Fiat im „Heißen Herbst“: Arbeitergemeinschaft

Die autonomen Arbeiter*innenkämpfe bei FIAT Ende der 60iger, Anfang der 70iger gehörten wohl zu den Geschehnissen in Italien, die damals mit am meisten mit der Hoffnung verknüpft waren, “den Himmel zu stürmen”. Vieles bleibt ja nur als vage Erinnerung erhalten, vieles gerät in Vergessenheit, so z.B. dass damals eigentlich alle antagonistischen Gruppierungen in den Fabriken verankert waren, auch die bewaffneten. Über die Kämpfe bei Fiat mag dieser Text vielleicht ganz gut Auskunft geben, auch wenn er als Auszug weder die Genese dieser Organisierung, noch ihr tragisches Scheitern (u.a. an den eigenen Begrenzungen) abzubilden vermag. Der Text entstammt dem Buch ‘Lavorare in Fiat’ von Marco Revelli, dass von den Genoss*innen von ‘wildcat’, (früher Karlsruher Stadtzeitung) komplett übersetzt und in ihrer Reihe ‘TheKla’ veröffentlicht wurde. Wir haben das Original etwas bearbeitet um es online stellen zu können (die Fußnoten haben wir aus praktischen Gründen weggelassen). Wir setzen damit unsere lose Reihe zur italienischen Autonomia und der italienischen Arbeiter*innenbewegung fort. Sunzi Bingfa

Das 1969 der Arbeiter trifft das Fiat-Establishment unvorbereitet. Gerade mal zwei Jahre vorher hatte Giovanni Agnelli seinen Bericht an die Aktionäre noch damit eröffnet, daß er die beispiellose Entwicklung des Betriebs feierte, durch die der Anteil von Fiat an der Automobilproduktion in der EG auf über 21% und weltweit von 5 auf 6% gestiegen war. Und noch im Jahr zuvor − 1968! − schloß der Geschäftsbericht in euphorischer Stimmung mit einem »ganz großen Lob an unser Personal − Manager, Angestellte und Arbeiterschaft − für den Teamgeist und das Pflichtbewusstsein, das sie bei der Erfüllung der ihnen anvertrauten Aufgaben gezeigt haben« Und mit der Behauptung, die Auslastung der Anlagen habe inzwischen 90% überschritten. Jetzt mußte man plötzlich fast 20 Millionen Streikstunden (ca. 7% der italienischen Gesamtzahl: 294.850.000) und einen »Produktionsverlust im Wert von 277.000 PKWs und 7.800 Traktoren« feststellen. Angesichts einer »theoretisch möglichen Produktion« von über 1.600.000 Einheiten, die durch die Erweiterung der Anlagen und die Aufstockung des Personals von 158.000 auf 170.000 möglich geworden war, − so informierten die „Nachrichten für Aktionäre“ − hatte die reale Produktion gerade mal 1.400.000 überschritten und war damit gegenüber 1968 um 3,3% zurückgegangen: Die angegebene Zahl von 1.480.000 abgesetzten Autos war nur durch den Verkauf von Lagerbeständen erreicht worden und hatte nicht ausgereicht, um die Nachfrage zu decken, so daß der Absatz ausländischer Autofirmen um 37% gestiegen war. In Wirklichkeit hatte der „Heiße Herbst“ bei Fiat schon im späten Frühjahr begonnen. Um genau zu sein, am 11. April, als der landesweite dreistündige Streik wegen der Ereignisse von Battipaglia unvorhergesehenerweise befolgt wurde, und die Arbeiter, vor allem die Immigranten, die Arbeit massenhaft niederlegten und an den erbleichenden Führungs- und Wachschutzleuten vorbeizogen. In der Kantine von Mirafiori Süd stieg ein mutiger Arbeiter− Francesco Morini, FIM-Mitglied und PSIUP -Aktivist − auf einen Tisch und sprach vor 1.500 Arbeitern über die Solidarität zwischen dem Norden und Süden und über die Arbeitsbedingungen in der Fabrik.

Es war die erste Versammlung bei Fiat seit Mitte der 50er Jahre, der erste Riß in einem System des totalen Kommandos. Ab diesem Moment war ein Mechanismus in Gang gekommen, den die Sozialhistoriker gut kennen: In Extremsituationen explodiert und verbreitet sich der Kampf mit einer Geschwindigkeit und einer Intensität, die dem Ausmaß des erlittenen Zwangs entsprechen, wobei er gewöhnlich in den Bereichen mit der höchsten Qualifikation und dem entwickeltstem Bewusstseinsstand, unter den sogenannten „Arbeiteraristokratien“, ausbricht und dann wie eine Seuche immer schneller und radikaler auf die vermassten und dequalifizierten Schichten übergreift.

Angefangen hatten am 13. Mai die 8.000 in der Werkzeugmacherei beim Presswerk Süd − die Unità sollte sie als »die Crème de la Crème der Facharbeiter im Konzern«, bezeichnen −, die schon lange über den Verlust ihrer Autonomie durch die Einführung neuer CNC-Maschinen besorgt waren. Aufgrund ihrer zentralen Rolle zogen sie sofort eine ganze Reihe von angrenzenden Werkstätten mit hinein und beeinträchtigten äußerst verletzliche Stellen des Produktionsmechanismus. Sie forderten die Abschaffung von Lohngruppe 3, den Aufstieg in höhere Qualifikationen nach dem Ermessen der betroffenen Arbeiter und die Festlegung von betrieblichen Zulagen: Forderungen, die in vielen Versammlungen bei der Camera del Lavoro und an den Werkstoren formuliert worden waren.

Ihnen waren am 18., 19. und 20. Mai im Verlauf einer unkontrollierbaren Kettenreaktion die 1000 Staplerfahrer bei Mirafiori Süd gefolgt, die die betriebsinternen Telefone nutzten, um sich untereinander abzusprechen, dann (am 21. Mai) die Kranführer − die durch ihre bloße Untätigkeit »die Halle des Großen Presswerks auf einen Haufen von Blech und Schrott« machten, »wodurch es geradezu unmöglich wurde, zwischen den Maschinen durchzukommen«−, die Beschäftigten im Großen Preßwerk (am 22. Mai) und schließlich, am 23. Mai, die aus dem Kleinen und Mittleren Preßwerk. Am 26. Mai war Halle 13 (Komponentenrohbau) zum Stehen gekommen, eine strategische Position am Übergang zwischen Presswerk und Rohbau, und am 27. Mai hatte der erste Umzug im Betrieb mit ca. 5.000 Arbeitern stattgefunden. Überall waren Versammlungen abgehalten worden. In jeder Abteilung, die nach und nach vom Kampf erfaßt worden war, waren Delegierte gewählt worden.

Am 28. Mai war ein erstes Abkommen zwischen den Gewerkschaften und der Geschäftsleitung abgeschlossen worden, aber die Streiks waren nicht abgerissen. Im Gegenteil, sie griffen das erste Mal auf den Rohbau über, eine Konzentration von über 15.000 Arbeitern, fast alle am Band, fast alles Immigranten. Zuerst waren die Lackiererei und die Montage zum Stillstand gekommen, wo die Produktion schon seit längerem ins Stocken geraten war, weil kaum noch Materialnachschub aus dem Presswerk kam (das lange Förderband, das das Preßwerk mit dem Rohbau verband, der einzige „Puffer“ zwischen den beiden Abteilungen, sicherte gerade mal 24 Stunden Unabhängigkeit). Dann hatten sich die spontanen Arbeitsniederlegungen wie ein Steppenbrand auf die Sattlerei und den Rohbau ausgeweitet, wo es schon seit längerem Auseinandersetzungen über die Regelung der Fließbandarbeit gegeben hatte. Das Eingreifen der Rohbau Abteilungen hatte die Situation verschärft und das Wesen des Kampfes selbst stark verändert. Das war der empfindlichste Bereich im gesamten Konzern, wo die Frage des Kommandos über die Arbeitskraft am stärksten im Mittelpunkt stand, wo die Spannungen am gewalttätigsten und der Prozess der Einverleibung der Menschen ins Maschinensystem am brutalsten waren (dort fingen monatlich fast tausend neue Arbeiter an, die komplette Belegschaft einer mittelgroßen Fabrik, und fast ebenso viele verließen sie jeden Monat, verzweifelt, weil sie die Rhythmen nicht ertragen konnten).

Dort streikten die Arbeiter auch nicht brav und anständig und wählten ihre Delegierten wie in der Werkzeugmacherei und im Presswerk. Wenn sie sich bewegten, war es eher wie ein plötzliches, wütendes Aufflammen: Sie brachten die Bänder durch unangekündigte wilde Streiks zum Stehen und fielen massenhaft in die Nachbarabteilungen ein. Sie stellten weder ausgearbeitete Forderungen auf, noch beteiligten sie sich an den Versammlungen in den Gewerkschaftsbüros. Sie bewegten sich für einfache, aber unmittelbar vereinheitlichende Ziele: „Mehr Geld, weniger Arbeit“, Lohngruppe 2 für alle und weniger mörderische Rhythmen. Die Geschäftsleitung hatte sich an diesem Punkt für ein hartes Vorgehen entschieden. Sie hatte mit der fristlosen Kündigung von Tausenden von Arbeitern in den von den Unruhen lahmgelegten Abteilungen gedroht und durchblicken lassen, daß Fiat, falls sich die Auseinandersetzung zuspitzen sollte, aus den landesweiten Metall-Tarifverhandlungen aussteigen würde. Die Gewerkschaften gaben sich unbeeindruckt. Aber in Wirklichkeit wussten weder die einen noch die anderen, wie sie mit dieser Ausnahmesituation umgehen sollten, deren Triebfedern sie nicht mal richtig durchschauten.

Was da schon Anfang Juni allein bei Mirafiori zu 1.134.000 Streikstunden geführt und in 40 Tagen Forderungs-Kleinkrieg einen Produktionsausfall von 40.000 PKW (etwa ein Viertel der für diesen Zeitraum geplanten Gesamtproduktion) verursacht hatte, war allerdings eine völlig ungewöhnliche Art von Kampf, dessen Ausweitung in vieler Hinsicht anomal verlief. Die FIOM- und FIM-Aktivisten sowie die Fabrik Kader von KPI und PSIUP hatten zwar durch die Sensibilisierung der Arbeiter gründliche Vorarbeit für den Kampf geleistet, aber er schien sich nicht mehr wie bisher vor allem über den Apparat, die Gewerkschaften oder Parteien, sondern direkt über die technische Gliederung der Fabrik zu verallgemeinern. Über die Arbeitsorganisation selbst, könnte man sagen. Die Verbreitung des Kampfs und der Information unterliegt hier nicht mehr vorrangig der formellen Struktur der Gewerkschaft, dem Umlaufen des gesprochenen oder geschriebenen Worts, dem Projekt irgendeiner organisierten Gruppe. Eher überträgt sich − zumindest, solange sich die Kämpfe ganz intensiv ausweiten − die stumme Sprache der Dinge an den Fließbändern von Abschnitt zu Abschnitt und drückt sich im Versiegen des Materialnachschubs, in der Verlangsamung des Bands und im Stillstand der Maschinen aus. Eben weil der Arbeitszyklus so stark integriert ist und technisch alles voneinander abhängt, pflanzen sich Produktionsverlangsamungen und -stillstände über das Labyrinth der Förderbänder und die streng geradlinigen Transferstraßen von einem Punkt der riesigen Fabrik zum anderen fort. Und genau deshalb gewinnt der Kampf auf dem Weg des Produkts eine neue Gestalt, weil er sich sozusagen der komplexen Gestalt des Arbeitszyklus anpasst, die den Arbeiteraugen bislang verborgen war und nun durch die Rebellion mit einem Schlag sichtbar wird, so daß man sagen könnte, hinter der Spontaneität der Menschen stecke die geometrische Rationalität des Maschinensystems mit ihren unerbittlichen Gesetzen. Das nimmt den Menschen, den „Avantgarden“, der Anhäufung von Erfahrung und Wissen natürlich nichts von ihrer Bedeutung. Und auch die Tausende täglich verteilter Flugblätter und die leidenschaftlich diskutierenden Menschentrauben, die damals die Plätze vor den Werkstoren in eine Art hektische Agor) verwandelten, auf der unzählige organisierte Gruppierungen intervenierten, spielen weiter eine bedeutende Rolle. Aber ausschlaggebend für die Ausweitung des Kampfs in diesem perfekten Uhrwerk, das plötzlich anfängt, rückwärts zu laufen, sind letztenendes, und noch bevor subjektivere Mittel der Verallgemeinerung wie die inneren Umzüge auftauchen, die technischen Verbindungen. Wenn es an irgendeinem Punkt kriselt, werden die Krise des Kommandos und die Verweigerung von der perfekt durchgeplanten Produktion mit ihren völlig voneinander abhängigen Arbeitsschritten auf immer höherer Stufenleiter verbreitet und reproduziert.

Genau über diese Schiene nehmen trotz der zahlreichen Abschlüsse (in diesen zwei Monaten gab es über hundert Vertragsabschlüsse bei Mirafiori) die spontanen Streiks weiter zu (besonders spektakulär ist der unbefristete Streik von Halle 54 mit der Forderung nach 100 Lire mehr und Lohngruppe 2 für alle, der den gesamten Rohbau vom 16. bis zum 21. Juni blockiert) und spitzen sich am 3. Juli in der ausgedehnten Straßenschlacht auf dem Corso Traiano richtiggehend gewalttätig zu. Und ein wilder Streik, der sich in Halle 32 (einem der empfindlichsten Punkte der Fabrik, der Motorenwerk, Presswerk und Rohbau miteinander verbindet) mit einer noch nie dagewesenen Radikalität und einer weder vorhergesehenen, noch gewollten, noch überhaupt von irgendjemandem kontrollierbaren Dynamik entzündet hat, läßt Anfang September wiederum über diesen Mechanismus bei Fiat die Herbst Auseinandersetzung losbrechen. »Wir haben am 2. September losgelegt«, erinnert sich Gerolamo Chinzer, der Arbeiter, der bei diesem Streik den Anfang gemacht hatte. »Innerhalb weniger Minuten entzündete sich der Kampf in unserer Mannschaft und weitete sich auf die ganze Halle aus: 3000 Arbeiter in 3 Schichten, und alle 3000 legten die Arbeit nieder. Ich erinnere mich, daß wir in meiner Mannschaft, die ein Bezugspunkt für die ganze Halle war, abgesprochen hatten, um 10 Uhr die Arbeit niederzulegen. Schon zehn vor zehn schauten alle auf meine Mannschaft. Und meine ganze Mannschaft schaute auf mich. Ich arbeitete unerschütterlich weiter. Ich arbeitete bis Punkt zehn, dann machte ich den Schweißbrenner aus und trat mitten auf den Gang hinaus. Seitlich von mir waren die kleinen Stanzen, wo die Ventile gemacht wurden. Weiter weg hörte man den Lärm der Drehbänke und im Hintergrund das Rauschen der Öfen. Es war schon beeindruckend: Kaum war ich auf dem Gang, gab es einen Pfiff, und die kleinen Stanzen hielten an. Dann standen die Drehbänke still, dicht gefolgt von den Öfen. Nach und nach hörte wirklich alles auf. Nach ein paar Minuten war die ganze Halle mucksmäuschenstill. Und jeder saß an seinem Arbeitsplatz. In den weiter entfernten Bereichen wußten sie nicht einmal, warum sie die Arbeit niedergelegt hatten; sie hatten die Maschinen abgestellt, denn wenn wir sie abgestellt hatten, hieß das, daß es einen Grund gab. So saßen wir alle an unseren Plätzen und warteten. − Ungefähr zwei Stunden später«, fährt Chinzer fort, »kam die Commissione Interna. Sie wollten, daß wir die Arbeit wieder aufnehmen.

Es gab eine Versammlung oben in der Kantine: da waren zwei Tische, auf dem einen ich alleine, auf dem anderen wechselten sich die verschiedenen Mitglieder der CI ab. So ging es mehrere Stunden hin und her: Sie redeten vom Tarifvertrag, ich bestand auf den 100 Lire und den 36 Stunden. Mit meiner Hitzigkeit, Leidenschaft und Aggressivität, mit der ich die anderen in die Ecke trieb, hatte ich die ganze Halle auf meiner Seite. Und genau da kam Agnelli mit seinen 30 000 Entlassungen rein, schon am zweiten Tag, und spitzte die Situation zu. Und zeigte, eben weil die Tarifverhandlungen unmittelbar bevorstanden, daß die Gewerkschaft die Arbeiter bei Fiat nicht unter Kontrolle hatte. Die Sache fand ein Echo, mit dem wir nicht gerechnet hatten, ich auch nicht; ich fühlte mich von der Last der Verantwortung regelrecht erdrückt: Sonderberichterstatter der italienischen Zeitungen, sogar Korrespondenten ausländischer Zeitungen, eine unglaubliche Menge von Reportern, Journalisten stand vor den Toren 31 und 32. Während bis zu diesem Zeitpunkt die Turiner La Stampa alles totgeschwiegen hatte, widmete sie jetzt den Ereignissen die gesamte erste Seite. Wir machten weiter bis zum 7. September. Ich war der letzte, der die Arbeit wieder aufnahm. Am Tag danach gingen die Streiks zu den Tarifverhandlungen los.«.

Diese Erzählung − das Bild dieses Kegels der Stille, der sich vom Mittelpunkt aus in konzentrischen Kreisen auf den gesamten Produktionsbereich der Halle ausweitet und statt des Maschinenlärms wieder die Menschen sprechen läßt, und dann diese vorübergehende Unbeweglichkeit, die mit dem Stillstand der Produktion auch die Zeit anzuhalten scheint − fasst gut zusammen, was im Frühjahr und Herbst 1969 bei Fiat geschah, weil sie sehr deutlich zeigt, daß das Moment der „Befreiung“ Vorrang vor dem des „Verhandelns“ hatte, und weil sich in der direkten Einbeziehung von Raum und Zeit, den beiden grundlegenden Dimensionen der Existenz, zeigt, was für eine totale Mobilisierung diese Rebellion darstellte, und wie sehr sie bis an die Wurzeln der Existenz ging und die beteiligten Menschen ganz und gar ergriff. Vielleicht liegt darin das wirklich Besondere am 1969 beginnenden neuen Kampfzyklus: daß er sich die Besonderheiten des Produktions- und Organisationsmodells, in dem er entsteht, zu eigen macht und sie umdreht. Die Revolte hat sich in einer Fabrik entwickelt, die schon wegen ihrer materiellen Verfassung die Menschen völlig vereinnahmt hatte, und bleibt ihr schließlich so sehr verhaftet, daß sie sie nicht nur formal nachmacht, sondern sich mit umgekehrtem Vorzeichen selbst ihre strukturellen Merkmale, ihre charakteristischen Züge einverleibt und reproduziert, die dabei so exzessiv und gewalttätig bleiben, wie sie waren.

Fiat hatte das Verhältnis Mensch/Maschine als ein Absolutum gesetzt und es dabei an seine körperliche Toleranzgrenze getrieben: Jetzt machten die neuen Kampfformen den Körper des Arbeiters selbst, seine Nicht Unterwerfung unter die vorgegebenen Rhythmen des mechanisierten Apparats, zum Haupthindernis für die Uniformierungserfordernisse des technischen Kreislaufs. Fiat hatte seine Riesigkeit, die Unermesslichkeit seiner räumlichen Ausdehnung als Herrschaftsinstrument eingesetzt: Indem die Arbeiterinitiative dieses immense Feld jetzt neu besetzte und sozusagen für sich annektierte, erhob sie sich zur Größe einer Großmacht. Sie schuf sich selbst eine „Heimat“ und verkündete der Welt eine unwiderstehliche Botschaft. Fiat hatte aus der Disziplin und den hierarchischen Strukturen sein fast ausschließliches Organisationsprinzip gemacht: Jetzt bewiesen die Arbeiter, wie verwundbar diese auf individueller Ebene unüberwindliche Disziplin gegenüber der kollektiven Initiative war, sobald sich Vereinzelung und Angst erst einmal aufgelöst hatten, und wie verheerend die Krise der Disziplin für den Arbeitsprozess war. Und sie konzentrierten ihre Aktionen auf das schwächste und naheliegendste Glied der Hierarchie: die Vorarbeiter und die Meister, die Verkörperungen der Macht, die von Vallettas Modell so klar personifiziert worden waren. Schließlich hatte Fiat systematisch dafür gesorgt, jede Form von autonomem Gewerkschaftertum, jeden Organisationsansatz, der nicht unterwürfig oder versöhnlerisch war, zunichte zu machen: Jetzt hatte Fiat es mit einer endemischen Aufsässigkeit zu tun, die sich, gerade weil sie kaum gewerkschaftlich organisiert war, schwer kontrollieren ließ. Das läßt sich selbst an den angewandten Kampfformen ablesen: die systematische Verlangsamung der Produktion, der abgestufte interne Schachbrett- und wilde Streik, die Besetzung und Blockade der Werkstore.

Vor allem die interne Demo, die mit ihrer mobilen Geradlinigkeit in vieler Hinsicht zum Symbol dieser Erfahrung geworden ist: sie konnte außerhalb der Despotie der Maschinen die Homogenität, die das Band hergestellt hatte, wieder zusammensetzen. Und sie konnte auf ihrem rhythmischen Marsch mit ihrer geballten Kraft, manchmal mit ihrer Gewalt, den riesigen Produktionsraum, der sonst trennte und zersetzte, zurückerobern. »Unsere erste Demo von einer Abteilung zur anderen«, erinnert sich Luciano Parlanti, »war die beste Demo, an die ich mich erinnern kann. Wenn man vom Rohbau in Mirafiori zum Motorenwerk ging, mußte

man durch eine Unterführung, eine dieser kilometerlangen Unterführungen, die Valletta hatte bauen lassen. Damals war sie nicht geschlossen, noch nicht dicht (später sollten sie uns große Eisentore hinsetzen, und wir sollten anfangen, Schneidbrenner zu benutzen). Da ging so ein betonierter Weg runter ins Dunkle, und die Demo zögerte. Ich gehe los, gehe bis zur Mitte, niemand kommt nach. Sie sind alle oben stehen geblieben. Also gehe ich wieder hoch und hole sie: ›Na los, was haben wir zu verlieren? Machen wir einen Spaziergang. Sehen wir uns dieses Motorenwerk da mal an.‹ Es war schwierig. Aber nach und nach setzen sich sieben, acht, zehn in Bewegung. Und dann los, ich hab gesehen, daß sie alle runter kamen, und haben gesagt: ›Wir sind dabei.‹ Das hättest du sehen sollen, die Demo in diesem Tunnel, mit dem ganzen Gebrüll, das widerhallte und sich völlig durchgedreht anhörte. Mein Kopf drehte sich, und ich hatte das Gefühl, er platzt gleich. Und beim Brüllen taten mir die Ohren weh. Das war eine große Demo. Es war wichtig, die beiden Abteilungen zu vereinen. In dem Moment war es nicht genug, daß deine Mannschaft die Arbeit niederlegte. Du mußtest den Kampf notwendigerweise verbreitern. Und dafür brauchtest du die Demo. Demo hieß praktisch, daß du eine bestimmte Disziplin, eine Diktatur des Unternehmers nicht mehr zuläßt.

Rino Brunetti, genannt Zorro, sah diese Demo vom anderen Ende der Strecke, vom Motorenwerk, aus: »Scheiße, als man die Demo kommen hörte, ›bum-bum-bum‹, haben richtig die Wände gezittert. Die Stanzen sowieso. Das ist ein Erdbeben, porco dio. Was ist los? Die Demo kam an. Und schon einen Kilometer vorher fingen die Leute an abzuhauen. Die Kapos sind abgehauen. Einen guten Augenblick später seh ich, wie Luciano Parlanti, Roby, Antonio der Priester, Zappalà und die alle reinkommen. Als ich das so sah, ich schwöre dir, alle, die wir da im Motorenwerk waren, fingen wir an zu weinen. Da verstanden wir… Vielleicht hat unsere Zeit begonnen, vielleicht können wir uns befreien, jetzt ja. Es war gut, daß wir in den Norden gekommen sind. Kennst du das, wenn du reden willst und nicht kannst? Ich schwöre dir, es kam mir vor wie die Freudenfeste, die die zurückkommenden Partisanen veranstalteten, nachdem sie eine Stadt befreit hatten. Ich hatte gesagt, daß im Rohbau von Mirafiori Geschichte gemacht wurde. Und dort habe ich dann diese außergewöhnlichen Männer kennengelernt, die es geschafft hatten, den gesamten Rohbau von Mirafiori auf diese Seite der Mauer, zum Motorenwerk zu bringen. Wir umarmten uns, das hieß wirklich alles. Ich hätte schreien mögen: ›Wir haben gesiegt‹, ›endlich haben wir uns aus der Scheiße rausgezogen‹, ›wir haben unsere Ehre und unseren Stolz wiedererlangt‹.

Du dachtest an deinen Vater, an das Leben, das er gelebt hatte. Du dachtest an all die Alten, die da waren. Auch an den, dem du tags zuvor vielleicht noch nachgelaufen warst, weil er den Streikbrecher machte, und der auch in dieser Scheiße steckte, und der jetzt nicht mehr drin zu stecken brauchte.«

»Die Demos kamen im Heißen Herbst. Da sind sie entstanden«, erinnert sich wiederum Parlanti. »Und sie sind nicht, wie viele behaupteten, aus Spontaneismus entstanden. Klar, der Spontaneismus war da, aber morgens gab es immer Leute, die Verantwortung übernahmen. Weil eine Demo nicht so einfach aus dem Nichts entsteht. Es waren zwar stürmische Zeiten, aber es gab immer jemanden, der das organisierte. Es war weiß Gott nicht so leicht, eine Demo zu machen. Zuallererst mußtest du alle Hallen gut kennen. Wir sagten: Morgen treffen wir uns an dem und dem Pfeiler, oder wir treffen uns alle an den Fratzen. Dort traf sich eine Gruppe von zehn, fünfzehn Leuten. Einer nahm ein Blech, ein anderer auch, und sie fingen an, draufzuhauen. Und wir liefen herum, liefen herum, bis sich die Leute von den Bändern losmachten und sich der Demo anschlossen. Den Zusammenhalt schuf der Lärm. Und du musstest dein Hirn anstrengen und nicht einfach irgendwelche Idioten Demos machen. Du mußtest sie wegen der richtigen Sachen machen. Dann folgten dir die Leute. Es war sehr wichtig, wer sich an die Spitze der Demo setzte. Wir beschlossen zum Beispiel, morgen gehen wir ins Motorenwerk. Wir setzten uns an die Spitze der Demo und gingen ins Motorenwerk. Morgen gehen wir in die Gießerei; wir gingen in die Gießerei; wir rissen die Tore nieder. Die Demo war genau dazu da, damit sich so weit auseinander liegende Abteilungen in dieser riesigen Fabrik miteinander vereinigen konnten. Sie war dazu da, um diese Abschottungen aufzubrechen. Einem aus dem Süden war es egal, wenn ein Piemontese an der Spitze war, so wie es einem Piemontesen egal war, wenn einer aus dem Süden an der Spitze war.«

»Die ersten Umzüge«, ergänzt A.Z., »waren etwas Unglaubliches. Die Angst der Arbeiter, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Nach fünfzehn, zwanzig Jahren unter Valletta, mit dem Kapo mit diesem Abzeichen, der sie immer terrorisiert hatte, sahen sie diese zehn, fünfzehn, zwanzig Arbeiter, die die Gänge hinunter brüllten, und hatten Angst, das Band zu verlassen. Und dann kamen wir mit Gewalt, mit zwanzig oder zehn Meter langen Seilen, um eine Gruppe von vier, fünf Arbeiter herum und zogen sie mittenrein in die Demo. Wir haben sie mit den Seilen reingezogen. Ein bißchen wollten sie ja auch mitgerissen werden, dann konnten sie hinterher dem Kapo sagen: ›Haben Sie gesehen, ich bin gezwungen worden, sie haben mich geschubst…‹ Wenn sie aus ihrer Mannschaft rauskamen, waren wir nicht mehr zwanzig, sondern schon fünfzig. Also nochmal mit diesen Seilen, mit Schubsern… Ich muß dir gestehen, ich hab Leute geprügelt. Wir haben sie verprügelt. Wir haben sie uns geschnappt und geprügelt. Es gab Leute, die auf die Toiletten flüchteten, wenn die Demo kam. Wenn die sich aber in einem anderen Teil der Fabrik befanden, weitab von ihren Kapos, waren sie schlimmer als wir. Das waren die, die mit Bolzen warfen. Je größer die Demo wurde, und je weiter sie von ihrer Mannschaft wegkam, desto wütender und gewalttätiger wurden sie.

Bei den ersten Umzügen mußten wir diese Methoden anwenden, schubsen, Bolzen werfen, Seile, denn wenn du das nicht gebracht hättest, hättest du gleich umdrehen können. Auf der Stelle. Das hätte geheißen, daß du verloren hättest. Der ›Heiße Herbst‹ hätte nicht stattgefunden. Wir haben Gewalt angewendet. Ich hab sie angewendet. Gegen die Arbeiter. Aber sie haben was davon gehabt. Sie haben einen Monat Ferien gehabt, Pausen, haben alles gehabt. Und das war nicht unser Verdienst, sondern ihr Verdienst, das der Massen. Dann war das Eis gebrochen und die Angst überwunden, und dann kamen sie spontan hinterher. Im Gegenteil, die Kapos selbst haben die Bänder angehalten. Denn die Demos waren der reinste Terror. Wenn sie in der Ferne das Ho Chi Minh-TamTam hörten, ›tun-tun-tutun‹, mit der Parole ›Agnelli, dein Indochina ist hier in der Fabrik‹, flüchteten die Kapos, und du sahst, wie sich die Arbeiter alle zusammen der Demo anschlossen. An dem Punkt hatten die Kapos keine Macht mehr. Weil, auf den Demos sind dermaßen viele Kapos übel zugerichtet worden! Dermaßen viele Kapo-Abzeichen sind abgerissen worden… Es gab Genossen, die haben die Kapo-Abzeichen zu Hause als Trophäen aufgehängt. Wir haben den Kapo praktisch völlig fertiggemacht. Das hieß, wir haben das erste Glied der Kette, das mit den Arbeitern Kontakt hatte, platzen lassen. Wenn du dieses Mittel kaputt kriegst, ist Agnelli am Arsch. Wenn er einmal die Demo mitgemacht hatte und wieder zu seiner Mannschaft an die Arbeit zurückkehrte, war er nicht mehr der Kapo. Das war in der Fabrik. Außerhalb der Mauern von Fiat dagegen war für uns eine andere Welt. Wir haben es nie geschafft, in die Stadt rauszugehen. Die Außenwelt war wirklich eine andere Welt. Und die Demo ging den Bach runter. Diese richtigen Fiat-Arbeiter waren es nicht gewohnt, draußen Demos zu machen. Außerhalb der Fabrik fühlten sie sich am Ende.«

 

Nach und nach begann sich die Fabrik unter dem Druck dieser Angriffe zu verändern. Die Rhythmen wurden langsamer. Zum ersten Mal gab es Pausen. Der Würgegriff, in dem das Maschinensystem die Menschen hielt, lockerte sich. Die formalisierten Möglichkeiten, auf die Bandgeschwindigkeit Einfluß zu nehmen, das Entstehen einer informellen Macht, durch die die Mannschaft Kontrolle ausübte, das Auftauchen einer anderen Figur, die dem Kapo gegenüberstand und auch etwas zu sagen hatte − des Delegierten −, linderten anscheinend den Druck, ließen Selbstverteidigungsmechanismen greifen und schränkten die Despotie des Kommandos ein. Und mit der Fabrik veränderten sich die Menschen: »Unser eingeschrumpftes Hirn erinnerte mich manchmal an diese Vögel im Käfig, die wir freiließen, damit sie abhauen sollten, und die dann nicht mehr fliegen konnten. Das machte mich richtig traurig: ›Mein Gott‹, sagte ich mir, ›an unser Hirn lassen sie uns nicht mal mehr denken‹. Und auf einen Schlag, 1969, fing es wieder an zu funktionieren. Wir haben den Käfig geöffnet und wieder angefangen zu fliegen«, erinnert sich Rino Brunetti. Und fügt hinzu: »Wir Jugendlichen zumindest. Die Jugendlichen waren noch wie frisch gezähmte Pferde. Ein frisch gezähmtes Pferd schlägt noch aus. Ein seit langem gezähmtes Pferd hingegen ist geduldig. Es hat sein Mögliches versucht, und dann hat es sich vor den Wagen spannen lassen. Und du hast sie gesehen, mit Falten im Gesicht, diese Augen des Südens, die das Leben satt hatten. Und stattdessen waren sie nun Metallarbeiter. Eine Verwandlung von einem reinrassigen Fohlen in einen arbeitsamen Zugesel. Und sowas machte dich verrückt: ›Soll ich etwa so enden?‹ Also diskutierten wir, statt zum Essen zu gehen. Manchmal streikten wir einfach bloß, um zusammenbleiben zu können, um zusammenleben zu können. Wir redeten über unser Leben.« Die Veränderung ging tief: Die atomisierte und von Niederlagen geprägte Lage schlägt durch den Kampf im Prozeß der Befreiung jäh um in eine kollektive und starke Identität. »An jenem Abend nach der Demo, als ich zu Fuß von Mirafiori nach Vallette ging«, fährt Brunetti fort, »war ich allein, aber ich fühlte mich zu zehnt, zu hundert, zu tausend. Ich war allein, aber ich fühlte mich so sicher! Ich lief und hörte die Stimmen von Zappalà, von Luciano Parlanti, von Antonio dem Priester und von Roby.« Genauso beschreibt es R.V. aus Potenza: »Ich hatte das Gefühl, ich gehöre zu einer starken Klasse und zu einem starken Unternehmer. Bei Fiat zu sein gab mir… wie allein unterwegs zu sein, oder zu viert oder fünft: Ich war allein unterwegs, aber die ganze Arbeiterklasse war bei mir. Ich fühlte mich als Arbeiter, als Fiat-Arbeiter. Nicht so sehr, weil ich damit angeben konnte, bei Fiat zu sein, sondern daß ich zu einer starken Gruppe, zu einer massiven Gruppe gehörte.

Früher habe ich mit vier oder fünf Mann gearbeitet und zählte nichts. Während ich bei Fiat zähle, wir zählen als Klasse, wir zwingen dem Unternehmer unsere Ideen auf.« Als im fortgeschrittenen „Heißen Herbst“ ein Reporter des Corriere della Sera sich unter die Arbeiter wagte, um ihre Stimme aufzuzeichnen, war der Prozess der Identitätsstiftung im Bereich der Ideen und der Sprache schon so weit fortgeschritten und hatte sich eine so klare und deutliche Weltanschauung gefestigt, die sich so sehr von dem platten Bild unterschied, das von ihr gezeichnet werden sollte, daß das Interview als unveröffentlichbar eingestuft wurde: »Sie sagen, durch die Streiks wird Reichtum vernichtet?«, hatte damals Ennio Furchi geantwortet, ein Arbeiter in Halle 13 bei Mirafiori, einer von denjenigen, die im Mai die ersten Versammlungen in den Kantinen geleitet hatten. »Aber wie viel Reichtum wird vernichtet, wenn Millionen von meinen Landsleuten aus dem Süden nicht arbeiten können? Wieviel Reichtum wird vernichtet, wenn sich ein Arbeiter mit 40 Jahren am Ende fühlt? Und das ist wirklicher Reichtum, das sind leibhaftige Menschen. Wir kämpfen vor allem, damit diese Vernichtung von menschlichem Reichtum aufhört.

Sehen Sie«, war er fortgefahren, »die Zeiten sind vorbei, wo Millionen Sklaven starben, um irgendeinem Pharao eine unnütze Pyramide zu bauen. Euch mag diese Gesellschaft schön, gut, großartig und beeindruckend vorkommen (der Gewinn steigt und die Exporte ebenso…), aber wenn sie nur der Macht von ein paar Pharaonen dient und nicht dazu, den Menschen Würde, Freiheit und Befriedigung zu geben, dann ist sie genau wie eine Pyramide, wie ein unnützes Grab, dem für den Ruhm einiger Mächtiger so viele arme Leute geopfert werden müssen.« »Der Arbeiter in Italien ist mündig«, hatte Sergio Gaudenti hinzugefügt. »Wir geben niemandem ein Blanko-Mandat, wir wollen unsere Probleme mit unseren eigenen Händen und unserer Intelligenz lösen. Die Organisationen, die uns dienen, sind unsere Organisationen; diejenigen, die sich für etwas anderes interessieren, für parlamentarische Spielchen, für Vereinbarungen auf höchster Ebene, werden kein Mandat bekommen, sie werden hohle Eier sein: ohne Macht, ohne das Vertrauen der Arbeiter…« Was sich im „Heißen Herbst“ in Italien ereignete, ist als riesenhafte Belagerung der Bürgerrechte durch die Ausgeschlossenen beschrieben worden und die folgenden Jahre als ein massenhafter Zutritt der großen Masse der „Übriggebliebenen“, als ein riesiger Prozess der Ausdehnung des Bürgerrechts.

Das Bild ist faszinierend, aber es scheint sich nicht mit den damaligen Ereignissen bei Fiat zu decken. Oder besser, es beschreibt vielleicht die Haltung der Politiker- und Gewerkschafterschicht, eines Teils der sozusagen traditionellen Protagonisten jener Zeit, aber nicht die Haltung der breiten Schicht der neuen Protagonisten, derjenigen, die zum ersten Mal auf die Bühne des kollektiven Handelns traten und ihm die beschriebene Neuartigkeit und Radikalität verliehen. Sie waren bei Fiat zumindest am Anfang in der Mehrzahl und wollten nicht in die Stadt hinein (sie hatten deren Härte und Unpersönlichkeit kennengelernt). Und sie wollten auch nicht ihre Regeln ändern. Sie wollten eine Stadt ganz für sich erbauen, mit eigenen Rechten und mit eigenen Vorstellungen von Ehre und Würde. Eine kleine Stadt, deren Mauern sich nicht mit den übergroßen der Nation deckten (für die traditionellen Regeln der Politik, der Vertretung und des Delegierens gelten), sondern nur mit dem begrenzten Umfang ihrer Arbeitsstelle, des Universums, in dem Tag für Tag ihr Leben verstrich, und das sie daher direkt kontrollieren konnten. Mehr als eine Stadt: eine Gemeinschaft. Das wollten sie. Und teilweise, zumindest eine Zeitlang, schafften sie es.

Langsam entwickelte sich in diesen Jahren in den Freiräumen, die sie mit Brachialgewalt eröffnet, mit Rücksichtslosigkeit ausgebaut und in einer harten, andauernden Kraftprobe verteidigt hatten, tatsächlich ein kulturell selbstbestimmtes Arbeiternetz. Eine „zweite Welt“ − innerhalb der technisch-produktiven Welt, aber nicht in ihr aufgelöst − mit ihren eigenen Regeln, Werten, Zugehörigkeiten, Sprachen und Identitäten. Ein „Fiat der Arbeiter“, das sich nur räumlich mit dem „Unternehmen Fiat“ deckte: »Viele Leute sagen: ›Um fünf aufstehen, um in die Fabrik zu gehen, ist hart‹«, bekannte später der aus Neapel stammende A.G., der seit 1968 bei Fiat und seit 1969 Delegierter war. »Ja, es ist hart, aber wenn ich morgens durchs Tor ging, hieß es, daß ich auf dem Weg zu meiner Mannschaft war, und deswegen fühlte ich mich lebendig und wie ich selbst. Als Jugendlicher sagten sie mir, ich wäre aufmüpfig. Naja, und bei Fiat wurde mir klar, daß ich mich wohlfühlte, daß man mich verstand. Mir ging es gut da drin. Mir ging es gut, weil ich unter Leuten war: unter Arbeitern. Ich hatte meinen ganzen Freunde da, alle in der Fabrik…«

R.L., Jahrgang 1931, Sizilianer, ergänzte mit der mythischen Verklärung, die sich bei der Erinnerung an unwiederbringlich vergangene Zeiten einstellt: »In der Mannschaft waren wir wie Brüder, wir mochten uns und hielten zusammen, vor allem im Kampf und bei den Demos«: Diese Bindung hat ziemliche Ähnlichkeit mit Familienbanden, und sie entwickelt sich auf dem Fundament langer Gewöhnung und Gemeinschaft in einem langandauernden Prozeß, in dem Bekanntschaft, Solidarität, gemeinsame Opfer und ein in der Härte des Alltags erfahrenes Vertrauen sich zu einer vom Ort bestimmten und von der Zeit bestätigten kollektiven „zweiten Natur“ vermischen, die die Grenzen des Mißtrauens und des Individualismus aufbricht. Die ursprünglichen patriarchalischen und agrarischen Verhältnisse sind zwar aufgehoben, und die alte organische Solidarität der weit entfernten Peripherien hat sich aufgelöst, aber es ist, als wären im Herzen der Metropole, im Zentrum des Rationalisierungsbereichs par excellence, auf dem tückischen Gebiet der Technik, die alten Gemeinschaftsbande von neuem entstanden, nicht mehr gegründet auf die Ethnie und den Boden, auf die Sprache und die Verwandtschaft, sondern vielmehr auf die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem totalisierenden Ganzen, auf die gemeinsame Fähigkeit, es mit Arbeit zu nähren und es mit Willensstärke zu verändern.

Früher einmal, im weit zurückliegenden Jahr 1955, als die Niederlage der Gewerkschaft noch allgegenwärtig war, hatte Valletta Fiat als große Familie beschrieben: »Wo immer ihr einen von unseren Arbeitern trefft, in Italien oder im Ausland«, hatte er geschrieben, »wird er euch als erstes sagen, daß er Fiat-Arbeiter ist. Dieser tief verwurzelte Stolz ist der unverfälschte Ausdruck des Prestiges von Fiat, bezeugt aber ebenfalls die persönliche Verbundenheit des Arbeiters mit seinem Arbeitsplatz, seine Vertrautheit. Diese Vertrautheit wird noch verstärkt durch die Tatsache, daß es nur wenige Arbeiter und Angestellte gibt, die nicht wenigstens einen Angehörigen oder sonstigen Verwandten bei Fiat haben. Väter, Mütter und Kinder, Ehemänner und Ehefrauen, Brüder und Schwestern im selben Unternehmen − und zusammengenommen sind das tausende von Beschäftigten − stellen für es ein Blutsband dar, das der Unternehmensbindung und dem Korpsgeist natürliche Kraft verleiht. Die Kinder werden das Werk ihrer Eltern fortführen. An den Produktionslinien bei Fiat lösen sich Generationen derselben Familien ab. So wiederholen sich in der modernen Großindustrie manche Vorzüge, die der Arbeit schon zu Zeiten des Handwerks eigen waren.«Ironischerweise hatte Fiat jetzt, 15 Jahre später, eben diese gemeinschaftliche und familiäre Dimension gegen sich: als Bindemittel der Revolte und als grundlegenden Faktor einer feindlichen Identität.