dem Helvetiaplatz, wo bereits ein Fest der POCH stattfinden darf, eine VV abzuhalten.
21. Juni 1980 Nachdem die rund 5000 bis 6000 auf dem Helvetiaplatz Versammelten von den Präventiv-Verhaftungen vom Freitag erfahren, beschließt eine Mehrheit, die Diskussion um die von der SP unterbreiteten Vorschläge bezüglich Trägerschaft zu vertagen und stattdessen sofort zu demonstrieren. Auf der Quaibrücke treffen die DemonstrantInnen auf die Polizei, die sich dann aber zurückzieht, worauf die Demonstration friedlich zu Ende geht.
25. Juni 1980 Im Volkshaus findet eine VV statt. Sie beschliesst den Vermittlungsvorschlag der SP anzunehmen, unter der Bedingung, dass das Haus autonom geführt und am 28. Juni geöffnet werden kann.
27. Juni 1980 Am späten Freitagabend bereinigt der Stadtrat den Vertrag über die Trägerschaft des Versammlungszentrums an der Limmatstrasse 18-20 mit der SP: Es wird festgehalten, dass das Versammlungszentrum mit möglichst großer Selbstverwaltung betrieben werden soll, dass die Gebrauchsleihe innerhalb einer Frist von vier Tagen gekündigt werden kann, dass die Lokalitäten voraussichtlich ab 1. April 1981 durch die Stadt für eigene Zwecke benötigt werden, dass die Gebäude renoviert werden müssen und dass die Entlehnerin sich für einen ordnungsgemässen Betrieb einsetzen muss.
Wie in Italien, so heiss war die Stimmung
Antonella Martegani, geboren 1955 in Zürich, interviewt von Heinz Nigg
Antonella Martegani: Meine Eltern stammen aus benachbarten Dörfern in Italien und emigrierten nach dem Krieg nach Zürich. Als ich geboren wurde, lebten sie in einem Zimmer in Oerlikon. Toilette und Küche teilten sie mit anderen Mietern. Für Arbeiter war es damals nicht leicht, eine Wohnung zu bekommen. Meine Mutter war Kunststopferin, mein Vater Dreher. Als ich ein Jahr alt war, brachten sie mich nach Italien zu meiner Tante. Sie besaß eine wunderschöne Gärtnerei – ein Familienbetrieb. Für mich war es paradiesisch, es hatte einen Esel, einen Hund, eine Katze und Hühner. Ich konnte frei herumstreichen.
Mit vier Jahren holten mich meine Eltern wieder nach Zürich. Weil sie ganztags arbeiteten, kam ich in eine Pflegefamilie. Die Erziehung in dieser fremden Familie bestand vor allem im Anschreien der Kinder, und alles war durchstrukturiert nach Schema F. Abends und an den Wochenenden lebte ich bei meinen Eltern. Dieser ständige Wechsel war für mich die Schattenseite der Emigration. Ich wuchs in Zürich auf und fühlte mich doch nicht zu Hause.
Welchen Kontakt hattest du zu den Kindern in deiner Umgebung?
Ich lernte schnell Zürichdeutsch und durfte schon als Vierjährige in den Kindergarten. Über viele Jahre hatte ich einen engen Kontakt zu einem Mädchen aus meiner Klasse. Die Stimmung in dieser Familie erinnerte mich an Italien. Das Radio lief, man sang dazu, die Mutter bügelte oder nähte, man war zusammen zu Hause und hat gearbeitet.
Welches Menschenbild vermittelten dir deine Eltern?
Mein Vater ging jeden Samstagnachmittag ins Restaurant «Heimat» in Oerlikon, um Karten zu spielen. Manchmal nahm er mich mit. Er traf sich dort mit Kollegen einer katholischen Emigrantenvereinigung. Wenn meine Eltern am Sonntag Freunde zum Essen einluden, erzählte er immer wieder von Russland, wohin er im Krieg als 19-Jähriger mit zwei Freunden aus seinem Dorf geschickt wurde. Wichtig war ihm der Mut, den man haben musste, um überleben zu können. Zu dritt waren sie immer zuvorderst an der Front und überlebten. Alle, die hinten blieben, starben.
Die Arbeitsteilung war klassisch, die Männer plauderten im Wohnzimmer, die Frauen räumten die Küche auf. Meine Mutter machte einen mutigen Schritt. Als die Besitzerin der Kunststopferei alt war, nahm sie einen Kredit auf und kaufte das Geschäft, das sich mitten in der Zürcher City befand – ein für sie rasanter Aufstieg. Während der Sekundarschule ging ich jeweils am Mittwochnachmittag zu ihr in den Laden, um auszuhelfen.
Wie warst du als Jugendliche?
Zusammen mit einer Freundin führte ich in meiner Klasse den Minirock und die angemalten Fingernägel ein, zudem motzte ich dauernd. Manchmal gingen wir ins neu eröffnete Migros-Restaurant. Das war ein typischer Bau aus dieser Zeit, mit orangen Kugellampen, olivgrünen Teppichwänden und -sitzen und dunkelbraunen Tischen. Zu zweit teilten wir uns eine Portion Pommes frites. Dafür reichte das Sackgeld gerade. Als Kind habe ich italienische Schlager wie Muttermilch aufgesogen. Das Radio lief den ganzen Tag. Eine Cousine war Elvis-Presley-Fan und hatte eine große Plattensammlung. Wann immer ich bei ihr in Italien weilte, hörte ich Elvis. Dann kamen Cliff Richard, die Shocking Blues mit «Venus», später Jimi Hendrix, Janis Joplin, die Stones und die Beatles. Ich hatte einen kleinen Transistorradio, mit dem ich nachts unter dem Kissen Radio Luxemburg hörte. Das war damals der Sender mit anderer Musik. Ich mag mich noch gut an das Jahr 1968 erinnern, wie wir Tagesschau schauten und mein Vater entsetzt war, dass die Schweizer Polizei mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vorging. Das erinnerte ihn an den Krieg. Er konnte auch die demonstrierenden Jugendlichen nicht verstehen, die hatten doch alles.
Wie ging es für dich nach der Schule weiter?
Ich besuchte die Handelsschule, arbeitete zwei Jahre als Sekretärin in Genf und wurde dann an der Schule für Soziale Arbeit in Zürich aufgenommen. Ich genoss diese drei Jahre sehr. Mir Zeit nehmen zu können, um mit anderen Leuten über ein Thema zu reflektieren, war für mich Luxus. Das hatte ich weder zu Hause noch in der Schule. Während des letzten Jahres arbeitete ich bei Condiem, einer Frauenberatungsstelle für Emigrantinnen. So begann meine Politisierung. Zum erstenmal sah ich die Emigration in einem grösseren Zusammenhang.
Wie erlebtest du den heissen Sommer 1980?
Ich weiss nicht mehr genau, wie ich zur 80er-Bewegung stieß. Eines Tages ging ich an die Demos und kam mitten ins Geschehen. Im AJZ machte ich bei der Spuntengruppe mit. Das waren unkomplizierte Leute. Das Nötigste für meinen Lebensunterhalt verdiente ich mit Hortvikariaten. Für mich war das AJZ wie ein Familienersatz. Ich kannte die Leute, und die Leute kannten mich. Es war egal, wer du warst, das gefiel mir total. Einmal organisierten wir eine Italowoche mit einem wunderschönen Schlussabend. Wir mussten 240 Portionen Lasagne kochen. Die Aktionshalle war rot-weiss-grün geschmückt. Nach dem Essen wurde der Film «Django» gezeigt. Als die Kamera auf seine stahlblauen Augen zoomte, kreischte die Halle. Es kam mir vor wie in Italien, so heiss war die Stimmung.
Was hatte das AJZ mit Italien zu tun?
Es gab Zweit-Generation-Italiener in der Bewegung. Ich war ja nicht die Einzige. Dann waren da Tessiner, die Verbindungen zu den italienischen Autonomen und zu den roten Universitäten in Padova und Bologna hatten. Diese Italowoche war ein Gesamtkunstwerk: Essen, Politik, Kultur und Kitsch – alles, was du wolltest! Im AJZ habe ich das Organisieren von solch grossen Anlässen gelernt. Ich stand mitten im Leben, mit allem, was dazu gehört: Liebe und Herzensbrüche, Auseinandersetzungen über Beziehungen, Emanzipation, Unterdrückung, über Politik, Geburtenkontrolle und Ernährung. Es war fantastisch, hier in Zürich diesen grossen Aktionsraum zu haben, etwas machen zu können, das nicht in starren Strukturen ablief, nicht hierarchisch organisiert war und wo schnell auf Veränderungen reagiert werden konnte.
Wurdest du im AJZ mit Problemen konfrontiert?
Als der zweite Umbau kam, begann es zu kriseln. Es gab Konflikte um die Verteilung des Geldes. Man begann sich innerhalb der Umbaugruppe zu bekämpfen. Auch der Drogenraum war für jene Zeit eine Schuhnummer zu gross. Du konntest nicht mehr kontrollieren, was dort drin abging. In der Nacht erlebten wir bedrohliche Situationen. Wenn jemand aufgelöst an die Bar kam und sagte, da draussen sei ein Dealer mit einem Messer, dann sprangen wir alle auf und stellten ihn hinaus.
Als das AJZ zum ersten Mal geschlossen wurde, gingen die Demos und Aktionen wieder los. Auf der Limmatstrasse bauten wir eine Barrikade mit flimmernden Fernsehern. Den Strom bezogen wir aus dem AJZ. Das war eine Provokation. Die Polizei stand ratlos herum. Das Fernsehen war für uns der Inbegriff von Langeweile und allem Kleinkarierten.
Wie seid ihr auf diese Ideen gekommen?
Die Ideen lagen in der Luft. Wir haben daraus etwas gemacht, ohne dass einer davor stand und sagte, das war meine Idee. An den Demos hatte ich Angst vor Gewalt. Anlässlich eines Kinks-Konzerts im Kongresshaus, das wegen der hohen Eintrittspreise gestürmt wurde, kesselte uns die Polizei ein. Wir wurden verhaftet und in Kastenwagen in die Kaserne abtransportiert. Männer und Frauen wurden voneinander getrennt. Wir wurden der Reihe nach verhört, ich immer als Letzte. In einem winzigen Raum flippte ich aus. Ich hatte Platzangst, schrie und polterte an die Tür. Schließlich wurde mein Hausarzt benachrichtigt. Ich erhielt eine Beruhigungsspritze, und eine halbe Stunde später liessen sie mich gehen. Das brachte mir eine Buße wegen Landfriedensbruch ein. Dieses Erlebnis stößt mir selbst nach zwanzig Jahren noch auf, vor allem weil ich Angst hatte, ich könnte ausgeschafft werden. Ich bin bis heute italienische Staatsangehörige geblieben.
Wie ging es nach der definitiven Schliessung des AJZ weiter?
1982 machte ich beim Houdini mit. Das war eine Kultur- und Aktionsgruppe, die im Kino Walche Konzerte, Theater und Performances veranstaltete. Dann stieg ich bei einem Theaterprojekt ein, dem «Tango Palace». Das war ein Engagement auf Zeit. Ich wusste, ich würde nie Schauspielerin werden, aber ich war am Thema und an der Erfahrung interessiert. Ich hatte Verwandte, die nach Buenos Aires ausgewandert waren und die ich nie kennen gelernt hatte. Das weckte Sehnsüchte in mir, und ich war vom Tango besessen. Beim Stück von J. L. Borges ging es um ein klassisches Macho-Eifersuchtsdrama im Einwanderermilieu von Buenos Aires. Die Premiere der für die damalige Zeit schrägen Inszenierung fand am Theaterspektakel 1983 statt. Wir wurden vom Publikum buchstäblich überrannt und gingen erfolgssicher auf Tournee. So brachten wir den Tango wieder nach Europa, das heisst nach Freiburg i. Br., Hamburg, Köln, Wuppertal, Amsterdam und an den Steirischen Herbst nach Graz. Als wir nach Zürich zurückkamen, hatten wir alle Schulden, weil wir für die große Crew von 17 Leuten falsch kalkuliert hatten. In Amsterdam oder Hamburg konntest du eben nicht denselben Eintrittspreis verlangen wie in Zürich. Zu Hause war tote Hose. Die Bewegung war zerstört, das Houdini gab es nicht mehr, und ich hatte keinen Job. Ich fiel in ein Loch.
Wie hast du dich wieder aufgefangen?
Ich erzählte meinem Arzt von meiner Ratlosigkeit, und dass ich nichts mehr mit mir anfangen könne. Er arbeitete an einem Dokumentarfilm über Depressionen und lud mich zur Mitarbeit ein. Das war eine spannende Erfahrung. Ich erinnere mich noch vor allem an einen Satz: Dass für mich die Bewegung ein Ausstieg aus dieser Gesellschaft war, und ich nicht ein zweites Mal aussteigen konnte. Ich hätte in meinem Zustand durchaus in die Drogen abgleiten können.
Hat dich nicht auch das Theaterprojekt enttäuscht?
Für mich war es zu hierarchisch organisiert. Die künstlerische Leitung und die Stars standen zuoberst, dann kamen die Schauspielerinnen und Schauspieler, zuunterst waren die Techniker. Das war nicht meine Welt.
Gab es solche Unterschiede auch im AJZ?
Ich hatte zum Beispiel Hemmungen, mit den Frauen vom Frauenzimmer zusammenzuarbeiten, weil ich mich ihnen unterlegen fühlte. Sie wussten mehr als ich. Ähnlich war es in der Kultur- und Pressegruppe. Es waren eben doch nicht alle gleich, es gab durchaus Unterschiede. Alle, die bereits politische Erfahrungen hatten, waren von Anfang an in einer besseren Stellung. Für mich war alles neu und musste erst noch gelernt werden.
Was machst du heute?
Ich bin Mutter von einem neun- und einem dreizehnjährigen Sohn. Seit 1984 bin ich als städtische Gemeinwesenarbeiterin im Kreis 5 in Zürich beschäftigt, einem Stadtteil mit hohem AusländerInnenanteil und vielen sozialen Problemen. Von meinen Erfahrungen während der 80er-Bewegung ist mir vor allem das «öppis durezie» geblieben. Ich lernte, wie man zusammen mit Leuten etwas planen und durchführen kann. Nur musste ich mich noch in Geduld üben. Gemeinwesenarbeit reicht vom Aufbau von soziokulturellen Einrichtungen über Kinderarbeit an der Langstrasse bis hin zur Bereitstellung von Räumen für Gruppen aus dem Quartier, seien es tamilische Eltern, die Sprachkurse für ihre Kinder in ihrer Muttersprache machen, oder Kurdinnen und Kurden, die einen Raum für ihre Volkstanzgruppe suchen.
Neu kommt auf die Gemeinwesenarbeit die Stadtentwicklung in Zürich West zu. Wir versuchen mit am Ball zu bleiben, um die Bedürfnisse der Bevölkerung einzubringen. Damit nicht nur Nutzungsziffern und Maximalrenditen die Planung bestimmen, sondern die Leute in den neuen Siedlungen im ehemaligen Industriequartier sich auch wohl fühlen. Es braucht Angebote für Kinder, Jugendliche und Alte. Diese Bedürfnisse müssen in der Planung frühzeitig berücksichtigt werden. Nicht zuerst Wohnsilos hinstellen und dann fünfzehn Jahre später nach Problemlösungen suchen.
Chronologie: Von der Eröffnung bis zur ersten Schließung des Autonomen Jugendzentrums
28. Juni 1980 Mit einer Vollversammlung und einem Fest wird das autonome Jugendhaus an der Limmatstrasse 18-20 eröffnet. Die dringendsten Renovierungsarbeiten wurden bereits am Vormittag erledigt.
2. Juli 1980 In der Fernsehsendung «Telebühne» soll darüber diskutiert werden, in welchen Fällen Widerstand gegen die Staatsgewalt legitim ist. TeilnehmerInnen sind PolitikerInnen verschiedener Parteien sowie VertreterInnen der wenige Wochen alten Jugendbewegung. Die 10 Jugendlichen machen sich durch fastnächtliche Kostüme bemerkbar sowie durch Johlen, Klatschen, Pfeifen, Seifenblasen und Luftballons. Damit hindern sie vor allem die Repräsentant-Innen der Rechten am Reden. Die «Telebühne» wird vorzeitig abgebrochen.
12. Juli 1980 Vor dem AJZ versammeln sich rund 200 Personen, um für die Einstellung der Strafverfahren zu demonstrieren. Der unbewilligte Demonstrationszug wird von der Polizei aufgelöst: Massive Auseinandersetzungen zwischen den Bewegten und der Polizei, die bis am Sonntagmorgen andauern. Mehr als hundert Personen werden verhaftet. In der folgenden Woche wird in den Medien über das polizeiliche Vorgehen heftig diskutiert.
15. Juli 1980 Zu einem Rundtischgespräch am Schweizer Fernsehen DRS mit VertreterInnen des Stadtrates, der Polizei und der SP delegiert die Bewegung zwei VertreterInnen, die sich als Anna und Hans Müller präsentierten. Anstatt, wie erwartet, den Bewegungsstandpunkt zu vertreten, nehmen diese im Verlaufe des Gesprächs den ins Absurde übersteigerten Gegenstandpunkt eines Durchschnittbürgers aus der «Schweigenden Mehrheit» ein.
17. Juli 1980 Zehn in bekannter Müllerscher Manier aufgemachte Jugendliche laden zu einer Pressekonferenz ins Jugendzentrum – und sagen nichts.
19. Juli 1980 Auf dem Hirschenplatz findet eine behördlich bewilligte Demonstration statt. Die Bewegten protestieren gegen das Vorgehen der Polizei am 12. Juli.
1. August 1980 Das Thema «Einstellung der Strafverfahren» wird von neuem aufgegriffen: Großdemonstration mit rund 4000 Personen.
9. August 1980 Mit einem «Aktionstag für die Pressefreiheit» protestieren die Gruppe TV Zürich des Syndikats Schweizerischer Medienschaffender (SSM) und die Schweizerische Journalisten-Union (SJU) gegen die Druckversuche, die von PolitikerInnen und Wirtschaftskreisen in letzter Zeit auf die Medien ausgeübt werden.
23. August 1980 Von SympathisantInnen der Bewegung wird der «Verein pro AJZ» gegründet, mit dem Ziel, die Zürcher Bewegung finanziell und ideell zu unterstützen.
29. August 1980 Wohnungen der städtischen Siedlung Rebhügel werden besetzt. Noch am selben Tag räumt die Polizei die Häuser.
30. August 1980 Ausschreitungen mit Plünderungen, Sachbeschädigungen und einer Brandstiftung im Raum Bellevue im Anschluss an eine unbewilligte Demonstration von rund 1000 Jugendlichen.
4. September 1980 Um 5.15 Uhr nimmt die Kantons- und Stadtpolizei aufgrund eines Hausdurchsuchungsbefehls der Bezirksanwaltschaft Zürich eine gemeinsame Razzia im Jugendhaus (AJZ) an der Limmatstrasse 18-20 vor. 137 Personen, davon 66 AusländerInnen, werden ins Kripo-Gebäude gebracht. Die Polizei stellt Diebesgut, Betäubungsmittel und Waffen sicher. Die Ergebnisse der Razzia werden als Grund für die sofortige Schliessung des AJZ genannt. Die folgende VV will zwar die Schließung nicht hinnehmen; über das Vorgehen ist sie aber gespalten: Während eine Mehrheit der rund 1500 Anwesenden sich gegen sofortige Auseinandersetzungen ausspricht und für eine Großdemonstration am Samstag plädiert, ist eine militante Minderheit von etwa 200 an der VV nicht erschienen und kämpft vor dem AJZ mit Steinen und Flaschen gegen die sich im AJZ verschanzte Polizei. Heftige Auseinandersetzungen in der Gegend der Bahnhof- und Löwenstrasse.
Chronologie: Der Kampf um die Wiedereröffnung
5. September 1980 In einer ausserordentlichen Sitzung erklärt der Stadtrat, dass er an einer neuen Trägerschaft interessiert ist. Er formuliert neue, restriktivere Bedingungen für eine Wiedereröffnung des AJZ. Der Stadtrat fordert einen Restaurationsbetrieb mit entsprechendem kantonalem Patent und Betriebszeiten, die dem kantonalen Wirtschaftsgesetz entsprechen; eine Schließung von morgens 2 bis 5 Uhr; den Verzicht auf eine Notschlafstelle im Haus
6. September 1980 Für den Samstag ruft die Bewegung zu einer Großdemonstration auf: «Für die sofortige Wiedereröffnung des AJZ, aber subito, susch tätschts!» Die Menschenansammlung wird von der Polizei aufgelöst. Am frühen Abend versammeln sich rund 2000 Demonstrierende auf dem Hirschenplatz. Sie beschließen, eine unbewilligte Demonstration zur Platzspitzanlage durchzuführen und dort eine VV abzuhalten. Auseinandersetzungen zwischen den Demonstrierenden und der Polizei bis in die frühen Morgenstunden. Mehrere hundert Personen werden verhaftet.
10. September 1980 Die Bewegung diskutiert das weitere Vorgehen an einer VV im Limmathaus. Rund 2500 Bewegte sowie MedienvertreterInnen aus aller Welt sind anwesend. Man diskutiert über das Thema «neue Trägerschaft», nachdem die SP über das Scheitern der Verhandlungen mit dem Stadtrat berichtet hat. Die SP war nicht bereit gewesen, auf die restriktiveren Bedingungen einzugehen. Für die Bewegten ist klar, dass eine fremde Trägerschaft nur dann akzeptiert wird, wenn diese die Autonomie weiterhin gewährleisten kann. An dieser VV informieren Arbeitsgruppen, die am AJZ-Betrieb beteiligt waren, über ihre konkreten Erfahrungen und leiten daraus Forderungen ab, die für einen zukünftigen reibungslosen Betrieb erfüllt sein müssen: Sie bestehen auf weitere Mittel für zusätzliche Renovierungen und legen einen Arbeitsplan mit 15 Stellen vor.
20. September 1980 Eine bewilligte Demonstration, an der neben Bewegten auch Mitglieder der PDA, SAP und POCH teilnehmen, wird mit rund 8000 TeilnehmerInnen zum eindrücklichen und friedlichen Beweis der anhaltenden Mobilisierungsfähigkeit der Bewegung.
24. September 1980 Die VV der Bewegung fordert in einem Ultimatum die Wiedereröffnung des AJZ für den 1. Oktober.
27. September 1980 Von Seiten der Rechten wird auf dem Münsterhof eine «Landsgemeinde für Recht und Ordnung» organisiert: Von den rund 1000 TeilnehmerInnen gehört ein grosser Teil der Bewegung an.
1. Oktober 1980 Um 20 Uhr läuft das Ultimatum ab, in dem die Zürcher Jugendbewegung den Stadtrat aufgefordert hat, das Autonome Jugendzentrum bedingungslos wieder zu öffnen. An einer VV in der Predigerkirche diskutieren rund 2000 Jugendliche, wie sie ihrer Forderung Nachdruck verleihen könnten. Die strittigen Punkte dieser nun schon seit Wochen dauernden Verhandlungsrunden sind nach wie vor die Notschlafstelle und die Öffnungszeiten. Die Jugendlichen beauftragten den Verein Pro AJZ nur weiterzuverhandeln, wenn zugesichert wird, dass das AJZ 24 Stunden geöffnet bleibt.
2. Oktober 1980 Rund 200 AnhängerInnen der Zürcher Bewegung für eine Autonomes Jugendzentrum verbrennen während des Abendverkaufs vor dem Globus Zürcher Tageszeitungen, schiessen Feuerwerkskörper ab und deponieren im Parterre des Globus eine Stinkbombe. In der Nacht auf den 3. Oktober wird das Holzlager einer Baufirma in Brand gesteckt.
4. Oktober 1980 Mehrere hundert Bewegte demonstrieren vor dem Globus und am Bellevue. Während der Nacht weitere Aktionen mit Sachschaden. 77 Personen werden verhaftet.
5. Oktober 1980 Die Fraumünsterkirche wird von Bewegten besetzt und darauf von der Polizei geräumt. Die bürgerlichen Parteien nehmen die militanten Aktionen vom ersten Oktoberwochenende zum Anlass, den Abbruch der Verhandlungen zu verlangen. Im Zusammenhang mit den Zürcher Unruhen sind von der Bezirksanwaltschaft Zürich (BAZ) in der Zeit vom 30. Mai bis 5. Oktober rund 440 Personen in Strafuntersuchungen einbezogen worden. Die BAZ rechnet mit weiteren 100 Verfahren, die sich gegenwärtig im Stadium polizeilicher Ermittlungen befinden. Hinzu kommen 550 Anzeigen gegen unbekannte Täter. Zu diesen rund 1100 Strafverfahren sind über 100 Untersuchungen hinzuzuzählen, welche die Jugendanwaltschaft eingeleitet hat.
11. Oktober 1980 Auf der Pestalozziwiese findet eine Informationsaktion statt. Die Stadtpolizei lässt die dialogbereiten AJZ-AnhängerInnen, die mit fingierten Auseinandersetzungen ein spontanes Strassentheater mit gemimten PolizistInnen inszenieren, nicht gewähren und verhaftet 144 Personen. Nachdem diese Aktion durch die neue Einkreistaktik der Polizei verhindert worden ist, machen sich in den gemäßigten Kreisen der Bewegung Resignation, Enttäuschung und Verzweiflung breit.
14. Oktober 1980 Bewegte verüben einen Brandanschlag auf eine Baufirma. Es entsteht ein Sachschaden von 2 Millionen Franken.
15. Oktober 1980 An der VV in der Roten Fabrik distanziert sich ein Teil der Bewegten von Gewaltakten, andere sind der Ansicht, dass es keine andere Wahl gäbe. Die Zahl der TeilnehmerInnen an den VVs hat stark abgenommen. Waren im September jeweils weit über tausend Personen anwesend, so sanken die Teilnehmerzahlen im Oktober kontinuierlich und erreichten Ende Oktober kaum noch 500 Beteiligte.
24. Oktober 1980 Die erste Ausgabe einer zweiten Bewegungszeitung – «Eisbrecher» – erscheint in einer Auflage von 10000 Exemplaren.
25. Oktober 1980 Teileröffnung der Roten Fabrik: Aus dem bewilligten Demonstrationszug vom Münsterhof zur Roten Fabrik werden deren zwei: Während sich ein kleiner Teil der Jugendlichen an die bewilligte Route über das General-Guisan-Quai hält, wählen etwa 500 DemonstrantInnen einen Umweg, der vorerst zum Bezirksgebäude und anschließend durch das Engequartier führt; es werden Scheiben eingeschlagen und ein Polizeiauto beschädigt.
31. Oktober 1980 VertreterInnen der vier Organisationen, die in den letzten Wochen mit dem Stadtrat über die Bildung einer neuen Trägerschaft für das AJZ gerungen haben, erklären den Verhandlungsstopp.
1. November 1980 Sachbeschädigungen und Plünderungen in der Zürcher Innenstadt im Anschluss an die Filmpremiere von «Züri brännt» in der Roten Fabrik.
12. November 1980 Militante Anhänger der Zürcher Jugendbewegung schlagen in der Zürcher Innenstadt wahllos Scheiben zahlreicher Geschäftshäuser ein. Ein Aktivist wird von der Polizei verhaftet. Zu den Sachbeschädigungen kam es im Anschluss an die bereits traditionelle Mittwochabend-Vollversammlung der Jugendlichen, die in der Roten Fabrik abgehalten wurde.
15. November 1980 An einem gesamtschweizerischen Aktionstag machen Jugendliche mit Demonstrationen auf ihre Anliegen aufmerksam. In Zürich nehmen etwa 400 Personen in den Anlagen beim Bürkliplatz an einer bewilligten Veranstaltung teil zum Thema «Zürcher Jugendliche und ihre Anliegen». Schon bald zieht eine Demonstration durch die Bahnhofstrasse zum Paradeplatz, wobei mitgebrachter Kehricht verstreut und der Verkehr teilweise behindert wird. In einem Einsatz ohne Tränengas drängen Polizeigrenadiere die Demonstranten in den Raum Bellevue/Limmatquai ab, wo sich erneut stundenlange Krawalle abspielen.
17. November 1980 Auf die Autos von vier Bezirksanwälten werden Brandanschläge verübt.
19. November 1980 Der Stadtrat beschließt die Schließung der Aktionshalle in der Roten Fabrik. In einem Communiqué weist er darauf hin, dass die Halle für Vollversammlungen verwendet wird, nach denen es jeweils zu Ausschreitungen oder massiven Sachbeschädigungen gekommen sei. Rund 300 Jugendliche treffen sich am Abend im Limmathaus, wo sie das Gastrecht einer Versammlung der Gewerkschaft Druck und Papier erhalten.
25. November 1980 Auf das Ferienhaus von Stadträtin Lieberherr wird ein Brandanschlag verübt.
26. November 1980 Der Stadtrat kündigt eine restriktivere Praxis bezüglich der Bewilligung von Demonstrationen an.
28. November 1980 Bewegte stören den ETH-Jubiläums-Fackelzug.
2. Dezember 1980 Erster Krawallprozess: Ein Polizist wird vom Vorwurf der Tätlichkeiten und des Amtsmissbrauchs freigesprochen.
3. Dezember 1980 Rund 100 Jugendliche folgen einem Aufruf, im Kongresshaus eine VV abzuhalten, wo um 20.30 Uhr ein Konzert der «Kinks» beginnen soll. Die Polizei kreist die DemonstrantInnen ein und nimmt knapp die Hälfte der Anwesenden fest. Es kommt zu einer schweren Augenverletzung.
11. Dezember 1980 2000 Personen folgen dem Aufruf des «Eisbrechers», an einer VV im Volkshaus teilzunehmen. Die Ausgangslage für dieses Treffen ist klar: Die Redaktion des «Eisbrechers» hat in der Ausgabe vom 6. Dezember einen Aufruf an «alle Menschen mit gutem Willen» veröffentlicht. Hauptinhalte sind die Forderung nach Öffnung des AJZ für den 24. Dezember sowie die Wiederaufnahme von Verhandlungen des Stadtrats mit einer potentiellen Trägerschaft des AJZ im Januar. Der Stadtrat fühlt sich erpresst und stellt stattdessen über die Vermittlung von KirchenvertreterInnen am 24. Dezember die Roten Fabrik für ein Weihnachtsfest zur Verfügung.
12. Dezember 1980 Silvia Z. übergießt sich am Bellevue mit Benzin und stirbt später an den schweren Brandverletzungen.
13. Dezember 1980 Zwischen 100 und 150 Jugendliche sprengen die Eröffnung der «Kunstszene Zürich 1980». Als Stadtpräsident Sigmund Widmer das Wort ergreifen will, skandieren sie «AJZ, AJZ».
15. Dezember 1980 Die Jungbürgerfeier im Kongresshaus wird von der Bewegung gestört.
17. Dezember 1980 Die VV der Zürcher Jugendbewegung lehnt das Angebot aus kirchlichen Kreisen ab, am 24. Dezember in der Roten Fabrik ein Weihnachtsfest zu organisieren. Die Bewegung beschliesst, am 24. Dezember eine Demonstration unter dem Motto «No AJZ – No Wiehnacht» durchzuführen.
24. Dezember 1980 Es kommt erneut zu schweren Zusammenstössen zwischen DemonstrantInnen und der Polizei, nachdem Jugendliche versuchten, sich Zugang zum geschlossenen AJZ zu verschaffen.
29. Dezember 1980 Rund 400 Personen versammeln sich an der Beerdigung der 23-jährigen Silvia Z. auf dem Friedhof Manegg. Nach der Beisetzung ziehen rund 300 Personen in einem Schweigemarsch in Richtung Bellevue.
31. Dezember 1980 Etwa 200 KundgebungsteilnehmerInnen versammeln sich gegen 19 Uhr beim Drahtschmidli, um gegen den Teilabbruch des Jugendhauses zu demonstrieren.
14. Januar 1981 Jugendliche der Bewegung kommen an einem SVP-Parteitag zum Thema «Krawalle» zu Wort.
16. Januar 1981 Die Gruppe, welche die Zeitung «Eisbrecher» produziert hat, stellt deren Erscheinen ein. Der «Eisbrecher» , der mit seiner zehnten und letzten Nummer eine Auflage von über 20000 Exemplaren erreichte, hat die Anliegen der Bewegung in eine breitere Öffentlichkeit getragen und war in der kurzen Zeitspanne seines Erscheinens zum Begriff geworden. Der «Eisbrecher» wird sofort von einer neuen Zeitung, dem «Brächise», abgelöst.
21. Januar 1981 Leute aus der Bewegung besetzen zwei leerstehende Häuser am Limmatquai und an der Brandschenkestrasse. Diese werden noch am selben Tag geräumt.
24. Januar 1981 Rund 400 Personen lancieren eine Flugblattaktion, nachdem die vom «Komitee für ein repressionsfreies Zürich» geplante Demonstration vom Stadtrat nicht bewilligt wurde.
28. Januar 1981 Der Stadtrat bildet eine neue Verhandlungsdelegation, bestehend aus den Stadträten Wagner, Kaufmann, Koller und Bryner.
30. Januar 1981 Mit der Begründung, sie enthalte unzüchtige Bilder und rufe zu gesetzeswidrigen Handlungen auf, wird die zweite Nummer des «Brächise» – noch bevor sie in den Verkauf gelangt – von der Polizei beschlagnahmt.
31. Januar 1981 Die TeilnehmerInnen einer unbewilligten Großdemonstration gegen die Justiz und die laufenden Prozesse werden beim Landesmuseum von der Polizei eingekesselt. Rund 700 Personen müssen sich einer Personenkontrolle unterziehen.
4. Februar 1981 Im Volkshaus findet eine grosse VV mit rund 2000 TeilnehmerInnen statt, an der man versucht, sich über die Taktik des weiteren Vorgehens einig zu werden. Die neue Verhandlungsdelegation des Stadtrats wird aufgefordert, direkte Gespräche mit der VV zu führen.
12.-14. Februar 1981 Der Verein Pro AJZ organisiert im Volkshaus ein «Zürcher Tribunal», an dem massive Vorwürfe gegen die Behörden und die Polizei erhoben werden.
18. Februar 1981 Die VV diskutiert die Verhandlungsstrategie. Die einen wollen überhaupt keine Delegation, den andern ist es egal, wie das Jugendhaus «hereingenommen» wird, solange es autonom ist und zu den Bedingungen der Bewegung geöffnet wird. Der Stadtrat erklärt sich bereit, die Liegenschaft Limmatstrasse 18-20 wieder als Versammlungszentrum zu öffnen, falls sich eine geeignete Trägerschaft finden lasse.
Ende Februar 1981 Die Landeskirchen und die Pro Juventute erklären offiziell ihre Bereitschaft, sich an der Schaffung eines zweiten Autonomen Jugendzentrums zu beteiligen.
Anfang März 1981 Der Stadtrat beantragt dem Gemeinderat einen Kredit von 1.8 Mio. Franken zur Instandstellung der Liegenschaft Limmatstrasse 18-20. Damit errichtet der Stadtrat eine zweifache Hürde für die Eröffnung eines zweiten AJZ: Nicht nur muss eine derartige Kreditvorlage vom Gemeinderat beraten und akzeptiert werden, sondern sie ist auch dem Referendum unterworfen.
5. März 1981 In der VV, an der wieder über 1000 TeilnehmerInnen anwesend sind, ist man sich einig, dass es mit den Verhandlungen nicht weitergehen kann wie bisher. Die Stimmung ist aggressiv und unnachgiebig. Eine Großdemonstration soll die Forderung nach der Wiedereröffnung untermauern. Nach der VV zieht ein Teil der Versammelten zur Delegiertenversammlung der Stadtzürcher SP, um von den SP-Stadträten Auskunft über die mit der neuen Kreditvorlage verbundenen Absichten zu bekommen.
7. März 1981 Bewegte stören das nächtliche Fastnachtstreiben: Sachbeschädigungen und Plünderungen, Verkehrsbehinderungen und Beschädigungen an öffentlichen Verkehrsmitteln. Gegen das Modehaus Modissa wird ein Brandanschlag verübt.
18. März 1981 Das Schigu wird von Bewegten besetzt und zum «provisorischen AJZ» erklärt.
21. März 1981 An der bewilligten «Frühlingsdemonstration» nehmen rund 8000 Personen teil. Als der Zug das AJZ erreicht, dringen Tausende in das Areal des AJZ ein, während ein Teil des Zuges seinen Weg Richtung Helvetiaplatz fortsetzt. Am Abend räumt die Polizei das Gelände des AJZ: Gewalttätige Auseinandersetzungen und Sachbeschädigungen in der Gegend des Hauptbahnhofs.
22. März 1981 Das AJZ wird von Bewegten besetzt.
23. März 1981 Die Polizei räumt das Areal ein zweites Mal. VV von rund 100 Bewegten mit anschliessendem Protestzug durch die Innenstadt: massive Zerstörungen.
29. März 1981 Der Stadtrat orientiert über den Vertrag, der mit den Landeskirchen und der Pro Juventute, welche die Trägerschaft für ein Jugendzentrum an der Limmatstrasse 18-20 übernehmen, abgeschlossen wurde.
31. März 1981 Jene Leute in der Bewegung, die sich mit dem Wohnungsproblem befassen, organisieren sich verstärkt und führen eine erste «Wohnungsbesetzer-VV» durch, an der rund 300 Personen teilnehmen. Es werden zwei Häuser besetzt, die umgehend von der Polizei geräumt werden.
1. April 1981 Die «Aktion gegen Wohnungsnot» hält eine Pressekonferenz ab, an der Auszugs-Boykotte angekündigt werden.
2. April 1981 Um ein Referendum über den Beitrag der Stadt zum Umbau des AJZ zu vermeiden, wird die Weisung mit dem Kredit von 1.8 Mio. Franken vom Gemeinderat an den Stadtrat zurückgewiesen.
Gegen die Mühlen des Apparats
Claude Hentz, geboren 1956 in St. Paul, Minnesota, interviewt von Heinz Nigg
Mein Vater war Österreicher und stammte aus einer Familie von Berufsmilitärs. Er studierte Ingenieur. Im Krieg wurde er verletzt und verlor einen Arm. Dank seiner Sprachkenntnisse wurde er während des Kriegs von den Amis als Dolmetscher beschäftigt. Dann arbeitete er ein Leben lang als Manager für die amerikanische Firma 3M. Meine Mutter kommt aus einer streng katholischen Familie aus dem Wallis und wuchs im Tessin auf. Sie lernte meinen Vater in Zürich kennen, wo sie als kaufmännische Angestellte auf einer Bank arbeitete. Sie heirateten, zogen nach St. Paul, Minnesota, wo sich der Hauptsitz von 3M befindet, und hatten drei Kinder. Mit 27 erkrankte meine Mutter an Krebs, und wir kehrten mit ihr in die Schweiz zurück. Als sie starb, war ich gerade vier Jahre alt. Mein Vater heiratete wieder, und durch ein Entgegenkommen seiner Firma wurde er nach Europa versetzt, zuerst nach Basel, dann nach Lausanne, Wien und zuletzt nach Zürich.
Wie hattest du dich in Zürich eingelebt?
Wir wohnten zuerst in Seebach in einem modernen Wohnblock, umgeben von vielen Genossenschaftshäusern. Das war ein raueres soziales Umfeld als in Wien, wo ich die amerikanische Schule besuchte und ein von Jesuiten geführtes Knabeninternat. Nun musste ich mich wehren, mich prügeln und den Mädchen imponieren. Mit meinem österreichischen Akzent wurde ich als Ausländer angeschaut. Ich machte die fünfte und sechste Primarklasse in Seebach und ging ins Gymnasium Freudenberg. Das war im Jahr 1969 – während einer sehr aufmüpfigen Zeit! Ein Maturand wurde gerade von der Schule geschmissen. Es ging darum, dass sich die Schüler nicht politisch äußern durften – auf Wandzeitungen und in der Schülerzeitung. Auch wenn ich ein scheuer Erstklässler war, spürte ich diesen Nimbus von Frechheit und vom Sich-nicht-Einordnen. Bei den Lehrern hatte es rebellische Geister. Mein Spanischlehrer war zum Beispiel Fritz Zorn, der mit seinem Buch «Mars», einer schonungslosen Abrechnung mit dem Großbürgertum, berühmt wurde.
Wie war das Klima in deiner Familie?
Die Frau hielt die Familie zusammen, und mein Vater brachte das Geld nach Hause. Meinem Vater waren Leistung und Karriere sehr wichtig. Was er von uns im Hause abverlangte, hat er auch selbst erbracht, obwohl ihm ein Arm fehlte. Er machte alles. Es war aber gegenüber uns Kindern nicht fordernd, sondern eher liebevoll. Während der Pubertät wurde es schwierig. Mein zwei Jahre älterer Bruder hatte überall Lämpen und war von zu Hause ausgerissen. Auch ich zog mit sechzehn von zu Hause aus, weil es immer wieder zu Auseinandersetzungen gekommen war. Meine Eltern fanden für mich ein Zimmer bei einer Schlummermutter mitten in der Stadt. Von dort aus ging ich weiter zur Schule.
Wie war das, so auf dich selbst angewiesen zu sein?
Weil mein Sackgeld nicht reichte, ging ich heimlich auf die Sihlpost als Expressbote arbeiten. Mit dem Velo fuhr ich in der ganzen Stadt herum und verteilte Expressbriefe und Telegramme. Damals bekam man noch einiges Trinkgeld. In die Telegramm-Couverts konntest du hineinblasen und so den Text lesen. Handelte es sich um eine freudige Nachricht, bist du besonders freundlich gewesen. Bei etwas Dramatischem hast du eher eine ernste Miene aufgesetzt. Auf der Sihlpost lernte ich ein lustiges Konglomerat von Leuten kennen. Da hatte es Hippies, Freaks, Studenten und Mittelschüler wie ich. Meine erste grosse Liebe war eine Arbeitskollegin. Sie stand kurz vor der Matur, war also etwas älter als ich. Schon bald lernte ich das Kommuneleben in Zürich kennen. Zusammen mit meiner Freundin und sechs anderen Leuten gründeten wir eine eigene Wohngemeinschaft an der Selnaustrasse. Ich war damals an allem interessiert, was mit neuen Wohnformen zu tun hatte.
Was machtest du nach der Matura?
Ich wollte nicht studieren und fand einen Job als Hauslehrer in der Familie eines Rechtsanwalts. Ich gab den Kindern Nachhilfeunterricht und hütete sie, wenn die Eltern weg waren. Auch machte ich Putzarbeiten. Ich befreundete mich mit dieser Familie, und im Hause dieses Anwalts roch ich zum ersten Mal an der Juristerei. Über gemeinsame Wohn- und Arbeitsprojekte lernte ich später die Leute vom linken Anwaltskollektiv in Zürich kennen und begann dort Anfang 1980 als Sekretär zu arbeiten. Das heisst, ich erledigte anfänglich Schreibarbeiten für die Anwälte. Das Anwaltskollektiv wurde 1975 gegründet und kam mit seiner täglichen Rechtsauskunft einem grossen Bedürfnis entgegen: Für zwanzig Franken konntest du eine Beratung erhalten, häufig haben sie für dich noch einen Brief geschrieben oder ein Telefon gemacht. Das war gegen alle Tarifstrukturen und Konventionen, so dass du möglichst niederschwellig zu deinem Recht kommen konntest.
Wie hast du auf den Ausbruch der Unruhen im Frühjahr 1980 reagiert?
Schon nach der ersten Krawallnacht wurden wir im Anwaltskollektiv damit konfrontiert, dass unzählige Leute verhaftet worden waren. Wir begannen einen Anwaltspool zu organisieren und Anleitungen herauszugeben, wie man sich verhalten soll, wenn man verhaftet wird: Was sind deine Rechte, und wann soll man Aussagen verweigern. Mein Kontakt zur 80er-Bewegung war intensiv. Im Anwaltskollektiv hatten wir noch einen zweiten Stock. Den stellten wir der spontan gebildeten Knastgruppe zur Verfügung. Da war ich von Anfang an dabei. Das war eine spannende und konspirative Tätigkeit. Die Knastgruppe war eine Anlaufstelle für alle, die in die Fänge der Justiz gerieten. Wir bereiteten Strafanzeigen gegen Polizisten vor, die wir bei Übergriffen gegen DemonstrantInnen ertappt hatten.
Welches war die Taktik der Verteidigung, wenn DemonstrantInnen vor dem Richter standen?
Wenn jemand die Aussage verweigerte, hatte die Anklage die Beweislast. Sie musste nachweisen, dass der Angeklagte an einem bestimmten Ort gewesen war. Zeugen mussten aufgeboten werden, um bei einer Gegenüberstellung mit dem Angeklagten und einer Gruppe von ähnlich aussehenden Personen richtig zu tippen. Wenn sie daneben tippten, wurde das Verfahren eingestellt. Der Justizapparat investierte allerdings viel, um die Leute verurteilen zu können.
Wurden bei den Verurteilungen auch mildernde Umstände berücksichtigt?
Wesentlicher war, dass Exponenten der Bewegung und solche, die sich den Strafverfahren verweigerten, härter bestraft wurden. Es gab etliche, die keine mildernden Umstände für sich geltend machen ließen oder sich den Prozessen gänzlich verweigerten wie der durch seinen Fernsehauftritt als «Herr Müller» bekannt gewordene Aktivist. An ihm wurde ein Exempel statuiert. Als eine der Symbolfiguren der Bewegung deckten sie ihn mit einer Strafe von vierzehn Monaten unbedingt ein.
Welche psychischen Auswirkungen hatten die Strafverfahren auf die Verurteilten?
Es kam ganz drauf an, wie gut jemand in eine Szene eingebettet war. Wenn einer verhaftet wurde, der zum Beispiel in einer Kommune oder in einer Wohngemeinschaft lebte, kümmerten sich die MitbewohnerInnen natürlich um ihn und holten Rechtshilfe. Wenn dann eine wegen eines Vergehens drei oder vier Wochen Gefängnis erhielt, war dies für jemanden aus einer solchen Szene einigermaßen verkraftbar. Ganz anders war das zum Beispiel für einen Lehrling, der bei einer Demonstration mitmachte und verhaftet wurde. Natürlich war er vielleicht auch mit Kollegen dort. Aber den ganzen Konflikt, den er nachher hatte – mit den Eltern, dem Lehrmeister und mit der Frage, wie es für ihn weiterginge -, musste er alleine austragen. Viele, die nicht gut vernetzt waren, sind abgestürzt und aus der Bewegung wieder herausgespült worden. Die haben wirklich einen Schuh voll herausgezogen. Etliche Drogenkarrieren nahmen damals ihren Anfang.
Auch darf man nicht die Wirkung der Untersuchungshaft unterschätzen. Am Anfang der Unruhen, als ich einmal verhaftet wurde, war ich nach zwanzig Stunden wieder draußen. Aber manche saßen viel länger in U-Haft, zwei Wochen und mehr. Das war ein Instrument, um Druck auf die Bewegung zu machen und uns zu verstehen zu geben: Jetzt lassen wir nichts mehr durch.
Wie ging es für dich und das Anwaltskollektiv nach dem Ende der Bewegung weiter?
Gegen tausend Leute wurden allein in Zürich in Strafverfahren verwickelt, kamen also in die Mühlen des Apparats hinein. Viele wurden verurteilt, auch wenn es kleinere Strafen waren. Auch das zeigte seine Wirkung. Charakteristisch für die 80er-Bewegung war ja die Vielfalt der Ausdrucksformen – von militant bis dadaistisch witzig. Jetzt blieben die Fronten verhärtet, und die Militanz durch einzelne Gruppen nahm zu. Es kamen die Winterthurer Prozesse. Da ging es um militante Jugendliche, die durch einen Sprengstoffanschlag auf den Fensterladen von alt Bundesrat Friedrich sowie durch eine Reihe von Brandanschlägen und Sprayereien in der Stadt Winterthur aufgefallen waren. Das ganze Umfeld des harten Kerns wurde eingesackt. Meine Aufgabe war es, Anwälte für diese dreissig Leute aufzubieten und eine Gruppe von betroffenen Eltern zu koordinieren. Mit der Knastgruppe wurde eine Demo organisiert. Das war dringend notwendig, weil in Winterthur die Repression unerbittlich zugeschlagen hatte, ungeachtet des Alters der Verhafteten, ihrer Lebensumstände und ihrer Rolle in dieser Szene. Das Umfeld und die Freundinnen wurden zum Beispiel in Untersuchungshaft gesetzt, um mit Druck Informationen über den harten Kern, die «bösen Buben», zu kriegen In dieser Situation änderten wir im Anwaltskollektiv unsere Taktik. Es war eine Abkehr vom Klandestinen. Mit Witz stellten wir uns öffentlich hinter die Jugendlichen. Während zehn Tagen kochten wir in einer Szenenbeiz von Winterthur. Das machte Spass und zeigte allen, wie wichtig die Solidarität mit den Anliegen der Jugendlichen war, auch wenn man mit ihrer Politik und ihrem Vorgehen nicht immer einverstanden war. Auch später, bei den Häuserbesetzungen am Stauffacher in Zürich, setzte sich die Abkehr vom Klandestinen zum öffentlich-witzigen Agieren durch.
Wie konntet ihr den Andrang in eurer Rechtsberatung bewältigen?
Wir konnten das alles nicht mehr alleine machen. Wir schufen ein neues Gebilde: den Verein Rechtsauskunftsstelle Anwaltskollektiv. Diese Beratungsstelle gliederten wir aus unserem Kollektiv aus. Sie blieb zwar am gleichen Ort, aber die Arbeit wurde auf mehr Anwältinnen und Anwälte verteilt. Heute sind es etwa siebzig AnwältInnen, die die Rechtsauskunft mit einem monatlichen Beitrag unterstützen und im Turnus Beratungen erteilen. Zehn Jahre war ich Generalsekretär dieses Vereins, baute ihn auf und aus. Ich machte das sehr gerne, und nebenbei war ich und die Rechtsauskunftsstelle an mehreren politischen Kampagnen beteiligt: gegen den Neubau von Gefängnissen, gegen das Polizeigesetz oder für die Initiative «Rechtsschutz in Strafsachen». Auch initiierten wir das Pikett «Strafverteidigung». Das ist ein Pikettdienst, der im Falle von Verhaftungen Anwälte organisiert. Nach zehn Jahren machte ich einen Unterbruch von einem halben Jahr, fuhr nach Südamerika und lebte auf einem Segelboot, um mir den Kopf zu verlüften. Dann entschloss ich mich, nach so vielen Erfahrungen mit der Justiz neben meiner Arbeit das Jus-Studium nachzuholen und das Anwaltspatent zu erwerben. Seither praktiziere ich als Anwalt im gleichen Umfeld, wo ich nun seit zwanzig Jahren tätig bin, allerdings mit einer neuen Crew. Unser Büro ist vor allem im Strafbereich engagiert. Wir organisieren jährlich einen Strafverteidiger Kongress, um dem gegenwärtigen Rollback im Strafrecht und im Strafvollzugsrecht etwas entgegenzusetzen. Wir sind dagegen, dass gesellschaftliche Probleme primär mit strafrechtlichen Mitteln angegangen werden oder mit dem Mittel der Psychiatrisierung.
Lohnt es sich, gegen Unrecht einzustehen?
Ich komme aus der linken Tradition der siebziger Jahre, angefangen vom Gefängniskritiker Foucault bis hin zur Auseinandersetzung um Baader/Meinhof und RAF. Aus dieser Tradition der radikalen Staatskritik heraus stellt das Strafen im Grunde einen Unsinn dar. Der Repressionsapparat wird immer dann eingesetzt, wenn eigentlich gesellschaftliche Konflikte gelöst werden müssten. Gerade die Achtziger setzten demgegenüber alles auf die Autonomie, das heißt auf das eigene Lösen von Problemen. Der Staat hätte die hohen Kosten der Repression im Drogenbereich durchaus sparen können, wenn dem Experiment der kontrollierten Drogenabgabe im AJZ mehr Beachtung geschenkt worden wäre. Die Idealvorstellungen einer repressionsfreien Gesellschaft liegen heute am Boden. Bis weit in linke und feministische Kreise hat sich das Primat der Strafverfolgung durchgesetzt. Beim Umweltschutz, bei den Sexualstraftätern – überall wird auf Bestrafung gepocht. Mit diesem Selbstverständnis werden wichtige Instrumente der Prävention, des gesellschaftlichen Diskurses und der Selbsthilfe geopfert: in Zürich die Gassenarbeit der ZAGJP, das Frauenhaus, ein Treffpunkt für Kosovo-Albaner usw. Das hat einen grossen Flurschaden verursacht. Die Gesellschaft muss fähig sein, sich zu verändern und neue Ansätze der Konfliktlösung zu finden, ohne auf die repressiven Instrumente zurückzugreifen und im Strafen zu verharren.
Chronologie: Von der zweiten Eröffnung bis zur autonomen Schliessung des AJZ
3. April 1981 Das AJZ wird mit einer VV und einem Fest ein zweites Mal eröffnet.
17. April 1981 In den Parkanlagen am rechten Zürichseeufer werden Baracken errichtet. Die Siedlung Chaotikon soll auf die Wohnungsnot aufmerksam machen.
Während einer Woche leben dort 50 bis 100 Bewegte.
24. April 1981 Das Chaotikon wird durch das Gartenbauamt und die Polizei geräumt: Vergeltungsaktionen auf der Strasse.
27. April 1981 Nur dank massivem Polizeischutz kann das Zürcher Sechseläuten in der gewohnten Form durchgeführt werden. Die Bewegung hat schon seit der Wiedereröffnung des AJZ in ihren Publikationen mit der Störung des Festes gedroht, falls keine Amnestie für alle Angeklagten erlassen werde. Immer wieder versuchen maskierte Jugendliche, den Umzug zu stören und werfen Knall- und Rauchpetarden gegen Pferde und UmzugsteilnehmerInnen.
31. April 1981 Bewegte beginnen mit dem Bau von Neu-Chaotikon auf einer Insel in der Sihl in unmittelbarer Nähe des wiedereröffneten AJZ.
1. Mai 1981 Am Tag der Arbeit stören Bewegte den Umzug der Gewerkschaften. Die abschließende Kundgebung auf dem Münsterhof muss vorzeitig abgebrochen werden, da es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaftern und Bewegten kommt. Eine Nachdemonstration von rund 500 Bewegten wird von der Polizei aufgelöst.
6. Mai 1981 An der von rund 600 Personen besuchten VV wird versucht, die Ereignisse vom 1. Mai zu verarbeiten, wobei militante Bewegte kritisiert werden. Nach der VV bauen einzelne Bewegte Barrikaden an der Limmatstrasse, andere Bewegungsleute brechen diese sofort wieder ab. Am Abend kommt es zu Handgreiflichkeiten unter den Leuten aus der Bewegung.
Mitte Mai 1981 Die Zeitschrift «Brächise» stellt nach internen Streitigkeiten ihr Erscheinen ein.
19. Mai 1981 Die Polizei räumt Neu-Chaotikon. Aus Protest gegen die Räumung beginnen Bewegte am Abend, den Belag des Busparkplatzes neben dem AJZ mit Pressluftbohrern aufzureissen. Die Polizei greift ein.
23. Mai 1981 Die Bewegung schließt vorübergehend das AJZ: Einerseits als Protest gegen die Inhaftierung von Bewegungsmitgliedern ohne jegliche Rechtsgrundlage, aus Protest gegen die verschärfte Justizrepression und als nachdrückliche Forderung für die sofortige Einstellung aller Strafverfahren; andererseits aber auch als Signal für jene AJZ-BenützerInnen, die das AJZ als «Konsumtempel» und «Obdachlosenasyl» betrachten.
26. Mai 1981 Die VV beschließt, den Betrieb im AJZ besser zu strukturieren und mit Hilfe der Verstärkung der Nachtwache einen Ordnungsdienst zu schaffen, der vor allem gegen HändlerInnen von harten Drogen auftreten kann.
30. Mai 1981 Am Jahrestag des Opernhauskrawalls wird eine «Jubiläums-Demonstration» vor dem durch die Polizei abgeschirmten Opernhaus veranstaltet. 150 Bewegte nehmen teil. Das anschließend stattfindende Jubiläumsfest im AJZ wird ein Publikumserfolg: Rund 2000 Personen besuchen das Fest. Am Abend beschädigen einige Bewegte Gebäude, Fahrzeuge und öffentliche Einrichtungen, worauf die Polizei eingreift. In der gleichen Nacht erfolgen verschiedene Brandstiftungen – unter anderem in einer Lagerhalle einer Baufirma. Schadenssumme: eine Million Franken.
3. Juni 1981 An der VV werden die militanten Bewegten wegen ihrer provokativen Demonstration vom 30. Mai vor dem Opernhaus vehement angegriffen. Eine Aussprache führt nicht zur Einigung. Etwa 50 Mitglieder der Bewegung ziehen nach der VV vors Rathaus, wo sich der Gemeinderat zu einer Nachtsitzung versammelt hat. Danach werden die ParlamentarierInnen mit Schmährufen und Tätlichkeiten empfangen.
11. Juni 1981 Die Polizei räumt das seit dem 18. März besetzte Schigu.
15. Juni 1981 Die Polizei führt im Zürcher AJZ eine Personenkontrolle durch.
12 steckbrieflich gesuchte Personen werden festgenommen.
25. Juni 1981 Bei einer zweiten Personenkontrolle im AJZ werden 107 Personen, die sich nicht ausreichend ausweisen konnten, überprüft. 23 Leuten werden Diebstähle, Betrugsdelikte oder Drohung gegen Beamte vorgeworfen.
26. Juni 1981 Die VV protestiert gegen die Razzien und betont, dass Personenkontrollen dieser Art in Zukunft nicht mehr einfach so hingenommen werden.
9. Juli 1981 Auf die dritte Razzia reagiert die Bewegung mit einer kleinen Demonstration und erheblichen Sachbeschädigungen. Das AJZ wird völlig mit Tränengas eingenebelt.
10. Juli 1981 Scharmützel zwischen Bewegten und der Polizei. Es folgt eine Serie von Brandanschlägen, die grossen Sachschaden verursachen.
1. August 1981 Bewegte versuchen, die offizielle 1. August-Feier zu stören. Sachschäden in der Zürcher Innenstadt.
Ende August 1981 Die verbliebenen politischen AktivistInnen wollen weg von der Hängerszene und der resignierten Atmosphäre im AJZ. Die VV wird in die Rote Fabrik verlegt. Bis Ende August 1981 sind insgesamt fast 4000 Personen im Zusammenhang mit den Jugendunruhen verhaftet und rund 1000 Strafverfahren eingeleitet worden.
Anfang September 1981 Der Arbeitsgruppe «Bau» im AJZ geht das Geld aus. Anfang September steigt die Zahl der obdachlosen Hänger, der Alkohol- und Drogensüchtigen im AJZ erneut sprunghaft an. Aus dem Selbstverwaltungsexperiment wurde ein Sozialasyl, freilich ohne die hierfür erforderlichen Einrichtungen.
8. September 1981 Im AJZ wird die vierte Razzia durchgeführt. Die Bewegten reagieren jedoch kaum darauf.
Herbst 1981 Der Wahlkampf für die Stadt- und Gemeinderatswahlen vom 7. März 1982 beginnt.
1. Oktober 1981 Nach der fünften (und letzten) Razzia im AJZ kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei rund um das AJZ sowie zu verschiedenen Brandanschlägen.
Chronologie: Das Ende des AJZ und der Bewegung
12. Oktober 1981 Eine von rund 400 Leuten besuchte VV hat Verständnis für die bedrängten Arbeitsgruppen und stimmt mit grossem Mehr einer «Entrümpelungs- und Entgiftungsaktion» zu. Das AJZ wird dazu geschlossen. Die Stimmung ist schlecht. An eine umgehende Wiedereröffnung des AJZ denkt niemand mehr, man will sich Zeit lassen.
Anfang November 1981 Leute aus den AJZ-Arbeitsgruppen treffen sich im Beisein der Trägerschaft mit VertreterInnen des Stadtrates und sprechen über das Drogenproblem, die externe Notschlafstelle und Fragen zu den Finanzen.
21. November 1981 Eine von verschiedenen mit der Bewegung sympathisierenden Organisationen angekündigte Demonstration gegen die Repression in Zürich wird verboten und durch die Polizei bereits im Ansatz verhindert.
Dezember 1981 Ein Bewegter, der sich als vierter Kandidat für das Stadtpräsidium beworben hat, stellt zusammen mit seiner Partei «Das nackte Chaos» das Wahlprogramm vor.
Mitte Dezember 1981 Eine VV in der Roten Fabrik beschliesst, das AJZ ab Weihnachten für 14 Tage zu öffnen.
24. Dezember 1981 Die Demonstration an Weihnachten, zu der ein Verein «Demonstration am 24. Dezember 1981» aufgerufen hat, wird nicht bewilligt. Sie findet nicht statt. Stattdessen: Scharmützel zwischen Bewegten und der Polizei. Das AJZ wird mit einer VV und einem Fest für 14 Tage geöffnet. Rund 600 Leute nehmen an der Wiedereröffnung teil.
Ende Dezember 1981 Die Blockierungstaktik der Stadt hat zur Folge, dass den Arbeitsgruppen Ende des Jahres praktisch keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung stehen. Für das kommende Jahr sieht das von der Trägerschaft und den Arbeitsgruppen ausgearbeitete Budget zudem ein hohes Defizit voraus.
Anfang Januar 1982 Der Stadtrat unterbreitet eine Vorlage über 15 Millionen Franken für den Ausbau und Umbau des Jugendhauses Drahtschmidli. Damit soll aus dem 22-jährigen Provisorium Drahtschmidli endlich ein definitives Jugendhaus werden.
Anfang Januar 1982 Nach der 14-tägigen provisorischen Wiedereröffnung diskutieren rund 300 Bewegte an einer VV, ob das AJZ weiterhin geöffnet bleiben soll: Die Fixer und Hänger setzen sich vehement gegen eine Schließung zur Wehr; die meisten Arbeitsgruppen plädieren für die Einstellung des Betriebs.
18. Januar 1982 Eine Wahlveranstaltung des Bürgerblocks im Limmathaus, an der die Probleme im Kreis 5 zur Sprache kommen sollen, wird von Bewegten gestört.
Ende Januar 1982 Die Arbeitsgruppe «Drogen» führt im AJZ eine «Drogenwoche» durch, die viele Interessierte anzieht.
Anfang Februar 1982 Die Trägerschaft fordert vom Stadtrat einen externen Fixer-Raum, für den die «Vereinigung unabhängiger Ärzte» die Verantwortung übernehmen und die Betreuung organisieren soll. Das Sozialamt verspricht, das Projekt zu prüfen – es geschieht jedoch nichts mehr in dieser Angelegenheit.
5. Februar 1982 Im Dachstock des AJZ wird Feuer gelegt. Verschiedene Räumlichkeiten werden zerstört.
Ende Februar 1982 Die Arbeitsgruppe «Drogen» beschliesst, das AJZ nur noch freitags, samstags und sonntags zu öffnen. An den übrigen Tagen wird das AJZ mit einem Maschendraht umzäunt und bewacht. Drogensüchtige und DealerInnen verunmöglichen jedoch, diesen Beschluss durchzusetzen.
7. März 1982 Die Bürgerlichen gewinnen die Stadtratswahlen. Alle fünf Kandidaten der bürgerlichen Koalition werden gewählt, Stadtpräsident wird Thomas Wagner (FdP). Die Antwort militanter Gruppen: Das Rathaus wird mit Farbe beschmiert, an drei verschiedenen Orten in der Innenstadt wird Feuer gelegt und der Handel an der Börse durch eine Rauchpetarde lahmgelegt.
Mitte März 1982 Die Trägerschaft beschliesst, das AJZ vorübergehend zu schließen. Das Vorhaben lässt sich jedoch nicht durchsetzen.
17. März 1982 Die Trägerschaft gibt auf. Sie löst den Vertrag mit der Stadt Zürich per sofort auf und gibt die Schlüssel für die Gebäude an der Limmatstrasse 18-20 zurück. Noch am selben Tag lässt der Stadtrat das Areal räumen, wobei 118 Personen, die sich noch im AJZ befinden, festgenommen werden. Zur selben Zeit finden in Winterthur die ersten Geschworenengerichtsprozesse gegen Angeklagte aus der Bewegung statt. Während die Justiz mit aller Härte gegen die Angeklagten aus der Bewegung vorgeht, verlaufen die meisten der rund 180 Strafverfahren gegen Polizeibeamte im Sande oder enden mit einem Freispruch.
23. März 1982 Das AJZ wird abgebrochen. Nur noch militante Gruppen reagieren: Ausschreitungen und Sachbeschädigungen in der näheren Umgebung des ehemaligen AJZ.
28. März 1982 Eine Demonstration von rund 1000 Bewegten gegen den Abbruch wird mit Tränengas aufgelöst.
Züri Brännt (Dokufilm, 100 Minuten)