Sebastian Lotzer
Der folgende Text entstand vor zwei Jahren anlässlich der ‘Tu Mal Wat’ Aktionstage in Berlin. Er wurde uns in einer aktualisierten, überarbeiteten Fassung vom Autoren freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Wir veröffentlichen ihn hier, weil wir der Meinung sind, dass eine der vordringlichsten Anliegen sein muss, an jene zu erinnern, die in unseren Kämpfen ihr Leben gelassen haben. Manche noch so jung und eigentlich noch ein ganzes Leben vor sich. Wir verlinken weiter unten eine Collage von Radio Corax, die den Text zusammen mit Erinnerungen von Heinz Rudolf Kunze eingelesen haben. Sunzi Bingfa
Es ist der 21.9.1981. Für den morgigen Tag hat der Berliner Senat die Räumung mehrerer besetzter Häuser angekündigt, es ist der erste große Angriff auf die Westberliner Hausbesetzer Bewegung, die zu diesem über 160 Häuser besetzt hält und Tausende zu ihren Demonstrationen und Aktionen mobilisieren kann. In dem Viertel am Schöneberger Winterfeldtplatz, in dem neben Kreuzberg das zweite Herz der Bewegung schlägt, sollen gleich mehrere Häuser geräumt werden, hunderte Unterstützer*innen und Schaulustige haben sich hier versammelt. Ein junger Mann, eher noch ein Junge, trotzig in Vollbart und Lederjacke, steht im Hinterhof der besetzten Häuser in der Winterfeldtstraße, der eigentlich eher eine große Freifläche denn ein Hinterhof ist, denn viele der Häuser, die den Krieg überstanden haben, sind schon im Laufe der letzten Jahre abgerissen worden. Die Berliner Abendschau hat ein Filmteam in die Winterfeldtstraße entsandt, man will Impressionen vor dem großen Showdown sammeln. Ruhig und sachlich spricht der Junge in die Kamera: Er sei aus der Provinz nach Berlin gekommen, habe keinen Bock mehr auf eine Arbeit, bei dem ihm der Meister zusammenscheiße und überhaupt sei die Sache mit der Maloche Mist. Er wolle sich an den Hausbesetzungen beteiligen, fände den Zusammenhalt und die Solidarität und auch die Sache mit dem Kiffen, und da umspielt ein wunderbares Lächeln seine Lippen, eine prima Sache. Auf Nachfrage räumt er ein, dass er auch Angst vor dem morgigen Tag habe, ist sich nicht zu stolz, zu sich, zu seinen Gefühlen zu stehen. Markiert nicht den straighten Fighter, der er gar nicht ist. Aber er habe auch Mut zu kämpfen, betont er noch. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden später ist der Junge tot. Sein Name war Klaus Jürgen Rattay.
Ich habe damals selber in der Winterfeldtstraße 24 gewohnt. Aus einem der Außenbezirke, wo wir Anfang 1981 ebenfalls ein Haus besetzt hatten, war ich in die Winterfeldtstraße gezogen, wollte näher am Geschehen, an der action sein. Damals gab es eigentlich jeden Tag irgendeine Versammlung oder irgendeine action. Die Winterfeldt 24 war ein Haus mit wunderbaren riesigen Wohnungen, ich war in einer Trabantensiedlung aufgewachsen, ungläubig wanderte ich immer wieder durch die riesigen Räume mit all dem Stuck an der Decke und dem Fußboden aus Holzparkett. Wir waren nur ein dutzend Leute in dem Haus und nutzen nur ein Teil des Gebäudes, das von ein paar kaputten Fenstern und fehlenden sanitären Anlagen abgesehen in einem sehr guten Zustand war. Keiner von uns ging arbeiten, bis auf eine junge Frau, die gegenüber im alten Telegrafenamt arbeitete und eines Tages einfach bei uns eingezogen waren. Wir lebten von Spenden, geklauten Lebensmitteln und der einen oder anderen Mark, die wir von Eltern, Freunden oder sonst woher organisieren konnten. Der Kühlschrank war eigentlich immer leer und einmal als es ganz hart wurde, gab es Katzenfutter. Ich bin da zu meinen Eltern gefahren und habe mir da ein Stulle geschmiert. Und mich geschämt.
Unsere Nachbarn waren die Besetzer der Winterfeldtstraße 20/22. Die hatten nicht so schöne Wohnungen wie wir, aber immer einen vollen Kühlschrank. Die hatten sich ein paar Dutzend sogenannte Paten an Land gezogen. Liberale Universitätsprofessoren, Pfarrer, usw.. Ich glaube in der 20/22 gab es nicht viele Arbeiterkinder. Als es hieß, dass unsere Häuser geräumt werden sollen, sind die, also die Paten, auch mit ein paar Dutzend Leuten angerückt. Die hatten riesige durchgehende Balkone in der 20/22 und am Tag der Räumung waren die randvoll mit lauter wichtigen Leuten oder Leuten, die sich dafür hielten.
Wir hatten keine Paten. Nur ein paar Freunde, die uns am Vortag der Räumung geholfen haben, das Haus ordentlich zu verbarrikadieren. Bis in die Nacht haben wir geschuftet, aus dem umliegenden Straßen Zeugs von den Baustellen ins Haus geschleppt, das große Treppenhaus war am Ende bis zum ersten Stock mit allem möglichen Material vollgestopft, die Bullen haben später über eine Stunde gebraucht, um überhaupt ins Haus zu kommen. In der 20/22 waren sie in fünf Minuten drin.
Ich selber war gerade unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen worden, zweimal in der Woche musste ich in dem Bullenrevier erscheinen, dass für meine Meldeadresse zuständig war. Also habe ich mich irgendwann in der Nacht schweren Herzens verabschiedet, alle meine Leute ganz fest umarmt und dann meine paar Habseligkeiten in ein befreundetes besetztes Haus in der Maaßenstraße geschleppt. Am frühen Morgen des 22.9. dann verbreitete sich die Nachricht, dass die Bullen anrücken würden. Zu meiner Enttäuschung hatten sich nur einige wenige hundert Menschen an den Häusern in der Winterfeld eingefunden und so hatten die Bullen innerhalb von nicht einmal einer halben Stunde die Straßenbarrikaden, die in der Winterfeldtstraße errichtet worden waren, unter Einsatz von Tränengas geräumt. Als klar war, dass die Bullen gleich durchbrechen würden, habe ich mich zu meinen Freunden ins besetzte Haus in der Maaßenstraße zurückgezogen. Die Lage hat sich dann erstmal beruhigt, wir haben den Bullenfunk verfolgt und aus den Fenstern die Bullen beobachtet.
Irgendwann kam dann wieder Bewegung auf, viele Leute sind in Richtung Bülowstraße gezogen, zur 89, dem ‘Bobby Sands’ Haus, das nach einem gefangenen IRA Kämpfer benannt worden war, der zusammen mit neun anderen republikanischen Gefangenen im großen Hungerstreik von 1981 gestorben war. Die Bülow 89 war am Morgen des 22.09. auch geräumt. Die Nachricht machte die Runde, der Innensenator sei dort eingetroffen und wolle im geräumten Haus eine Pressekonferenz abhalten. Lummer hieß der, ein Rechtsaußen der CDU, mit Verbindungen bis hin zu organisierten Neonazis. Typ reaktionärer Kleinbürger. Klein, untersetzt, schmierig. Alle haben den gehasst. Schon vor der Geschichte mit Klaus Jürgen Rattay. Er war vom Regierenden Bürgermeister Weizsäcker, der sich später gerne als liberaler Elder Statesman inszenierte, eingesetzt worden, um mit uns aufzuräumen. Ich bin da nicht mit, von wegen Haftverschonung, dass war mir der Lummer nicht wert. Deshalb kenne ich das Geschehen, dass sich dann in der Bülowstraße ereignete, nur aus Erzählungen.
Irgendwann müssen sich einige hundert Leute in Sichtweite zur abgesperrten Bülow 89 versammelt gehabt haben und haben da gestanden und Parolen gerufen. Einfach nur Parolen gerufen. Kam natürlich trotzdem der Befehl die Straße zu räumen. Und das hieß damals in Berlin immer sofort „Knüppel frei“. Also sind die Leute in Panik vor den knüppelnden Bullen die Bülow in Richtung Potsdamer Straße runtergerannt. Gibt es auch alte, unscharfe Filmaufnahmen von. Auf der Potse war natürlich voll Verkehr, sogar noch mehr als sonst, weil ja viele der umliegenden Straßen wegen der Räumungen gesperrt waren. Sind die Leute also in Panik mitten auf die Potse gelaufen, mitten in den Verkehr gelaufen, um nicht verprügelt zu werden. Klaus Jürgen Rattay ist dann da von einem Doppeldecker der BVG erfasst und mitgeschleift worden. Auch davon gibt es alte, unscharfe Filmaufnahmen. Er war sofort tot.
Nachdem der Leichnam vom Klaus Jürgen Rattay abtransportiert worden war, haben sich viele Leute an dem Ort versammelt, wo er gestorben ist. Besetzer, Punker, Langhaarige, aber auch türkische Malocher und alte Frauen in Kittelschürze. Viele haben Blumen mitgebracht und da abgelegt, man konnte ja noch das Blut auf dem Asphalt sehen. Haben da einfach nur gestanden oder auf dem Boden gesessen, viele haben geweint. Sich in den Arm genommen und gegenseitig getröstet. Die Bullen haben dann Tränengas in die trauernde Menge geworfen und alle weg geknüppelt, einfach so. Mit ihren Stiefeln die abgelegten Blumen weggetreten. Auch davon gibt es alte, verwackelte Filmaufnahmen.
Am Abend gab es dann eine große Demo, ein Trauermarsch, der von der Alternativen Liste angemeldet worden war. Damals konnte man mit denen noch zusammen arbeiten, waren viele aufrichtige, ehrliche Leute dabei. Ich bin da nicht hin, wegen der Situation mit der Haftverschonung. Weil mir war klar, wenn die nur meine Personalien kontrollieren, sitze ich wieder im Bau. Ich schäme mich heute noch dafür, dass ich nicht auf der Demo war. Aber meine Eltern sind hin. Die sind sonst nie auf Demos gegangen. Ich komme aus einer klassischen Arbeiterfamilie. Vater Schlosser, Mutter Tippse. Immer die Sozis gewählt, außer danach, da hat meine Mutter die Alternative Liste gewählt. Die haben mir von der Demo erzählt und was sie erlebt haben. Zehntausend Leute sind da spontan zusammen gekommen und die Bullen natürlich wieder Tränengas und rein knüppeln. Meine Eltern sind dann auf der Potse in einen Hauseingang geflüchtet und mein Vater ganz alte Schule, hat sich vor meine Mutter gestellt, damit sie nicht verprügelt wird. Meine Mutter ist danach nie wieder auf eine Demo gegangen, die hatte einfach nur noch Horror, als sie die ganze Brutalität der Bullen erlebt hat. Meinen Vater hat das nicht so beeindruckt, ich glaube, der war auch dabei, als sie 1965 die Waldbühne bei einem Rolling Stones Konzert zerlegt haben, aber so ganz genau weiß ich das nicht, er hat wenig von sich erzählt. Haben die Männer seiner Generation nicht so mit gehabt mit dem Erzählen. Und später konnte ich ihn nicht mehr danach fragen, weil er leider ziemlich jung gestorben ist. Aber ich glaube, er fand die ganze Geschichte mit den Hausbesetzungen und das sich mit den Bullen kloppen irgendwie in Ordnung und war auch stolz, dass sein Sohn da mitmischte.
Nach der Demo mit den 10.000 Leuten gab es noch den ganzen Abend und bis in die Nacht Randale und überall in der Stadt sind Scheiben kaputt gegangen und sogar in Spandau, wo ich herkomme, sind Molotows auf den Betriebshof der BVG und ein Bullenrevier geflogen und das gab es vorher nicht und auch danach nie wieder.
In der Maaßenstraße haben sie uns noch eine Tränengasgranate direkt in den Gemeinschaftsraum geschossen, weil wohl ein Blumentopf oder was weiß ich aus dem Fenster geflogen ist, als sie Leute vor unserer Haus einfach zusammen geschlagen haben. War ziemlich Scheiße, das ganze Tränengas in so einem geschlossenen Raum und ein Hund war auch noch dabei, der hatte die volle Panik und es war gar nicht so einfach, den dann aus dem Zimmer zu schleifen. Ein paar Wochen später bin ich dann wieder zu allen Demos gegangen, auch wenn es da geknallt hat. Irgendwie war mir das mit dem ausgesetzten Haftbefehl egal geworden.
Eigentlich gab es an der Kreuzung, wo der Klaus Jürgen Rattay gestorben ist, eine kleine Gedenkstätte, die war, natürlich nicht offiziell, im Gehweg eingelassen und die ersten Jahre nach seinem Tod haben sich da immer Menschen am 22.9. getroffen und Blumen abgelegt und seiner gedacht. Irgendwann sind dann an seinem Todestag keine Menschen mehr gekommen und vor ein paar Jahren haben sie dann die Gedenkstätte bei Bauarbeiten einfach abgerissen. Und ich denke mir, dass es schön wäre, wenn wir Wege finden würden, dem Klaus weiter zu gedenken. Und ich glaube, das hätte ihm gefallen, dass wir ihn nicht einfach vergessen. Wo er doch so viele Hoffnungen und Träume gehabt hat in seinem kurzen Leben. Und vielleicht sind diese Zeilen ein bescheidener Beitrag, dass er nicht vergessen wird.
Aus dem Nebel, Sebastian Lotzer, den 10.09.2021