Italien: Ein paar Gedanken zu den Protesten gegen den „Grünen Pass“

Stecco

In den letzten Monaten hat sich das Bedürfnis nach Diskussionen mit Genoss*innen und aus anderen Ländern verstärkt; der Austausch mit Gleichgesinnten auch über die Grenzen hinweg erweist sich als grundlegend, um eine umfassendere Perspektive auf die Geschehnisse zu bekommen. Auch wenn wir uns aus diesen Gesprächen keinen genauen Überblick verschaffen können, so helfen sie uns doch, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Oft handelt es sich um rein individuelle Einschätzungen oder um die eines kleinen Kollektivs. Wir haben diesen Beitrag von Il Rovescio übersetzt. Sunzi Bingfa

Oft entsteht der Eindruck, dass man nicht in der Lage ist, einen autonomen Diskurs gegen diejenigen aufrechtzuerhalten, die reaktionäre oder rein „verschwörungstheoretische“ Vorstellungen von der Gesellschaft auf der Straße äußern, die Angst, in den Topf der „Leugner“ zu geraten, hat Genoss*innen häufig daran gehindert, auf der Straße zu intervenieren, oder sie dazu gebracht, die faschistische Präsenz nur mit antifaschistischen Stellungnahmen einzudämmen zu wollen. Dies haben uns Genoss*innen aus einigen nordeuropäischen Städten in wenigen Worten berichtet. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Schwierigkeit, angesichts der Komplexität der Probleme, die uns die uns umgebende Realität stellt, mit angemessenen Diskursen zu intervenieren, aus der fehlenden Vorbereitung angesichts einer so umfangreichen Thematik.

Die Formulierung „es ist schwierig“ wird oft geäußert. Auf dieser Webseite haben wir bereits zum Ausdruck gebracht, dass sich Anarchist*innen im Laufe der Jahre auf radikale und ausgereifte Art und Weise zu tatsächlich komplexen Themen wie gentechnisch veränderter Organismen (GVO), Impfstoffe, Atomkraft, verschiedene schädliche Wissenschaften, aber auch zu Gerechtigkeit, Selbstverwaltung und Gesundheit geäußert haben. Begriffe, die angesichts des Ausmaßes ihrer Auswirkungen auf das menschliche Leben und die Beziehungen zwischen Individuen nicht weniger wichtig sind. Wenn wir in der Kritik an den neuen Untaten, die uns das Kapital nach und nach vorgesetzt hat, auch nie nachgelassen haben, so haben wir uns vielleicht nie ausreichend mit dem Problem der Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse, Gerichte und andere autoritäre Strukturen auseinandergesetzt. Wir haben immer unser Bestes gegeben, um die Argumente der Bosse, der Technokraten, der Politiker*innen und der Priester zu widerlegen. Es hat uns nie an Mut gefehlt, unbequeme Minderheitenpositionen einzunehmen, die wiederholt den Nagel auf den Kopf getroffen haben, in Bezug auf das was in dieser historischen Phase der Menschheit geschieht. Oft waren unsere Einschätzungen nicht falsch, sondern gut begründet. Es wäre schön zu sagen, leider, aber die Realität hält uns die wahre Situation vors Gesicht.

Phrasen wie „es ist schwierig“, „es ist zu komplex“ sind also nicht wünschenswert, im Gegenteil, es sind passive Phrasen und nicht dazu geeignet, die Analyse voranzutreiben anstatt sie zu bremsen. Wir müssen versuchen, eine möglichst klare Vorstellung von dem zu haben, was geschieht, um den destruktiven Argumenten der Feinde der Unterdrückten entgegenzuwirken, und das kann nur geschehen, wenn wir uns entschließen, uns ernsthaft darum zu bemühen, dass unsere Ideen kraftvoll hervortreten und eine nützliche progressive Stoßrichtung haben, damit immer mehr Ausgebeutete sich des Ernstes der Lage und der zukünftigen Entscheidungen bewusst werden, die viele von uns treffen müssen, um sich den neuen Zumutungen zu widersetzen, die zu den bereits bestehenden auf allen Breitengraden dieses Planeten hinzukommen.

Für den Autor ist die Anwesenheit von Genoss*innen auf der Straße aus mehreren Gründen wichtig. Der erste Grund ist einfach, zu hören, was die Menschen denken, was sie bewegt und wie sie ihre Feindseligkeit gegenüber einer neuen Zumutung begründen. Letzten Freitag in Trient hat die Rede eines Genossen, in der er die Notwendigkeit zum Ausdruck brachte, der Gewalt des Staates mit der eigenen Kraft – auch mit Gewalt – entgegenzutreten, nicht nur viel Beifall erhalten, was nicht primär wichtig ist, sondern auch eine unerwartete Nähe von vielen Menschen, die individuell auf ihn zukamen, um genau diese Punkte zu diskutieren, die normalerweise im befriedeten Trentino so selten anerkannt werden. Der Unterschied zwischen der Gewalt des Staates und denjenigen die sich wehren wollen, wurde deutlich durch das, was die Menschen tatsächlich an eigenen Haut erleiden. Sich exponieren? Ja, für den Autor ist es an der Zeit, sich zu zeigen, die Dinge so zu sagen, wie sie sind, denn vielleicht gibt es auf diesen Straßen und Plätzen jemanden, der sauer ist, mit Sicherheit gibt es diesen Menschen. Und genau hier können unsere „klassischen Argumente“ die klassenübergreifende Zusammensetzung dieser Straßen aufbrechen; das Problem der Solidarität anzusprechen bedeutet auch, diejenigen am Kragen zu packen, die reich sind, aber gegen den „grünen Pass“ sind. Wird ein reicher Mann, z.B. ein Gesundheitsmanager mit einer Villa und einem fetten Bankkonto, bereit sein, Geld in einen gegenseitigen Hilfsfonds einzuzahlen, um sich mit den suspendierten Beschäftigten im Gesundheitswesen zu solidarisieren, die größtenteils Pflegekräfte und Krankenpfleger*innen sind und nur sehr wenig Geld auf der Bank haben? Diese Klassenfragen zum Ausdruck zu bringen, kann uns helfen, dafür zu sorgen, dass auf der Straße Probleme zum Vorschein kommen, die viele nicht in Betracht ziehen und um die wir uns bemühen müssen, damit wir vielleicht auf diese Weise in der Lage sind, in der Solidarität zwischen den Unterdrückten voranzukommen, die über die individuellen Bedürfnisse hinausgeht, und die Rhetorik des bürgerlichen Individualismus mit der anarchistischen zu brechen. [1]

Die Straße zu provozieren ist ein Weg, um Themen aufkommen zu lassen, aber wir müssen es einerseits mit einer gewissen Vorbereitung tun – also auch mit einer möglichst breiten Diskussion zwischen den Genoss*innen – und andererseits mit einer guten Portion Mut. Im Laufe der Jahre haben wir Straßen voller jubelnder Menschen gesehen, aber Projekte wie TAV, Atomkraft, die Privatisierung der Wasserversorgung und des Gesundheitswesens, die Angriffe auf die Arbeitnehmer*innenrechte gehen ohne Gegenangriff weiter, oder zumindest fast. Offen zu sagen, dass diese Projekte aufgrund von Situationen wie dieser schädlich sind, dass wir nicht die Kraft hatten, die Projekte des Kapitals im Laufe der Zeit zu stoppen, dass wir uns nicht mit denen solidarisiert haben, die immer wieder isoliert wurden, weil sie die Menschen und Strukturen dieser kranken Gesellschaft weiter angegriffen haben, ist ein Weg, um das Nachdenken in den Köpfen der Menschen anzuregen, die bisher ihr Leben ganz unbefangen gelebt haben, ohne zu hinterfragen, was vor sich geht, und die erst jetzt beginnen, sich zu bewegen, weil ihre individuellen Freiheiten stark betroffen sind. Am 24. Juli zum Beispiel riefen die Menschen in Bologna auf der Straße „Draghi Draghi [der italienische Ministerpräsident, d.Ü.] fuck off“. Für den Autor dieser Zeilen scheint dies „ein Rülpser des Volkes“ zu sein, der das Offensichtliche ausspricht und, da sie nicht in der Lage sind, etwas anderes zu sagen, auf den Ministerpräsidenten losgeht, obwohl es im Grunde die gesamte staatliche Struktur ist, auf die wir losgehen sollten, aber die Menschen auf der Straße konnten keine Konzepte der Organisation, des Widerstands, der Konfrontation zum Ausdruck bringen, die Straßen ließen es nicht zu, dass artikulierte Argumente geäußert werden (es gab keine vernünftige Tonanlage), also ging es weiter mit einfachen „ignoranten“ Slogans.

Aber das kann kein Grund sein, die Leute zu verurteilen, denn es muss mit etwas anderem einhergehen, nämlich mit dem Bewusstsein, dass es jetzt an der Zeit ist, mehr denn je zu kämpfen, stärker denn je, wir müssen [andere] in der Welt der Repression „willkommen heißen“, die wir, Anarchist*innen und Rebellen, schon seit langem kennen. Die Bosse und der Staat sind dabei, einen Teil der Bevölkerung unter Erpressung zu gewinnen, nachdem sie sie jahrelang mit verschiedenen Notfällen verängstigt haben. Jetzt müssen wir Vertrauen unter den Betroffenen aufbauen, wir müssen die alten und neuen Feinde der Freiheit identifizieren, die Technokraten, die die vergiftete Gesellschaft der Zukunft aufbauen, und wie andere bereits gesagt haben, ist die Unterscheidung zwischen „ungeimpft“ und „geimpft“ ein sehr schmutziges Spiel, das wir vermeiden müssen, wenn wir schreiben, reden, handeln, wir müssen es vermeiden, weil es zu schädlichen und äußerst gefährlichen Konflikten führen kann.

Ein weiterer Grund, auf die Straße zu gehen, besteht darin, die Einheitsfront derjenigen aufzubrechen, die aus bürgerlichen Gründen gegen den „grünen Pass“ sind, eine Mentalität von Unternehmer*innen, die nur ihre eigenen Profite machen wollen, auch wenn sie auf der Leiter der Ausbeuter*innen ganz unten stehen. Zum Beispiel war der Protest vom 27. Juli auf der Piazza del Popolo in Rom, organisiert von #ioapro und unterstützt von ehemaligen Mitgliedern der Forza Nuova, ein Protest, den viele zu Recht verlassen haben. Für diejenigen, die hingegangen sind, war es interessant, den Klassendiskursen im negativen Sinne zuzuhören, den Beziehungen zwischen der unternehmerischen Kleinbourgeoisie (Fitnessstudios, Restaurants, Schwimmbäder, Bars) und der extremen Rechten, die sich als überparteilich bezeichnete (zahlreiche Parolen gegen Salvini und auch Meloni), weder rechts noch links, wie sie sagten, sondern das italienische Volk lobte, das sich mit dem Messer zwischen den Zähnen auflehnen müsse, wie die Soldaten am Piave. Ein Kommentar ist nicht nötig.

Es ist die Welt des Profits, die zerstört werden muss, und es ist eine Welt der Freiheit, der gegenseitigen Hilfe und des Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur, die völlig neu gedacht werden muss, die Welt der Waren muss ein Ende haben, und wenn wir nicht hingehen und es den Leuten unter die Nase reiben, weiß ich nicht, wer es an unserer Stelle tun wird. Die „No green pass“-Proteste dürfen uns nicht wieder zu einer Einheitsfront führen, sondern wir sind es, die dorthin gehen müssen, um den Teller der aufgewärmten Suppe der verschiedenen Reformisten (mehr bürgerlich-demokratisch oder mehr „souverän“), der Friedenswächter*innen, die zu nichts führen, zu zerschlagen, um die Meinungslinien auf den Straßen zu stören, die zur Rebellion getrieben werden sollten. Diese Zeiten erfordern andere Wege, um den Unterschied zwischen Legalität und Illegalität zu verdeutlichen und um zu zeigen, dass die legalistische demokratische Rhetorik des Staates nichts mit den Bedürfnissen der Ausgebeuteten zu tun hat.

Auf die Straße zu gehen bedeutet auch, nicht durch die Medienkommunikation des Regimes gefiltert zu werden, denn das direkte Gespräch mit den Menschen ist der beste Weg, um ein Gefühl für das Klima um uns herum zu bekommen.

Nach diesen ersten Tagen der Mobilisierung, die lediglich den Widerstand in Worten zum Ausdruck brachten, was in verschiedenen europäischen Straßen mit mehr oder weniger Entschlossenheit geschah, müssen wir lokale Möglichkeiten finden, aber nicht nur, um gemeinsam mit denen, die kämpfen wollen, mit denen, die sagen, dass sie diese Zumutungen nicht wollen und bereit sind, Dinge zu tun, die sie noch nie zuvor getan haben: Widerstand zu leisten. Hier kann unsere Geschichte als Anarchist*innen eine große Hilfe sein, um Kontrollen zu vermeiden und sich gegen Repressionen zu wehren, aber vor allem, um konkrete Vorschläge für den Kampf und die Solidarität mit denen zu haben, die ihre Arbeit verlieren und ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, mit denen, die eine noch stärkere soziale Kontrolle ablehnen, mit denen, die denken, dass das techno-industrielle Produktionssystem tatsächlich ein Problem ist, und vielleicht auch mit denen, die erkennen, dass all dies ein für alle Mal revolutioniert werden muss und wissen, dass Worte nicht ausreichen. Es ist an der Zeit, Entscheidungen zu treffen: diese können verschiedener Art sein, die Wege sind zahlreich und vor kurzem haben anonyme Genoss*innen in Ligurien Signale gegeben, die unsere Herzen erwärmten und andeuteten, was einer der Wege sein könnte. Die Interessen des Staates und des Kapitals zurückzudrängen und ihnen klar zu machen, dass unabhängig davon, was auf der Straße passiert, immer wieder jemand versuchen wird, zu rebellieren!

Ein starkes Gefühl der Spannung, der Dringlichkeit, diktiert die Worte desjenigen, der dies schreibt, so als würde uns die Zeit davonlaufen. Dies sind kurze Anspielungen auf Fragen, die sicherlich täglich zwischen Genoss*innen angesprochen werden. Es gibt nicht den einen Weg, aber die Notwendigkeit, einander zu verstehen, einander zu finden, wahrzunehmen, wer da ist und wer jetzt kämpfen will, ist äußerst wichtig. Möge der Austausch fruchtbar sein und uns zu Vorschlägen führen, die der Situation gerecht werden, sowohl als konkrete Bewegung, für diejenigen, die noch an sie glauben, als auch für diejenigen, die sich individuell einmischen wollen. Aber wir müssen uns mit Kraft und Entschlossenheit in dieser Welt zu Wort melden. Man hat den Eindruck, dass es offene Ohren und Hände gibt, die bereit sind, und manchmal, ja in bestimmten Straßen (natürlich nicht in allen), ist der Zorn spürbar.

Stecco, 3. August, 2021

Fußnoten

[1] Es würde sich lohnen, auf diesen Punkt zurückzukommen, denn der Text Anarchia contro virus [Anarchie gegen den Virus], Zero in der Condotta-Ausgabe, ist ein sehr schlechter Text, in dem der bürgerliche Individualismus mit denjenigen verwechselt wird, die keine staatlichen Beschränkungen akzeptieren wollten, aber dafür nicht unverantwortlich gegenüber der Gesundheit anderer Menschen waren. Oder man verstärkt seine Argumente, indem man das Beispiel anführt, wie sich Gemeinschaften wie die in Rojava und Oaxaca organisiert haben, um ein Gesundheitsproblem anzugehen, ohne die Tatsache zu erwähnen, dass der Staat in diesen Gebieten nicht präsent ist, d.h. man ignoriert die Notwendigkeit, gegen den Staat zu kämpfen und die auferlegten „gesundheitlichen“ Beschränkungen nicht als heilsam zu akzeptieren.

Kurze Anmerkung: Wir wurden darauf hingewiesen, dass die Argumente in diesem Bericht nicht die Meinung der Italienischen Anarchistischen Föderation widerspiegeln, da die Föderation nicht in der „Gruppo Pandemico“ vertreten ist.