B.1.1.529

Maxwell Q. Klinger

Dunkle Nächte, die die grauen Tage ablösen, der erste Schnee, der vergeblich fällt, kein weißes Leuchten in der Nacht, nur Matsch grau in grau. Eine Zigarette vor der Haustür, die nasse Kälte kriecht durch die dicke Jacke. Die alte Nachbarin wieder zurück, ein dreiviertel Jahr war sie weg, niemand wusste genaueres in diesem Haus, in dem man die Briefkästen nicht zählen mag, so viele sind es. Kerzengerade steht sie da im Hausflur, die mädchenhafte Figur, die graublauen Augen, die schon ein Schleier bedeckt. Hüftbruch sagt sie, dachte schon man werde sie ins Heim abschieben. Du erinnerst dich an den Sommer, der schon so lange her scheint, sie rauchend auf der Bank vor dem Haus, “der Arzt sagt ja, ich soll nicht mehr”. Und dann hast du in 20 Minuten mehr über das Leben gelernt, als wenn du es jahrelang studiert. Nur einfach durchs Lauschen. Nun also ist sie wieder da, dein Herz schlägt schneller, als du sie da vor ihrer Wohnungstür stehen siehst, läuft über vor Zärtlichkeit, als ob eine alte, große Liebe zurückgekehrt ist. Vorsichtig nimmst du sie in den Arm, willst sie da für immer halten, so zerbrechlich scheint sie dir.

Und ist immer noch ungeimpft, was sollst du ihr erzählen von mRNA, sie wird dich anschauen wie einen Außerirdischen. Aber jetzt ist sie Abschaum, der weg kann, kann nirgends mehr hin, selbst wenn sie wollte und könnte. Der Seniorentreff im Haus war lange zu, jetzt erst 3 G, dann 2 G. Verschlossen für sie, ein weiterer Winter Einsamkeit. “Es muss jetzt ungemütlich werden für Ungeimpfte”, “Geiselnehmer”, “Tyrannen”, wer aber wird ihre Tränen zählen, wenn sie wieder alleine in der Wohnung ist, die Dämonen kommen und sie umkreisen. Und du kannst sie nicht ewig im Arm halten, um die Geister zu bannen, eigentlich kennst ihr Euch nicht wirklich, aber du darfst sie trotzdem kurz halten. Was für eine Ehre. Dann lässt du sie zurück, du musst. Arbeit. Weitere Schicksale, so viel Einsamkeit, so viel Schmerz, aber kaum eine Träne. Warum weint eigentlich fast nie einer, warum immer nur das treten nach unten, die hohlen Phrasen, wo jeder doch nur für sich und seine Blase, genetisch oder sozial, gerade steht.

Und jetzt kommt der General. Und alle klatschen. Erst klatschen sie für die Krankenschwestern und jetzt für das Militär. Ist ja auch alles Frontpersonal im Krieg gegen das Virus. Macht keinen Unterschied, wenn man sich erstmal dem Narrativ des Empires unterworfen hat. Die taz fordert entschlossene Führung ein von Scholz und wünscht sich den Staatenlenker und alten Wehrmachtsoffizier Schmidt zurück, der hat ja 77 die Lage voll im Griff gehabt. Damals freiwillige Nachrichtensperre und am Ende tote Gefangene im Trakt, heute gleichlautende Meldungen im Sekundentakt. Ein völlig Irrer, immerhin Vorsitzender des Weltärztebundes, schwadroniert von Ebola, ein leichtes verschmitztes Lächeln darüber in den Talkshows der sogenannten Republik, wo sonst jede abweichende Meinung oder philosophische Fragestellung unter “Schwurbelei” vermerkt wird, der neue Kampfbegriff für die Volksschädlinge, die jetzt anders genannt, aber genauso gedacht werden.

Der Feind muss markiert werden. Er wechselt seine Gestalt wie der Teufel, eben noch der Jugendliche im Park, dann der Glühweintrinker, jetzt wird der Beelzebub mit der Impfpflicht ausgetrieben. Die Neurose ist schon lange die Grundlage einer untergehenden Zivilisation, im permanenten Ausnahmezustand schwingt sie sich zu einer Hybris auf, die den Tod für immer bannen will, erst aus dem kollektiven Bewusstsein, dann aus der Realität der Körper, die bald nicht mehr schwitzen, bluten, schmerzen werden, sondern ewigen Frieden in der Gestalt des Cyborg finden werden. Und keine echten Tränen mehr, keine ungesunde Wut, „glauben Sie, dass die Regierung den Kampf gegen den Terrorismus gewinnen wird?“ – „Oh ja… Wir fangen alle ihre Schläge ab, treiben viele von ihnen aus dem Land. Wir schlagen sie ziemlich beständig in vieler Hinsicht. Ich würde sagen, sie sind aus dem Spiel!“ – „Aber, Mr.Helpman, die Bombenkampagne ist jetzt schon in ihrem 13 Jahr.“ – „Anfängerglück!“

Der Winter wird lang und hart, wir waren ja gewarnt worden, “Winter Is Coming”. Aber niemand wollte es wahrhaben, erst einmal noch eine Kampagne, ein Event, eine Unterschriftensammlung. Immer immer schön vernetzen und Selbstfürsorge, soviel Selbst dass kein Ich mehr bleibt. Vom Wir ganz zu schwiegen. Wer soll das auch sein, dieses Wir, in dieser Assoziation der selbstreferenziellen Blasen, die das immer gleiche widerkäuen. Nun also, da nichts mehr bleibt außer die letzten Orte, die nicht verraten werden, I Am Legend, werden wir durch die leeren Straßen ziehen und darauf warten, dass die Wölfe zurückkommen um mit ihnen den Wintermond anzuheulen. Werden sie schon verstehen, die Brüder und Schwestern.

Passen Sie gut auf sich auf”, sagt man uns, und wir wissen genau, dass das eigentlich eine Drohung ist. Jeder und jede, der oder die nicht gut für sich sorgt, sorgt nicht für die Allgemeinheit, jenen schwammigen gesellschaftlichen Ort, der alles und jedes rechtfertigt. Alles ist erlaubt, es muss nur dem neuen Menschen dienen. Früher war das der Mensch, der durch die Aufhebung aller Verhältnisse der Knechtschaft am Horizont aufzuscheinen hatte, heute ist der neue Mensch der allgegenwärtige Bulle, der jeder und jede zu sein hat, gegenüber den anderen, aber auch gegenüber sich selbst. Alle zücken bereitwillig ihre Zertifikate und Personalausweise, jedes Kaufhaus ein Hochsicherheitsbereich, jedes Café eine Festung. Wo die Kontrolle nicht allgegenwärtig oder “schlampig” durchgeführt, bricht die öffentliche Empörung aus, werden Roß und Reiter benannt, öffentlich gebrandmarkt. Der Pranger ist jetzt ein virtueller Ort, was ihn zu einem umso wirkungsvolleren Machtinstrument macht.

Bitte passt nicht gut auf Euch auf, verliert Euch in eurem Schmerz und eurer Wut, vergesst eure Vernunft, hört nicht auf die Durchsagen, findet Euren Weg, sucht Gefährten und Gefährtinnen, sucht an anderen Orten nach ihnen. Vertraut den Botschaften, die die Füchse Euch übermitteln. Nichts steht geschrieben , aber alles auf des Messers Schneide.