Paris: Mai 68 – Die Subversion der Beleidigten

Maurice Brinton

Dieser Bericht über den (mittlerweile sagenumwobenen) Mai 1968 in Paris erschien erstmalig auf deutsch als Flugschrift No 14 von ‘MAD – Zeitschrift für Materialien, Analyse, Dokumente’, der herausgebende Verlag musste sich nach einem Rechtsstreit mit dem Satiremagazin MAD umbenennen und heißt seitdem Nautilus Verlag. Maurice Brinton war eines der Pseudonyme, die Chris Pallis, ein in Großbritannien lebender libertärer Sozialist für seine Veröffentlichungen benutzte. Die Übersetzung dieses Augenzeugenberichts stammt von Jörg Asseyer, die Broschüre wurde 1976 vom legendären Oktober Druck Kollektiv in Berlin gedruckt.

2014 erschien der Text im Reprint beim Wiener Verlag bahoe books, er ist dort immer noch erhältlich. Wir haben diesen Beitrag dem umfangreichen Archiv des Trend Infopartisan entnommen, das leider seit 2 Jahren nicht mehr aktualisiert wird, aber online noch vollständig erhalten ist. Wir haben ihn leicht überarbeitet und bebildert, ansonsten aber in der ursprünglichen Übersetzung belassen. Sunzi Bingfa

Vorwort

Dies ist ein Augenzeugenbericht aus dem Zeitraum zweier Wochen Paris im Mai 1968. Er gibt das wieder, was eine einzelne Person in einer kurzen Periode sah, hörte und entdeckte. Der Bericht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er wurde in Eile geschrieben und hergestellt; sein Anspruch ist eher die Information als die Analyse – vor allem schnell zu informieren.

Die Ereignisse in Frankreich haben eine Bedeutung, die die Grenzen des modernen Frankreichs weit überschreitet. Sie werden in der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert einen tiefen Einschnitt hinterlassen. Die französische bürgerliche Gesellschaft ist in ihren Grundfesten erschüttert worden. Wie auch immer der gegenwärtige Kampf ausgehen wird – die politische Landschaft der westlichen kapitalistischen Gesellschaft wird nie mehr dieselbe sein. Eine ganze Epoche findet hier ihr Ende: die Epoche, während der man mit scheinbarer Berechtigung sagen konnte, daß „so etwas hier nicht passieren könne“. Eine andere Epoche beginnt: die, in der die Menschen wissen, daß die Revolution unter den Bedingungen des modernen bürokratischen Kapitalismus möglich ist.

Auch für den Stalinismus endet eine Periode: die Zeit, in der die westeuropäischen KP’s für sich beanspruchen konnten (zugegebenermaßen mit schwindender Glaubwürdigkeit), daß sie revolutionäre Organisationen geblieben seien und sich nur die Gelegenheiten zur Revolution nicht ergeben hätten. Diese Behauptung ist nun unwiderruflich auf den sprichwörtlichen ‚Misthaufen der Geschichte‘ gefegt worden. Als alles am Auseinanderbrechen war, erwiesen sich die KPF und die von ihr beeinflußten Arbeiter als die letzte und wirkungsvollste ‚Bremse‘ der Entwicklung der revolutionären Selbstaktivität der Arbeiterklasse.

Eine umfassende Analyse der französischen Ereignisse muß irgendwann versucht werden, denn ohne ein Verständnis von der modernen Gesellschaft wird es niemals möglich sein, sie bewusst zu verändern. Aber diese Analyse muß noch eine Weile warten, bis sich die Aufregung etwas gelegt hat. Was heute schon gesagt werden kann, ist, daß wenn diese Analyse aufrichtig durchgeführt wird, viele ‚orthodoxe‘ Revolutionäre gezwungen sein werden, eine Menge traditioneller Ideen, Parolen und Mythen wegzuwerfen. Sie werden gezwungen sein, die gegenwärtige Realität – insbesondere die des modernen bürokratischen Kapitalismus, seiner Dynamik, seiner Kontrollmethoden und Manipulation, die Gründe für seine Flexibilität wie auch für seine Zerbrechlichkeit und ganz besonders die Natur seiner Krisen – neu einzuschätzen. Konzepte und Organisationen, die sich als unzureichend erwiesen haben, müssen verworfen werden. Die neu aufgetretenen Erscheinungen (neu als solche oder neu für die traditionelle revolutionäre Theorie) müssen ihrem Wesen nach und mit allen ihren Implikationen erkannt werden. Die realen Ereignisse von 1968 müssen dann in ein neues Ideengebäude integriert werden. Ohne diese Entwicklung revolutionärer Theorie wird keine Entwicklung revolutionärer Praxis stattfinden – was langfristig hieße: keine Veränderung der Gesellschaft durch das bewusste Handeln der Menschen.

RUE GAY- LUSSAC

Sonntag, 12. Mai.

Die Rue Gay-Lussac trägt noch die Zeichen der ‚Nacht der Barrikaden‘. Ausgebrannte Autos entlang der Bürgersteige, ihre Gerippe dreckig grau unter der fehlenden Farbe. Die Pflastersteine sind von der Straßenmitte beseitigt worden und liegen aufgehäuft an beiden Straßenseiten. Ein vager Geruch von Tränengas liegt immer noch in der Luft.

An der Kreuzung mit der Rue des Ursulines ist eine Baustelle. Der Maschendraht ist an vielen Stellen durchbrochen. Von hier kam das Material für mindestens ein Dutzend Barrikaden: Bohlen, Schubkarren, Kabeltrommeln, Stahlträger, Steinblöcke. Die Baustelle lieferte auch einen Preßlufthammer. Die Studenten konnten ihn natürlich nicht benutzen – nicht, bis ein zufällig vorbei kommender Bauarbeiter es ihnen erklärte, vermutlich der erste Arbeiter, der aktiv die Studentenrevolte unterstützte. Einmal aufgebrochen lieferte die Straßendecke Pflastersteine, die bald für alles mögliche benutzt wurden.

All das ist bereits Geschichte.

Leute laufen die Straße auf und ab, wie um sich zu überzeugen, daß es wirklich geschehen ist. Es sind keine Studenten. Denn die wissen, was geschah und warum. Es sind auch keine Anwohner. Die sahen, was geschehen ist. Die Brutalität der CRS-Angriffe, die Attacken auf die Verwundeten, auf unschuldige Zuschauer, die ungezügelte Wut einer Staatsmaschinerie gegen die, die sie bedrohen: Die Leute in den Straßen sind die normalen Leute von Paris, Leute aus den angrenzenden Bezirken, schockiert von dem, was sie im Radio hörten oder in ihren Zeitungen gelesen haben. Sie machen einen schönen Sonntagsspaziergang, um sich selbst zu überzeugen. In kleinen Menschentrauben sprechen sie mit den Bewohnern der Rue Gay-Lussac. Die Revolution, die für eine Woche die Universität und die Straßen des Quartier Latin in Besitz genommen hatte, beginnt, sich im Bewußtsein der Leute festzusetzen.

Am Freitag den 3. Mai hatte die CRS ihren historischen Besuch an der Sorbonne gemacht. Sie war von Paul Roche, dem Rektor der Pariser Universität, eingeladen worden. Ziemlich sicher hat der Rektor mit dem stillschweigenden Einverständnis von Alain Peyrefitte, wenn nicht gar mit dem Elysee selbst gehandelt. Viele Studenten wurden verhaftet, zusammengeschlagen und einige vom Schnellgericht verurteilt.

Die unglaubliche – doch vollkommen vorhersehbare – Absurdität dieser bürokratischen ‚Lösung‘ des ‚Problems‘ der Unzufriedenheit der Studenten verursachte eine Kettenreaktion. Sie lieferte dem aufgestauten Ärger, der Empörung und der Frustration zehntausender junger Leute einen Grund für weitergehende Aktionen und ein erreichbares Ziel. Vertrieben aus der Universität gingen die Studenten auf die Straße und forderten die Freiheit ihrer Genossen, die Wiedereröffnung der Fakultäten, den Abzug der Polizei. Immer neue Kreise von Leuten wurden in den Kampf einbezogen. Die Studentengewerkschaft (UNEF) und die Gewerkschaft des universitären Lehrpersonals (SNESup) riefen zum unbegrenzten Streik auf. Mit immer größeren und militanteren Straßendemonstrationen hielten die Studenten eine Woche lang die Stellung. Am Dienstag, den 7. Mai marschierten 50.000 Studenten und Lehrer hinter einem einzigen Transparent mit der Aufschrift „Vive la Commune“ durch die Straßen. Am Denkmal des Unbekannten Soldaten, am Arc de Triomphe sangen sie die Internationale. Am Freitag den 10. Mai entschieden sich die Studenten und Lehrer, massenhaft das Quartier Latin zu besetzen. Sie fühlten, daß sie mehr Rechte hatten, dort zu sein, als die Polizisten, für die überall Kasernen bereitstanden. Der Zusammenhalt und die Entschiedenheit der Demonstranten erschreckte das Establishment. Die Macht durfte nicht dem Mob zufallen, der sich sogar erdreistet hatte, Barrikaden zu errichten.

Noch eine absurde Geste war nötig. Ein weiterer administrativer Reflex wurde zur rechten Zeit verwirklicht. Fouchet (Innenminister) und Joxe (Vizepremier) befahlen Grimaud (Pariser Polizeipräsident), die Straßen zu säubern. Der Befehl wurde schriftlich fixiert, zweifellos, um ihn der Nachwelt als ein Beispiel von dem zu überliefern, was man in bestimmten Situationen nicht tun sollte. Die CRS griff an … sie räumte die Rue Gay-Lussac und öffnete Tür und Tor für die zweite Phase der Revolution.

Die vom Kampf gezeichneten Mauern und Wände der Rue Gay-Lussac und der angrenzenden Straßen verkünden eine doppelte Botschaft. Sie legen ein Zeugnis von dem unglaublichen Mut derer ab, die das Gebiet für mehrere Stunden gegen Unmengen von Tränengas, Phosphorgranaten und wiederholte Angriffe schlagstockschwingender CRS gehalten haben. Aber sie zeigen auch einiges von dem, wofür die Verteidiger kämpften …

Wandpropaganda ist ein integrierter Teil des revolutionären Paris vom Mai 68. Wandgemälde wurden zur Massenaktivität, Bestandteile der revolutionären Methode der Selbstdarstellung. Die Wände des Quartier Latin sind die Fundgrube für ein neues Denken, das nicht mehr auf Bücher beschränkt ist, sondern sich demokratisch auf der Straße entfaltet und für jeden erreichbar wird. Das Triviale und Tiefgehende, das Traditionelle und das Esoterische verweben sich in dieser neuen Brüderlichkeit. Schnell reißen sie die starren Barrieren und Schubladen im Bewußtsein der Leute ein.

‚Désobéir d’abord: alsors écris sur les murs (loi du 10 mai 1968)‘ (Zuerst der Ungehorsam: darum schreibt auf die Mauern; Gesetz vom 10. Mai 1968) heißt eine augenfällig neue Inschrift, klar den Ton angebend. ‚Si tout le peuple faisait comme nous‘ (wenn jeder wie wir handeln würde) träumt eine andere sehnsüchtig, wie ich denke eher in freudiger Antizipation als im Geiste einer selbstgerechten Stellvertreteranmaßung. Die meisten der Parolen sind geradeheraus, richtig und ziemlich orthodox: ‚Libérez nos camarades‘ (Befreit unsere Genossen); ‚Fouchet, Grimaud, demission‘ (Fouchet, Grimaud, zurücktreten); ‚A bàs l’Etat policier‘ (Nieder mit dem Polizeistaat); ‚Grève Générale Lundi‘ (Montag Generalstreik); ‚Travailleurs, Etudiants, solidaires‘ (Arbeiter und Studenten Hand in Hand); ‚Vive les Conseils Ouvriers‘ (Es leben die Arbeiterräte). Andere Parolen gehen auf neue Interessen ein: ‚La Publicité te manipule‘ (Die Öffentlichkeit manipuliert Dich); ‚Examens =Hiérarchie‘ (Examen = Hierarchie); ‚L’art est mort, ne consommez pas son cadavre‘ (Die Kunst ist tot, konsumiert nicht ihren Leichnam); ‚A bàs la sociéte de consommation‘ (Nieder mit der Konsumgesellschaft); ‚Debout les damnés de Nanterre‘ (Aufrecht, Ihr Verdammten von Nanterre). Die Parole ‚Baissestoi et broute‘ (Bück Dich und käue wieder) zielte offensichtlich auf die, deren Bewußtsein immer noch voll mit traditionellen Vorstellungen ist.

‚Contre la fermentation groupusculaire‘ (Gegen die Grüppchen Gärung) beklagt sich eine große rote Inschrift. Sie ist wirklich ohne jeden Bezug. Denn überall gibt es einen Überfluß von angeklebten Plakaten und Zeitungen: ‚Voix Ouvrière‘, ‚Avant-Garde‘ und ‚RévoItes‘ (von den Trotzkisten), ‚Servir le Peuple‘ und ‚Humanité Nouvelle‘ (von den Anhängern des Vorsitzenden Mao), ‚Le Libertaire‘ (von den Anarchisten), ‚Tribune Socialiste‘ (von der PSU. Vereinzelt sind sogar Exemplare der ‚ L’Humanite‘ (KPF) angeklebt. Es fällt schwer, sie zu lesen, so voll sind sie mit kritischen Kommentaren.

An einer Litfaßsäule sehe ich ein großes Werbeplakat für eine neue Käsesorte: ein Kind, das in einen riesigen Sandwich beißt: ‚C’est bon le fromage Soundso‘ heißt die Schlagzeile. Jemand hat die letzten Wörter mit roter Farbe überstrichen. Die Schlagzeile heißt jetzt: ‚C’est bon la revolution‘ (Die Revolution ist gut). Leute kommen vorbei, schauen und schmunzeln.

Ich sprach mit meinem Begleiter, ein Mann von 45 Jahren, ein ‚alter‘ Revolutionär. Wir diskutierten die ungeheuren Möglichkeiten, die sich jetzt eröffnen. Plötzlich dreht er sich zu mir und kommt mit einem bemerkenswerten Satz heraus: „Wenn man bedenkt, daß man erst Kinder haben und 20 Jahre lang warten musste, um all das zu sehen …“

In den Straßen sprachen wir auch mit anderen alten und jungen, „politischen“ und „unpolitischen“, mit Leuten von verschiedenem Verständnis und verschiedener Überzeugung. Jeder ist zu einer Unterhaltung bereit – und tatsächlich will sich auch jeder unterhalten. Alle reden eine deutliche Sprache. Wir finden niemanden, der bereit ist, die Handlungsweise der Behörden zu verteidigen. Die ‚Kritik‘ zerfällt in zwei Hauptströmungen:

Die ‚Progressiven‘ Dozenten der Universität, die Kommunisten und eine Anzahl von Studenten; sie sehen die hauptsächliche Ursache der ‚Krise‘ der Studenten in der Rückständigkeit der Universität im Verhältnis zu den gegenwärtigen Erfordernissen der Gesellschaft, im zu geringen Unterrichtsangebot, in den halbfeudalen Einstellungen mancher Professoren und der mangelnden Berufsperspektive. Sie betrachten die Universität als nicht an die moderne Welt angepaßt. Für sie ist das Rezept: Anpassung. Eine modernisierende Reform, die die Spinngewebe wegfegt, die Universitäten mit mehr Dozenten und besseren Hörsälen versorgt, ein höheres Bildungs-Budget schafft und vielleicht eine liberalere Atmosphäre auf dem Campus und am Ende vor allem einen gesicherten Beruf.

Die Rebellen (worunter einige, aber keineswegs alle ‚alten‘ Revolutionäre fallen) betrachten diese Interessen, die Universität an die moderne Gesellschaft anzupassen, als etwas ähnliches wie ein Ablenkungsmanöver. Denn sie lehnen die moderne Gesellschaft selbst ab. Sie sehen das bürgerliche Leben als trivial und mittelmäßig an, als unterdrückend und unterdrückt. Sie haben kein Verlangen nach Karriere in der Verwaltung und der Industrie, die das System für sie bereithält, sondern haben nur Verachtung dafür übrig. Sie wollen sich nicht in die Gesellschaft der Erwachsenen integrieren lassen. Im Gegenteil: sie suchen eine Chance, deren Fälschungen radikal in Frage zu stellen. Die treibende Kraft ihrer Revolte ist die eigene Entfremdung, die Bedeutungslosigkeit des Lebens im modernen bürokratischen Kapitalismus; das ist gewiß keine rein ökonomische Verschlechterung ihres Lebensstandards.

Es ist kein Zufall, daß die ‚Revolution‘ in Nanterre in den Fachbereichen Soziologie und Psychologie begann. Die Studenten erkannten, daß das, was sie in Soziologie lernten, nicht dazu diente, die Gesellschaft zu erkennen und zu verändern, sondern sie zu kontrollieren und zu manipulieren. In diesem Prozeß entdeckten sie die revolutionäre Soziologie. Sie verweigerten sich dem für sie vorgesehenen Platz in der großartigen bürokratischen Pyramide, dem Platz der ‚Experten‘ im Dienste eines technokratischen Establishments, als Spezialisten des ‚Faktors Mensch‘ in der modernen industriellen Gleichung. Sie entdeckten in diesem Prozeß die Bedeutung der Arbeiterklasse. Das Faszinierende ist, daß zumindest unter den aktiven Schichten der Studenten diese ‚Sektierer‘ zur Mehrheit wurden: letzteres ist sicherlich die beste Definition jeder Revolution.

Diese zwei verschiedenen Ansätze der ‚Kritik‘ am modernen französischen Bildungssystem neutralisierten sich nicht gegenseitig. Im Gegenteil schafft jeder Ansatz seine eigene Art von Problemen für die Autoritäten der Universität und für die Beamten des Erziehungsministeriums. Wichtig aber ist, daß der eine Ansatz, den man den quantitativen nennen könnte, mit der Zeit mit der modernen bürokratischen Gesellschaft vereinbar ist. Der andere – qualitative – Ansatz niemals. Das gibt ihm die revolutionären Möglichkeiten. Für die Machthaber ist der „Ärger mit den Universitäten“ nicht, daß kein Geld mehr für Lehrer da ist. Das ist vorhanden. Der „Ärger“ besteht darin, daß die Universitäten voll mit Studenten sind – und diese haben ihre Köpfe voll mit revolutionären Ideen.

Diejenigen, mit denen wir sprachen, waren sich vollkommen bewußt, daß das Problem nicht im Quartier Latin gelöst werden konnte. Die Isolierung der Revolte in einem studentischen ‚Ghetto‘ (selbst wenn es ein ‚autonomes‘ ist) würde die Niederlage bedeuten. Sie erkannten, daß die Rettung der Bewegung in ihrer Ausdehnung auf andere Teile der Bevölkerung lag. Aber hier tauchten große Unterschiede auf. Denn einige redeten von der Bedeutung der Arbeiterklasse und ersetzten so eigenes Handeln und Kämpfen. Damit entschuldigten sie die Diffamierung der studentischen Kämpfe als ‚abenteuerlich‘. Doch war es gerade die durch die studentische Aktion hergestellte unvergleichliche Militanz, die die direkte Aktion zum Tragen gebracht hat, die angefangen hat, junge Arbeiter zu beeinflussen und an den etablierten Organisationen zu rütteln. Andere Studenten sahen die Verbindung dieser Kämpfe klarer. Wir werden sie später in Censier sehen, wo sie ein Aktionskomitee von Arbeitern und Studenten initiieren.

Doch für jetzt genug über das Quartier Latin. Die Bewegung hat sich längst über seine engen Grenzen ausgeweitet.

VON RENAULT ZU DEN STRAßEN VON PARIS

Montag 13. Mai.

6 Uhr 15 morgens, Avenue Yves Kermen. Ein klarer, wolkenloser Tag. Menschengruppen versammeln sich vor den Toren des großen Renault Werkes in Boulogne Billancourt. Die ‚Zentralen‘ der großen Gewerkschaften (CGT, CFDT, FO) haben zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen. Sie wollen gegen die Polizeibrutalität im Quartier Latin protestieren und für so lange vernachlässigte Forderungen demonstrieren wie z.B. Löhne, Arbeitszeit, Pensionsalter und gewerkschaftliche Rechte im Betrieb.

Die Fabriktore sind weit offen. Kein Polizist oder Aufseher in Sicht. Die Arbeiter strömen herein. Über Lautsprecher werden sie aufgerufen, sich zu ihrem jeweiligen Arbeitsplatz zu begeben, sich aber zu weigern, mit der Arbeit zu beginnen, und sich um 8 Uhr vormittags an ihrem traditionellen Versammlungsort, einem riesigen schuppenartigen Bau in der Mitte der Insel Seguin (einer Seine-lnsel, die vollständig mit Anlagen der Renault-Werke bebaut ist) zu treffen.

Jedem Arbeiter wird beim Eintritt ein von den drei Gewerkschaften gemeinsam verfasstes Flugblatt gegeben. Es werden auch Flugblätter in Spanisch verteilt (über 2.000 spanische Arbeiter sind bei Renault beschäftigt). Französische und spanische Redner lösen einander mit kurzen Aufrufen über ein Mikrophon ab. Obwohl alle Gewerkschaften den Streik unterstützen, scheinen die Redner alle der CGT anzugehören. Es handelt sich um deren Lautsprecher …

6.45 Uhr. Hunderte von Arbeitern strömen jetzt herein. Viele sehen so aus, als seien sie zur Arbeit gekommen und nicht um an den Massenversammlungen in der Fabrik teilzunehmen. Die Entscheidung, den Streik auszurufen, war erst am Samstagabend getroffen worden, als viele der Leute sich zum Wochenende schon in alle Richtungen zerstreut hatten. Viele scheinen nicht zu ahnen, worum es bei dem ganzen überhaupt geht. Ich bin über die Anzahl algerischer und schwarzer Arbeiter überrascht.

Am Tor hängen nur ein paar Plakate, wiederum überwiegend von der CGT. Einige Streikposten tragen Plakate der CFDT. Von der FO ist überhaupt kein Plakat zu sehen. Die Straße und die Wände außerhalb der Fabrik sind voll von Parolen: „Montag eintägiger Streik“; „Einheit bei der Verteidigung unserer Ziele“; „Nein zu den Monopolen“.

Das kleine Café in der Nähe der Fabriktore ist überfüllt. Die Menschen hier sind ungewöhnlich hellwach und gesprächsbereit zu solch einer frühen Stunde. Ein Zeitungsstand verkauft ungefähr dreimal soviel Exemplare der Humanité wie von jeder anderen Zeitung. Die Ortsgruppe der Kommunistischen Partei lässt ein Flugblatt verteilen, das zu „Entschlossenheit, Ruhe, Wachsamkeit und Einheit“ aufruft sowie vor „Provokateuren“ warnt.

Die Streikposten versuchen gar nicht, mit denen, die hereinströmen, zu diskutieren. Niemand scheint zu wissen, ob sie den Streikaufruf befolgen werden oder nicht. Weniger als 25% der Renault-Arbeiter sind überhaupt in irgendeiner der genannten Gewerkschaften organisiert. Und das ist die größte Automobilfabrik in Europa. Der Lautsprecher hämmert seine Parolen heraus: „Die CRS hat gerade Bauern in Quimper, Arbeiter in Caen, Rhodiaceta (Lyon) und Dassault angegriffen. Jetzt wollen sie sich den Studenten zuwenden. Das Regime wird keine Opposition dulden. Es wird das Land nicht modernisieren. Es wird uns unsere grundlegenden Lohnforderungen nicht erfüllen. Unser eintägiger Streik wird sowohl der Regierung als auch den Unternehmern unsere Entschlossenheit zeigen. Wir müssen sie zum Nachgeben zwingen.“ Die Parolen werden immer wieder wiederholt, wie eine Schallplatte. Ich frage mich, ob der Sprecher an das glaubt, was er sagt, und ob er überhaupt merkt, worum es hier geht.

Gegen 7 Uhr taucht ein Dutzend Trotzkisten von der Fédération des Étudiants Révolutionnaires (FER) auf, um ihre Zeitung ‚Revoltes‘ zu verkaufen. Sie tragen große rot-weiße Plaketten, die ihre Identität erklären. Ein wenig später trifft eine andere Gruppe ein, um die Zeitung ‚Voix Ouvrière‘ zu verkaufen. Der Lautsprecher verlegt sich plötzlich von einer Attacke auf die gaullistische Regierung und ihre CRS auf eine Attacke gegen ‚Provokateure‘, „unruhestiftende Elemente von außerhalb der Arbeiterklasse“. Der stalinistische Sprecher merkt an, daß die Zeitungsverkäufer im Sold der Regierung stünden. Da sie hier seien, müsse „die Polizei auch in der Nähe auf der Lauer liegen.“ Es brechen hitzige Wortgefechte zwischen den Zeitungsverkäufern und den CGT-Funktionären aus. Den CFDT-Streikposten wird die Benutzung des Lautsprechers verweigert. Sie rufen „Arbeiterdemokratie“ und verteidigen das Recht der „unruhestiftenden Elemente“, ihr Zeugs zu verkaufen. Ein ziemlich abstraktes Recht angesichts der Tatsache, daß kein einziges Stück Papier verkauft wird. Die Titelseite der ‚Revoltes‘ ziert ein esoterischer Artikel über Osteuropa.

Es werden viele Beschimpfungen (aber immerhin keine Schläge) ausgetauscht. Im Verlaufe eines Streites höre ich Bro. Trigon (Delegierter des zweiten Wahl Kollegiums‘ bei Renault) Danny Cohn-Bendit als einen „Agenten der Macht“ bezeichnen. Ein Student unterbricht ihn an dieser Stelle. Die Trotzkisten tun nichts. Kurz vor 8 Uhr rücken sie ab, nachdem sie ihre „Anwesenheitsdemonstration“ vollbracht haben und pünktlich für die Geschichte registrieren ließen.

Ungefähr zur selben Zeit verlassen Hunderte von Arbeitern, die in die Fabrik gekommen waren, ihre Arbeitsplätze und versammeln sich bei Sonnenschein auf freiem Feld einige Hundert Meter vom Haupttor entfernt. Von dort ziehen sie zur Seguin-Insel, wobei sie einen Arm der Seine überqueren müssen. Weitere Züge setzen sich von anderen Punkten im Fabrikgelände in Bewegung und ziehen zum selben Ort. Das metallene Dach des Versammlungsraumes ist ungefähr sechzig Meter über unseren Köpfen. Riesige Lager von Einzelteilen sind rechts und links aufgehäuft. Weit weg auf der rechten Seite arbeitet noch ein Fließband, das Dinge vom Erdgeschoß zum ersten Stock befördert, die wie Autorücksitze aussehen.

Ungefähr 10.000 Arbeiter haben sich schon im Schuppen versammelt. Die Redner begrüßen sie per Lautsprecher von einer nahen Galerie aus, die ungefähr zehn Meter hoch ist. Die Galerie zieht sich vor so etwas wie einem erhöhten Beobachtungsposten entlang; wie man mir sagte, handelt es sich bei letzterem jedoch um ein Gewerkschaftsbüro innerhalb der Fabrik.

Ein Freund in meiner Nähe versichert mir, dies sei das erste Mal seit zwanzig Jahren, daß er höre, wie auf dem Gelände von Renault die Internationale gesungen werde (er hat Dutzende von Massenversammlungen auf der Insel Seguin mitgemacht). Es liegt, besonders bei den jungen Arbeitern, eine gewisse Erregung in der Luft.

Der CGT-Sprecher befaßt sich mit den sektoral verschiedenen Lohnforderungen. Er denunziert den Widerstand der Regierung, die sich „voll in der Hand der Monopole“ befinde. Er nennt Tatsachen und Zahlen bezüglich der Lohnstruktur. Viele hochqualifizierte Leute bekämen nicht genug. Nach der CGT spricht ein CFDT-Redner. Er beschäftigt sich mit der ständigen Arbeitstempo Beschleunigung, mit der Verschlimmerung der Arbeitsbedingungen, mit Arbeitsunfällen und mit dem Schicksal des Menschen im Produktionsprozess. „Was ist das für ein Leben? Müssen wir auf ewig Marionetten bleiben, die jede Grille des Managements ausführen?“ Er fordert einheitliche Lohnsteigerungen für alle (nicht-hierarchische Lohnsteigerungen). Es folgt ein FO-Sprecher. Er zeigt sich als der technisch gewandteste, aber er sagt das Wenigste. In blumiger Rhetorik spricht er von 1936, unterläßt aber jeden Hinweis auf Leon Blum. Die Aufnahme, die die FO in der Fabrik findet, ist schlecht und der Redner wird zeitweise während seines Beitrags durch Fragen unterbrochen.

Die CGT-Redner fordern dann die Arbeiter auf, massenhaft an der großen Veranstaltung teilzunehmen, die für den Nachmittag geplant sei. Als der letzte Redner seinen Beitrag beendet hat, stimmt die Menge spontan und stürmisch die ‚Internationale‘ an. Die älteren Männer scheinen fast jedes Wort im Text zu kennen. Die Jüngeren kennen nur den Refrain. Ein Freund in meiner Nähe versichert mir, dies sei das erste Mal seit zwanzig Jahren, daß er höre, wie auf dem Gelände von Renault die Internationale gesungen werde (er hat Dutzende von Massenversammlungen auf der Insel Seguin mitgemacht). Es liegt, besonders bei den jungen Arbeitern, eine gewisse Erregung in der Luft.

Die Menge bricht dann in mehreren kleinen Gruppen auf. Einige laufen über die Brücke zurück und verlassen das Fabrikgelände. Andere durchziehen systematisch die Arbeitsstätten, wo ein paar Hundert Leute noch arbeiten. Einige von ihnen versuchen das zu begründen, aber die meisten scheinen nur allzu froh zu sein, einen Grund zu haben, mit dem Arbeiten aufzuhören und sich dem Umzug anzuschließen. Ganze Abteilungen strömen hin und her, machen Scherze und singen. Diejenigen, die bei der Arbeit bleiben, werden zum Scherz gegrüßt, beklatscht und aufgefordert, schneller zu machen und härter zu arbeiten. Aufseher, die gerade da sind, sehen hilflos zu, wie ein Fließband nach dem anderen zum Stillstand gebracht wird.

Viele Drehbänke sind mit bunten Bildern überklebt: Fotos von Mädchen und von grünen Wiesen, Sex und Sonnenschein. Jeder, der jetzt noch arbeitet, wird aufgefordert, ans Tageslicht zu kommen und nicht nur davon zu träumen. In der Hauptanlage, die über 800 Meter lang ist, bleiben kaum zwölf Männer in ihrer Arbeitskleidung. Keine böse Stimme läßt sich vernehmen. Es werden viele gute und humorvolle Scherze gemacht. Gegen 11 Uhr sind Tausende von Arbeitern in die Wärme eines Mai Vormittags hinausgeströmt. Ein Bier- und Sandwich-Stand unter freiem Himmel macht einen enormen Umsatz.

 

13.15 Uhr. Die Straßen sind überfüllt. Die Reaktion auf den Aufruf zum eintägigen Generalstreik hat die gewagtesten Hoffnungen der Gewerkschaften noch übertroffen. Trotz der kurzfristigen Ankündigung ist Paris lahmgelegt. Der Streik war erst 48 Stunden zuvor beschlossen worden, nach der ‚Nacht der Barrikaden‘. Darüber Hinaus ist er ‚illegal‘. Das Landesrecht verlangt, daß ein Streik fünf Tage vorher angekündigt werden muß, bevor ‚offiziell‘ dazu aufgerufen werden darf. Zu dumm für die Legalität.

Eine große Gruppierung von jungen Leuten zieht den Boulevard de Sébastopol entlang auf den Ostbahnhof zu. Sie marschieren zum Versammlungsort der Studenten für die große Demonstration, die gemeinsam von den Gewerkschaften, der Studentenorganisation UNEF und den Lehrerorganisationen FNE und SNEup angekündigt worden ist.

Kein Autobus oder Auto ist zu sehen. Die Straßen von Paris gehören heute den Demonstranten. Tausende von ihnen befinden sich schon auf dem Platz vor dem Bahnhof. Weitere Tausende bewegen sich noch hierher aus allen Richtungen. Der Plan, dem die für die Demonstration verantwortlichen Organisationen zugestimmt haben, besteht darin, daß sich die verschiedenen Gruppen getrennt treffen und dann zum Platz der Republik ziehen, von wo aus der Marsch weitergehen soll quer durch Paris, über das Quartier Latin zum Place Denfert-Rochereau.

Wir stehen schon dicht gedrängt wie Sardinen, soweit das Auge nur blicken kann, und noch ist mehr als eine Stunde Zeit, bis der Abmarsch beginnen soll. Die Sonne scheint den ganzen Tag. Die Frauen sind in Sommerkleidern gekommen, die jungen Männer in Hemdsärmeln. Eine rote Fahne weht über dem Bahnhof. Es gibt viele rote Fahnen in der Menge und auch einige schwarze.

Plötzlich taucht ein Mann auf, der einen Koffer voll abgezogener Flugblätter mit sich trägt. Er gehört zu irgendeinem linken ‚Grüppchen‘. Er öffnet seinen Koffer und verteilt vielleicht ein Dutzend Flugblätter. Aber er braucht damit gar nicht allein weiterzumachen. Es besteht ein unstillbares Verlangen nach Information, Ideen, Literatur, Argumenten und Polemik. Der Mann steht kaum da und schon wird er von Leuten umringt, die sich zu ihm vordrängen, um das Flugblatt zu bekommen. Einige Dutzend Demonstranten, die das Flugblatt noch nicht einmal gelesen haben, helfen ihm, es zu verteilen. Ungefähr 6.000 Stück werden in wenigen Minuten ausgegeben. Alle scheinen genau gelesen zu werden. Die Leute diskutieren, lachen, machen Scherze. Ich beobachte solche Szenen immer wieder.

Die Verkäufer von revolutionärer Literatur erfüllen eine gute Aufgabe. Eine Verordnung, die von den Organisationen der Demonstration unterzeichnet worden ist, und nach der „nur die Literatur von Organisationen, die für die Demonstration verantwortlich sind“ erlaubt sein soll (siehe dazu Humanité vom 13. Mai 1968, S.5), wird enthusiastisch verspottet. Diese bürokratische Zwangsmaßnahme (die am vorigen Abend bei ihrer Ankündigung in Censier von den studentischen Delegierten im Koordinationskomitee heftig kritisiert wurde) läßt sich bei einer solchen Menschenmenge ganz offensichtlich nicht durchsetzen. Die Revolution ist eben größer als irgendeine Organisation, toleranter als irgendeine ‚repräsentative‘ Institution und realistischer als die Verordnung irgendeines Zentralkomitees.

Einige Demonstranten sind auf die Mauern, auf die Dächer der Bushaltestellen und auf das Geländer vor dem Bahnhof geklettert. Einige haben Lautsprecher und veranstalten kurze Ansprachen. Alle ‚politischen Richtungen‘ scheinen irgendwo in dem einen oder anderen Teil der Menge vertreten zu sein. Ich kann die Fahne der Revolutionären Kommunistischen Jugend sehen, Bilder von Castro und Che Guevara, die Fahne der FER, verschiedene Fahnen von „Dem Volke dienen“ (einer maoistischen Gruppe) und die Fahne der Union de la Jeunesse Communiste Marxiste-Léniniste (UJCML), einer anderen maoistischen Gruppierung. Weiterhin auch die Fahnen von vielen Erziehungseinrichtungen, die jetzt von denen gehalten werden, die dort arbeiten. Große Gruppen von Oberschülern mischen sich ebenso wie tausende von Lehrern unter die Studenten.

Ungefähr um 14 Uhr setzt sich die Abteilung der Studenten in Bewegung. Wir marschieren zu 20 bis 30 Mann in einer Reihe, die Arme verschränkt. Vor uns ist eine Reihe roter Fahnen, dann ein zehn Meter breites Spruchband mit den einfachen Worten: „Schüler, Lehrer, Arbeiter Hand in Hand“. Es ist ein eindrucksvoller Anblick.

Der ganze Boulevard de Magenta ist eine dichtgedrängte kochende Menschenmenge. Wir können den Platz der Republik gar nicht betreten, da er schon voll von Demonstranten ist. Auf dem Bürgersteig kann man nicht entlang gehen und durch die Nebenstraßen auch nicht. Überall nichts als Menschen, soweit das Auge reicht.

Als wir langsam den Boulevard de Magenta entlangziehen, bemerken wir an einem Balkon im dritten Stockwerk, hoch zu unserer Rechten, ein Büro der Sozialistischen Partei. Der Balkon ist mit ein paar altaussehenden roten Fahnen bedeckt und mit einem Spruchband, das zur „Solidarität mit den Studenten“ aufruft. Ein paar ältere Typen winken uns etwas befangen zu. Jemand in der Menge beginnt „Opportunisten!“ zu rufen. Die Parole wird aufgenommen und von Tausenden im Rhythmus gerufen, zur Verwirrung der Leute auf dem Balkon, die einen eiligen Rückzug antreten. Die Leute haben den Einsatz der CRS gegen streikende Minenarbeiter nicht vergessen, der 1958 vom ’sozialistischen‘ Innenminister Jules Moch angeordnet wurde. Sie denken noch an den ’sozialistischen‘ Premierminister Guy Mollet und an seine Rolle während des Algerienkrieges. Gnadenlos zeigt die Menge ihre Verachtung für die diskreditierten Politiker, die jetzt versuchen, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. „Guy Mollet, ins Museum!“ rufen sie unter Gelächter. Es ist wirklich das Ende einer Epoche.

Gegen 15 Uhr erreichen wir endlich den Platz der Republik, von wo aus der Marsch durch Paris losgehen soll. Die Menge hier steht so dicht beieinander, daß einige ohnmächtig werden und in naheliegende Cafés gebracht werden müssen. Hier sind die Leute zwar fast ebenso dicht gedrängt wie auf der Straße, aber sie können wenigstens verhindern, verletzt zu werden. Die Fensterscheibe eines Cafés gibt dem Druck der Menge draußen nach. In einigen Teilen der Menge besteht echte Angst, zu Tode gestoßen zu werden. Glücklicherweise beginnen die ersten Gewerkschaftsblocks mit dem Abmarsch vom Platz. Kein Polizist ist zu sehen.

Obwohl die Demonstration als gemeinsame angekündigt worden ist, stellen die CGT-Führer immer noch verzweifelte Bemühungen an, eine Verbindung von Arbeitern und Studenten auf der Straße zu verhindern. Sie haben dabei nur mäßigen Erfolg. Gegen 16.30 Uhr verläßt der Block von Studenten und Lehrern, ungefähr 80.000 Menschen, endlich den Platz der Republik. Hunderttausende von Demonstranten sind ihm vorangegangen, Hunderttausende werden noch folgen, aber der ‚linke Block‘ ist im wahrsten Sinne des Wortes eingeschlossen. Einige Gruppen, die endlich das Manöver der CGT durchschauen, brechen sofort aus, nachdem wir den Platz verlassen haben. Sie machen Abkürzungen über verschiedene Seitenstraßen und es gelingt ihnen, in Gruppen von ungefähr 100 Mann in die Blocks des Demonstrationszuges vor oder hinter ihnen einzudringen. Die stalinistischen Vertrauensleute, die Hand in Hand gehend den Demonstrationszug auf beiden Seiten säumen, haben keine Möglichkeit, diese plötzlichen Einfälle zu verhindern. Die studentischen Demonstranten zerstreuen sich wie Fische im Wasser, sobald sie in einen bestimmten Block eingedrungen sind. Die CGT-Demonstranten selbst sind recht freundlich und nehmen die Neuankömmlinge sofort auf, ohne sich ganz sicher zu sein, was das alles bedeuten soll. Das studentische Auftreten, die Kleidung und die Sprache machten es nicht so schnell möglich, sie als solche zu identifizieren.

Der Hauptblock der Studenten marschiert geschlossen. Jetzt, wo wir den Engpaß Platz der Republik hinter uns haben, ist das Tempo ziemlich schnell. Dennoch braucht der Zug der Studenten mindestens eine halbe Stunde, um einen gegebenen Punkt zu passieren. Die Parolen der Studenten stehen in schlagendem Gegensatz zu denen der CGT. Die Studenten rufen: „Alle Macht den Arbeitern!“; „Die Macht liegt auf der Straße“; „Befreit unsere Genossen!“; Die CGT-Mitglieder rufen: „Pompidou zurücktreten“. Die Studenten rufen: „De Gaulle-Mörder“ oder „CRS=SS“. Die CGT: „Geld, keine Polizei Kasinos“ oder „Verteidigt unsere Kaufkraft“. Die Studenten rufen „Nein zur Klassenuniversität“. Die CGT und die stalinistischen Studenten, um das Spruchband ihrer Zeitung ‚Clarté‘ geschart, rufen dagegen: „Demokratische Universität“. Hinter den Unterschieden im Ausdruck verbergen sich tiefliegende politische Differenzen. Einige Parolen werden von jedem aufgenommen: „Zehn Jahre sind genug“, „Nieder mit dem Polizeistaat“ oder „Herzlichen Glückwunsch, General“. Sie schwenken ihre Taschentücher, zur großen Erheiterung der Umherstehenden.

Als der Hauptblock der Studenten die Brücke St. Michel überquert, um ins Quartier Latin zu gelangen, stoppt der Zug plötzlich, um so schweigend der Verwundeten zu gedenken. Für einen Augenblick sind alle Gedanken bei denen, die im Krankenhaus liegen, deren Augenlicht durch zuviel Tränengas gefährdet ist oder deren Schädel oder Rippen von den Polizeiknüppeln Brüche davongetragen haben. Das plötzliche zornerfüllte Schweigen gerade dieses sonst geräuschvollsten Teils des Demonstrationszuges verleiht einen tiefen Eindruck von Stärke und Entschlossenheit. Man fühlt, welche handfesten Rechnungen noch zu begleichen sind.

Am Ende des Boulevard St. Michel schere ich aus dem Zug aus und klettere auf ein Geländer an den Luxemburg-Gärten und beobachte das ganze. Ich bleibe dort zwei Stunden lang, während eine Reihe nach der anderen vorbei demonstriert, 30 Leute oder mehr in einer Reihe, eine Menschenflut von phantastischem, unvorstellbarem Anblick. Wie viele sind es? 600.000 oder 800.000? Eine Million? Oder 1.500.000? Niemand kann das wirklich genau beziffern. Die ersten Demonstranten haben den Zielpunkt der Demonstration Stunden vorher erreicht, ehe die letzten Reihen den Platz der Republik gegen 19 Uhr verlassen hatten.

Es sind Spruchbänder jedweder Art zu sehen: gewerkschaftliche, studentische, politische, nicht-politische, reformistische, revolutionäre, Spruchbänder der Bewegung gegen die Atombewaffnung, der verschiedenen Elternräte, Spruchbänder in jeder Größe und Gestalt, Spruchbänder, die alle die gemeinsame Abscheu darüber, was passiert war, und den gemeinsamen Willen weiter zu kämpfen zum Ausdruck brachten. Einige Spruchbänder ernteten heftigen Applaus, wie dasjenige, das von einer Gruppe ORTF-Beschäftigter getragen wurde und das „freie Berichterstattung“ forderte. Einige Spruchbänder gaben sich lebendigem Symbolismus hin wie zum Beispiel ein schauerliches, das von einer Gruppe von Künstlern getragen wurde und das menschliche Hände, Köpfe und Augen zeigte, jeweils mit einem Preisschild versehen und zur Schau gestellt an den Haken und Trögen eines Metzgerladens.

Endlos ziehen sie vorbei. Ganze Abteilungen von Krankenhauspersonal sind darunter, in weißen Kitteln, manche tragen Plakate mit der Aufschrift: „Wo sind die Verletzten, die vermisst werden?“ Jede Fabrik, jede größere Arbeitsstätte scheint vertreten zu sein. Zahllose Gruppen von Eisenbahnern, Postbeamten, Druckern, U-Bahn-Personal, Metallarbeitern, Flughafenarbeitern, Marktarbeitern, Elektrikern, Juristen, Kanalarbeitern, Bankangestellten, Bauarbeitern, Arbeitern aus Glashütten und Chemiearbeitern, Kellnern, städtischen Angestellten, Malern und Dekorateuren, Gasarbeitern, Verkäuferinnen, Versicherungsangestellen, Straßenkehrern, Arbeitern aus Filmstudios, Busfahrern, Lehrern, Arbeitern aus den neuen Plastikindustrien – Reihe auf Reihe Fleisch und Blut der modernen kapitalistischen Gesellschaft, eine endlose Masse, eine Macht, die alles vor sich hinwegfegen könnte, wenn sie sich nur dazu entschließen würde, es zu tun.

Meine Gedanken wenden sich jetzt denjenigen zu, die behaupten, daß die Arbeiter sich nur für Fußball, Pferdewetten, Fernsehen und ihren jährlichen Urlaub interessieren würden und daß die Arbeiterklasse den Problemen des heutigen Lebens nicht auf den Grund gehen könnte. Das war so handgreiflich unwahr. Ich dachte ebenso an die, die meinen, daß zwischen den Massen und der totalen Umwandlung der Gesellschaft nur eine kleine und verrottete Führung als Hindernis liege. Das war ebenso unwahr. Heute beginnt die Arbeiterklasse, sich ihrer Macht bewußt zu werden. Wird sie sich morgen entschließen, davon Gebrauch zu machen?

Ich reihe mich wieder in den Zug ein und wir ziehen noch Denfert Rocherau. Wir kommen an einigen Statuen vorbei, gesetzten Herren, die jetzt mit roten Fahnen umhängt sind oder Parolen tragen wie „Befreit unsere Genossen!“. Als wir an einem Krankenhaus vorbeiziehen, kommt wieder Schweigen über die endlose Menge. Irgendjemand beginnt, die ‚Internationale‘ zu pfeifen. Andere schließen sich an. Wie eine Brise, die über ein großes Kornfeld streicht, tönt das Pfeifen in alle Richtungen. Von den Fenstern des Krankenhauses aus winken uns einige Krankenschwestern zu.

An verschiedenen Kreuzungen kommen wir an Ampeln vorbei, die merkwürdig träge zu funktionieren scheinen. Abwechselnd rot und grün, in bestimmten Zeitabständen, ebenso bedeutungslos wie die bürgerliche Erziehung, wie die Arbeit in der moderne Gesellschaft, wie das Leben derer, die vorbeigehen. Die Wirklichkeit von heute hat für einige Stunden alle Merkmale des Gestrigen in sich zusammensinken lassen.

Der Teil der Demonstration, in dem ich mich nun wiederfinde, nähert sich jetzt schnell dem von den Organisatoren festgelegten Ort der Auflösung der Demonstration. Die CGT ist verzweifelt darum bemüht, daß ihre Hunderttausend Sympathisanten ruhig auseinander gehen werden. Sie fürchtet sie, wenn sie zusammen sind. Die CGT will sie als namenlose Atome, die sich nach der Demonstration wieder in alle vier Himmelsrichtungen von Paris zerstreuen, machtlos hinsichtlich ihrer individuellen Befangenheit. Die CGT sieht sich selbst als die einzig mögliche Verbindung zwischen ihnen, gleichsam als das von Gott geweihte Instrument, ihrem gemeinsamen Willen Ausdruck zu verleihen. Die „Bewegung des 22.März“ hat auf der anderen Seite einen Aufruf an die Studenten und Arbeiter herausgegeben, in dem sie diese auffordert zusammenzubleiben und zu den Rasenplätzen des Marsfeldes (am Fuße des Eiffelturms) zu ziehen, um eine große kollektive Diskussion über die Erfahrungen des Tages und über die anstehenden Probleme zu führen.

An dieser Stelle bekomme ich zum ersten Mal eine Kostprobe davon, was ein aus stalinistischen Vertrauensleuten zusammengesetzter ‚Ordnungsdienst‘ wirklich bedeutet. Den ganzen Tag schon haben die Vertrauensleute offenbar diesen besonderen Moment erwartet. Sie sind sehr gespannt, offensichtlich erwarten sie ‚Krawalle‘. Vor allem fürchten sie das, was sie ‚Überflügelung‘ nennen, d.h. links überflügelt zu werden. Auf den letzten 800 Metern der Demonstration nehmen fünf oder sechs starke Reihen von ihnen Aufstellung auf beiden Seiten der Demonstranten. Die Arme untereinander verschränkt bilden sie einen massiven Schutzwall um die Demonstranten. CGT-Funktionäre rufen die zurückgehaltenen Demonstranten über zwei starke auf Lieferwagen angebrachte Lautsprecher an und fordern sie auf, sich über den Boulevard Arago ruhig zu entfernen, d.h. genau in die entgegengesetzte Richtung wie die zum Marsfeld. Andere Abzugswege vom Platz Denfert Rocherau sind durch Reihen von Vertrauensleuten mit ineinander verketteten Armen blockiert.

Bei Gelegenheiten wie dieser ruft die Kommunistische Partei, wie man mir sagte, Tausende ihrer Mitglieder aus der Pariser Gegend zusammen. Sie trommelt ebenso Mitglieder aus der entfernteren Umgegend herbei, indem sie sie mit vielen Busladungen von so weit entfernten Orten wie Rennes, Orléans, Sens, Lille und Limoges herbeischafft. Die Gemeinden unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei bringen weitere Hunderte dieser Vertrauensleute auf – nicht unbedingt Parteimitglieder, aber Leute, die aufgrund ihrer Arbeit und ihrer Zukunft vom guten Willen der Partei abhängig sind. Seit ihrem Höhepunkt bei der Regierungsbeteiligung 1945-1947 hat die Partei immer diese Art von Massenbasis in der Pariser Umgegend gehabt. Sie hat diese Basis unverändert bei Gelegenheiten wie der heutigen ausgenutzt. Auf der hiesigen Demonstration müssen es mindestens 10.000 solcher Vertrauensleute gewesen sein, möglicherweise sogar doppelt so viele.

Die Aufforderung der Vertrauensleute trifft auf ein unterschiedliches Echo. Ob sie Erfolg haben, bestimmte Gruppen dazu zu bewegen, sich über den Boulevard Arago zu entfernen, hängt natürlich von der Zusammensetzung der jeweiligen Gruppen ab. Die meisten von denen, in die die Studenten nicht erfolgreich eindringen konnten, gehorchen jetzt, obwohl auch hier einige der jüngeren Militanten Protest anmelden: „Wir sind eine Million auf der Straße. Warum sollten wir nach Hause gehen?“ Andere Gruppen zögern, sind unschlüssig, fangen an zu diskutieren. Studentische Sprecher klettern auf die Mauern und rufen: „Alle, die zum Fernseher zurückkehren wollen, gehen den Boulevard Arago runter. Die, die für gemeinsame Diskussionen zwischen Studenten und Arbeitern und für das Weitertreiben des Kampfes sind, gehen den Boulevard Raspail runter und ziehen zum Marsfeld.“

Diejenigen, die gegen die Aufforderung zum Zerstreuen protestieren, werden von den Vertrauensleuten sofort angegangen, als ‚Provokateure‘ denunziert und in vielen Fällen tätlich angegriffen. Ich sah einige Genossen der „Bewegung des 22. März‘, die tätlich angegriffen wurden, denen man die Flüstertüten entriss, ihre Flugblätter zerriß und auf den Boden warf. In einigen Blocks schien es Dutzende, in anderen Hunderte und wieder in anderen Tausende von ‚Provokateuren‘ zu geben. Eine Anzahl von kleineren Rangeleien gibt es, als die Vertrauensleute von diesen Blocks beiseite geschoben werden. Erhitzte Wortgefechte brechen aus, die Demonstranten bezeichnen die Stalinisten als ‚Bullen‘ und als den ‚letzten Schutzwall der Bourgeoisie‘.

Die Tatsachentreue zwingt mich zuzugeben, daß die meisten Blocks den Anordnungen der Gewerkschaftsbürokraten Folge leisteten. Die wiederholten Verleumdungen durch die CGT- und KP-Führer hatten ihren Erfolg gezeigt. Die Studenten galten als ‚Unruhestifter‘, ‚Abenteurer‘, ‚zweifelhafte Elemente‘. Die von ihnen beabsichtigte Aktion würde nur zu „einer massiven Intervention der CRS“ führen, die sich den ganzen Nachmittag wohlweislich nicht in Sichtweite gehalten hatte. „Das heute war nur eine Demonstration, nicht das Vorspiel zur Revolution“. Unbarmherzig spielten sie ihr Spiel mit den rückständigsten Gruppen in der Menge und griffen die fortschrittlicheren Gruppen an; so hatten die Apparatschiks der CGT Erfolg dabei, die große Masse der Demonstranten dazu zu bringen, sich zu zerstreuen, oft allerdings unter Protest. Tausende gingen zwar zum Marsfeld, Hunderttausende gingen jedoch nach Hause. Die Stalinisten hatten einen Tag gewonnen, aber die Inhalte, die sich heute erstmals gezeigt hatten, werden sicher in den kommenden Monaten widerhallen.

Ungefähr gegen 20 Uhr ereignete sich ein Vorfall, der die Stimmung der letzten Blocks der Demonstration, die sich gerade dem Ziel näherten, umschlagen ließ. Ein Polizeiwagen kam plötzlich eine der Straßen entlang, die zum Platz Denfert Rochereau führen. Er muß von seiner geplanten Fahrtroute abgekommen sein, oder vielleicht hatte sein Fahrer angenommen, daß die Demonstration schon aufgelöst worden sei. Angesichts der Menge bekamen die zwei Gendarmen auf dem Vordersitz Angst. Der Fahrer war unfähig, noch rechtzeitig zu wenden und zurückzufahren, und kam zu dem Entschluß, daß sein Leben davon abhänge, sich einen Weg durch die am wenigsten dichte Stelle der Menge zu bahnen. Das Fahrzeug wurde schneller und stieß mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 80 Stundenkilometern auf die Demonstranten zu. Die Leute rannten wie wild in alle Richtungen. Einige wurden zu Boden geworfen und zwei ernsthaft verletzt. Sehr viele konnten sich nur mit knapper Not retten. Der Wagen wurde schließlich umzingelt. Einer der Polizisten auf dem Vordersitz wurde herausgezerrt und von der aufgebrachten Menge mehrmals geschlagen, ja, man wollte ihn lynchen. Schließlich wurde er gerade im letzten Augenblick von den Vertrauensleuten gerettet. Sie trugen ihn mehr oder weniger eine Seitenstraße entlang – er war halb bewusstlos -, wo er wie eine geschlagene Blutwurst durch ein offenes Parterrefenster waagerecht hineingereicht wurde.

Hierfür mußten die Vertrauensleute ein Wettrennen mit einigen Hundert äußerst aufgebrachten Demonstranten veranstalten. Die Menge begann dann, den steckengebliebenen Polizeiwagen hin- und herzuschütteln. Der zurückgebliebene Polizist zog seinen Revolver und feuerte ab. Die Leute duckten sich. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Ungefähr 100 Meter weiter schlug die Kugel ca. 60 cm über dem Erdboden in ein Fenster von ‚Le Belfort‘ ein, einem großen Café am Boulevard Raspail Nr.297. Die Vertrauensleute eilten erneut zur Befreiung herbei und bildeten eine Barriere zwischen der Menge und dem Polizeiwagen, dem gestattet wurde, über eine Nebenstraße zu entkommen, gesteuert von dem Polizisten, der in die Menge gefeuert hatte.

Hunderte von Demonstranten drängten sich um das Loch in dem Fenster des Cafés. Pressefotografen wurden herbeigerufen, kamen und machten sogleich ihre Großaufnahmen – natürlich wurde keine davon veröffentlicht. (Zwei Tage später widmete die ‚Humanité‘ dem Vorfall ein paar Zeilen – am Ende einer Kolumne auf Seite 5.) Ein Ergebnis des Vorfalls ist, daß einige Tausend Demonstranten mehr sich entschlossen, nicht wegzugehen. Sie machten kehrt und zogen zum Marsfeld, wobei sie „Sie haben auf dem Denfert auf uns geschossen!“ riefen. Wenn der Vorfall nur eine Stunde früher passiert wäre, dann hätte der Abend des 13. Mai wohl etwas anders ausgesehen.

DER RAT DER SORBONNE

Am Samstag, dem 11. Mai, kurz vor Mitternacht, machte Premierminister Pompidou die Entscheidung seines Innenministers und seines Erziehungsministers rückgängig. Er kündigte an, daß die Polizei aus dem Quartier Latin abgezogen, die Fakultäten am Montag, dem 13.Mai, wieder eröffnet und daß das Gericht den Fall der vorige Woche verhafteten Studenten neu verhandeln werde. Dies war der größte politische Rückzug seiner Karriere. Für die Studenten und für viele andere stellte es den lebendigen Beweis dafür dar, daß direkte Aktion Erfolg hatte. Im Kampf waren Zugeständnisse errungen worden, die auf anderem Wege unerreichbar gewesen waren.

In aller Frühe wurden am Montag die CRS-Abteilungen, die den Eingang zur Sorbonne bewachten, diskret abgezogen. Die Studenten zogen ein. Erst in kleinen Gruppen, dann zu Hunderten, später zu Tausenden. Gegen Mittag war die Besetzung beendet. Jede ‚Trikolore‘ wurde sofort eingezogen, jeder Hörsaal besetzt. Rote Fahnen wurden an den offiziellen Fahnenmasten und an vielen Fenstern an improvisierten Masten aufgezogen, einige davon ragten zur Straße hinaus, andere zum großen Innenhof. 20 Meter über den herumziehenden Studenten wehten auf der Kuppel der Kapelle rote und schwarze Fahnen Seite an Seite.

Was an den nächsten paar Tagen geschah, wird im französischen Erziehungssystem, in der Struktur der französischen Gesellschaft und – das ist am allerwichtigsten – im Gedächtnis derer einen bleibenden Eindruck hinterlassen, die während dieser hektischen ersten vierzehn Tage lebten und Geschichte machten. Urplötzlich verwandelte sich die Sorbonne von einem muffigen Ghetto, in dem der französische Kapitalismus seine Priester, seine Technokraten und Verwaltungsbürokraten auswählte und zurechtformte, in einen ausbrechenden revolutionären Vulkan, dessen Lava sich weit ausbreitete und dabei die Gesellschaftsstruktur des modernen Frankreich versengte.

Der physischen Besetzung der Sorbonne folgte eine intellektuelle Explosion von vorher nicht gekannter Kraft. Alles, buchstäblich alles, stand plötzlich gleichzeitig zur Diskussion, wurde hinterfragt und gefordert. Es gab keine Tabus mehr. Es ist sehr einfach, den chaotischen Ausbruch von Gedanken, Ideen und Plänen, die unter solchen Umständen freigelassen werden, zu kritisieren. „Berufsrevolutionäre“ und kleinbürgerliche Philister kritisierten nach Herzenslust herum. Aber auf diese Weise enthüllten sie nur, wie sehr sie selbst noch der Ideologie einer vergangenen Epoche verhaftet waren und wie wenig sie imstande waren, diese hinter sich zu lassen. Sie vermochten nicht die unerhörte Bedeutung des Neuen zu erkennen, nicht die Bedeutung von all dem, was in ihrer eigenen voreingenommenen Begrifflichkeit nicht erfaßt werden konnte. Dies Phänomen zeigte sich immer wieder, wie es wohl zweifellos in jeder wirklich großen historischen Umwälzung gewesen ist.

Bei Tag und Nacht war jeder Hörsaal überfüllt, Schauplatz ständiger leidenschaftlicher Diskussion über wirklich jedes Thema, das jemals das menschliche Dasein beschäftigt hat. Kein Redner hat jemals eine Zuhörerschaft so sehr erfreut, keinem wurde jemals mit solch angespannter Aufmerksamkeit zugehört – und keinem wurde jemals eine so kurze Frist zugebilligt, wenn er Unsinn erzählte.

Eine bestimmte Ordnung gewann schnell Oberhand. Vom zweiten Tag an wurde ein Informationsbrett in der Nähe des Eingangs angebracht, das ankündigte, wo worüber diskutiert werden sollte. Ich notierte mir: „Organisation des Kampfes“; „Politische und gewerkschaftliche Rechte in der Universität“; „Universitätskrise oder Krise der Gesellschaft“; „Bericht über politische Unterdrückung“; „Selbstverwoltung“; „Keine Auslese mehr“ (oder wie man die Universitätstore für jedermann öffnen könnte); „Unterrichtsmethoden“, “ Examen“ usw. Andere Hörsäle wurden dem Komitee zur Vereinigung von Studenten und Arbeitern übergeben, das bald große Bedeutung erlangen sollte. In noch anderen Räumen wurden Diskussionen über „sexuelle Unterdrückung“, über die „Kolonialfrage“ und über “ Ideologie und Mystifikation“ veranstaltet. Jede Gruppe von Leuten, die den Wunsch hatte, über welches Thema auch immer zu diskutieren, würde irgendeinen Hörsaal oder einen kleineren Raum erhalten. Glücklicherweise gab es Dutzende davon.

Der erste Eindruck war, als ob sich plötzlich ein riesiger Deckel hob, als ob plötzlich bisher zurückgehaltene Gedanken und Träume in das Reich des Wirklichen und Möglichen übertragen wurden. Indem sie ihre Umgebung verändern, verändern sich die Leute auch selbst. Leute, die es niemals gewagt haben, etwas zu sagen, bekamen plötzlich das Gefühl, daß ihre Gedanken das Wichtigste auf der Welt seien – und redeten auch so. Die Schüchternen wurden mitteilsam. Die Hoffnungslosen und Vereinsamten entdeckten plötzlich, daß gemeinsame Macht in ihren Händen lag. Die traditionell Apathischen erfuhren plötzlich, wie stark sie an der Sache beteiligt waren. Eine ungeheure Woge von Gemeinschaft und Zusammenhalt ergriff diejenigen, die sich selbst zuvor nur als vereinzelte und machtlose Marionetten angesehen hatten, die von Institutionen beherrscht wurden, die sie weder kontrollieren noch verstehen konnten. Die Leute machten sich jetzt ganz einfach daran, ohne jede Spur von Befangenheit miteinander zu reden. Dieser Zustand der Euphorie dauerte die ganzen vierzehn Tage an, in denen ich dort weilte. Eine Inschrift, die auf eine Mauer gemalt worden war, bringt das wohl am besten zum Ausdruck: „Schon zehn Tage Glück“.

Im Hof der Sorbonne rächten sich die politischen Verhaltensweisen, die eine ganze Generation lang mit Mißtrauen betrachtet wurden. Im ganzen Innenrund wurden Literatur Stände aufgestellt. An den Wänden des Innenhofes erschienen riesige Portraits: Marx, Lenin, Mao, Trotzki, Castro, Guevara, eine revolutionäre Wiederauferstehung, die die Grenzen von Zeit und Raum hinter sich ließ. Selbst

Stalin tauchte vorübergehend wieder auf (an einem Stand der Maoisten), bis man den Genossen taktvoll klar machte, daß er in einer solchen Gesellschaft wohl nicht ganz zu Hause sei.

An den Ständen selbst kam plötzlich jede Art von Literatur zum Vorschein: Flugblätter und Schriften von Anarchisten, Stalinisten, Maoisten, Trotzkisten (dreier verschiedener Richtungen), der PSU und von Nicht-Parteigebundenen. Der Hof der Sorbonne war zu einem riesigen revolutionären Laden geworden, in dem die meisten einschlägigen Produkte nicht mehr unter dem Ladentisch bleiben mußten, sondern nun offen verkauft werden konnten. Alte Ausgaben von Zeitungen, von den Jahren verblichen, wurden ausgegraben und oft ebenso gut verkauft wie das neue Zeitungsmaterial. Überall standen Gruppen von zehn oder zwanzig Leuten herum und diskutierten heftig, Leute sprachen über die Barrikaden, über die CRS, über ihre eigenen Erfahrungen, aber ebenso über die Kommune von 1871, über 1905 und 1917, über die italienische Linke im Jahre 1921 und über Frankreich 1936. Eine Verbindung wurde geschlagen zwischen dem Bewußtsein der revolutionären Minderheiten und dem ganzer neuer Bevölkerungsgruppen, die Tag für Tag in den Strudel politischer Auseinandersetzungen hineingezogen wurden. Die Studenten lernten in ein paar Tagen, wozu andere ein ganzes Leben gebraucht hatten. Viele Schüler kamen, um zu sehen, was hier vor sich ging. Ich erinnere mich an einen Jungen von 14 Jahren, der einem ungläubigen Mann von 60 Jahren erklärte warum Studenten das Recht haben sollten, ihre Professoren abzusetzen.

Es geschahen aber auch andere Dinge. Ein großes Klavier tauchte plötzlich im Haupthof auf und blieb dort einige Tage lang. Wenn die Leute in den Hörsälen vom Neokapitalismus und seinen Manipulationstechniken sprachen, klangen Stücke von Chopin und Jazz Takte, Fetzen der ‚Carmagnole‘ und atonale Kompositionen durch die Luft. Einen Abend spielte jemand Trommel, dann traten einige Klarinettenspieler auf. Diese ‚Abweichungen‘ mögen einige einfache Geister der Revolution in Wut versetzt haben, aber sie stellten ebenso ein wichtiges Teilstück der totalen Umwandlung der Sorbonne dar wie die revolutionären Lehren, die in den Hörsälen vorgetragen wurden.

Eines Morgens tauchte eine Ausstellung von Großaufnahmen von der ‚Nacht der Barrikaden‘ in schöner Halbschatten Belichtung auf, die an Ständen angebracht waren. Niemand wußte, wer sie angebracht hatte. Jedermann stimmte zu, daß die Fotos den Schrecken und den Zauber, die Wut und die Hoffnung dieser schicksalsschweren Nacht in aller Kürze treffend zum Ausdruck brachten. Selbst die Türen der Kapelle, die zum Innenhof führten, wurden nun mit Inschriften verziert: „Öffnet diese Tür – Schluß mit den Tabernakeln“; „Die Religion ist die letzte Mystifikation“. Oder etwas prosaischer: „Wir wollen etwas zum Pissen, nicht zum Beten.“

Die massiven Außenwände der Sorbonne wurden ebenso bald mit Plakaten versehen, Plakate, die die ersten Sit-ln-Streiks dar: stellten, die die Lohnraten ganzer Gruppen von Pariser Arbeitern nannten, die Solidaritätsmärsche in Peking zeigten und die Polizeirepression und den Einsatz von CS-Gas (ebenso wie den von gewöhnlichem Tränengas) gegen die Demonstranten festhielten. Da gab es Plakate, die die Studenten vor der KP-Taktik, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, warnten und darlegten, wie sehr die KP die Bewegung der Studenten attackiert hatte und wie sehr sie jetzt versuchte, sich die Führung anzumaßen. Es gab politische Plakate in Hülle und Fülle; aber ebenso andere, die einen neuen Ethos verkündeten. Ein großes Plakat – natürlich ganz in der Nähe des Haupteingangs – verkündete kühn: „Es ist verboten zu verbieten“. Andere kamen in gleicher Weise zur Sache: „Nur die Wahrheit ist revolutionär“; „Unsere Revolution ist größer als wir selbst“; „Wir verweigern uns der Rolle, die man uns zugedacht hat, wir wollen nicht wie Polizeihunde dressiert werden.“. Die Bedürfnisse der Leute waren verschieden, aber sie bewegten sich auf einen Punkt zu. Die Plakate reflektierten die wahrhaft libertäre vorherrschende Philosophie. „Die Menschheit wird erst dann frei sein, wenn der letzte Kapitalist mit den Gedärmen des letzten Bürokraten erhängt worden ist.“; „Kultur ist zerstörerisch. Seid schöpferisch !“; „Ich nehme meine Wünsche für Realität, denn ich glaube an die Realität meiner Wünsche“ oder einfacher: „Kreativität, Spontaneität, Leben“. Außerhalb auf der Straße hielten Hunderte von Passanten an, um diese improvisierten Wandzeitungen zu lesen. Einige gafften, einige kicherten, einige nickten zustimmend. Einige diskutierten. Einige brachten ihren Mut zum Ausdruck und betraten wirklich das ehemals unzugängliche Gelände, wie man sie ja auch durch zahlreiche Plakate aufgefordert hatte, indem man verkündete, die Sorbonne stehe jetzt allen offen. Junge Arbeiter, die sich noch einen Monat zuvor „an diesem Platz nicht hatten sehen lassen wollen“, kamen nun in Gruppen her, erst ziemlich befangen, später, als würde die Stätte ihnen gehören, was sie natürlich auch tat.

Als die Tage verstrichen, begann eine andere Art von Invasion um sich zu greifen – die Invasion der Zyniker und Ignoranten oder nachsichtiger formuliert – derer, „die gekommen waren, um sich mal umzuschauen“. Diese Unsitte gewann allmählich an Bedeutung. Denn von einem bestimmten Punkt an drohte sie die ernsthafte Arbeit, die getan werden mußte, zu paralysieren; diese Arbeit mußte zum Teil zu der ebenfalls von Studenten besetzten Fakultät für Literatur in Censier verlegt werden. Jedoch erachtete man es weiterhin als notwendig, daß die Türen 24 Stunden am Tag offen blieben. Die Mitteilung breitete sich sicher aus. Abordnungen kamen zuerst von anderen Universitäten, dann von Oberschulen, später von Fabriken und Büros, um zu sehen, Fragen zu stellen, zu diskutieren und kennenzulernen. Das wirkungsvollste Kennzeichen für das neue berauschende Klima jedoch fand sich an den Wänden der Korridore der Sorbonne. Um die Haupt Hörsäle herum gibt es eine Masse solcher Korridore: dunkel, staubig, deprimierend und bis dahin unbeachtet führen Passagen von – genau gesagt – nirgendwo nach nirgendwo. Plötzlich wurden diese Korridore lebendig, in einer Art Feuerwerk hell leuchtender Mauer-Weisheit – vieles davon von den Situationisten inspiriert. Hunderte von Leuten hielten an, um Perlen wie diese zu lesen: „Konsumiere Marx nicht, lebe ihn“; „Die Zukunft wird nur das enthalten, was wir in sie hineinlegen“; „Wenn wir geprüft werden, dann werden wir mit Fragen antworten“; „Professoren, Ihr macht uns alt“; „Man kann sich nicht mit einer Gesellschaft zusammen tun, die in der Auflösung begriffen ist“; „Wir müssen unangepasst bleiben“; „Proletarier aller Länder, vergnügt Euch“; „Diejenigen, die eine Revolution nur halb machen, graben sich ihr eigenes Grab“(St.Just) „Bitte verlassen Sie die KP so sauber, wie Sie sie beim Eintritt vorfinden möchten“; „Die Tränen des Philisters sind der Nektar der Götter“; „Neapel sehen und sterben mit dem Club Méditerannée“; „Lang lebe die Kommunikation, nieder mit der Telekommunikation“; „Der Masochismus putzt sich heute genauso modisch heraus wie der Reformismus“; „Wir werden nichts beanspruchen Wir werden um nichts bitten. Wir werden nehmen. Wir werden besetzen“; „Die einzige Ausschreitung gegenüber dem Grabmal des unbekannten Soldaten war die, die ihn dorthin gebracht hat“; „Nein, wir wollen uns von der Großen Partei der Arbeiterklasse nicht schlucken lassen“. Und eine große gut platzierte Inschrift: „Seit 1936 habe ich für Lohnforderungen gekämpft. Mein Vater hat vor mir ebenso für Lohnforderungen gekämpft. Ich besitze einen Fernseher, einen Kühlschrank, einen Volkswagen. Insgesamt gesehen ist mein Leben immer das eines Knechts gewesen. Diskutiert nicht mit den Bossen. Beseitigt sie.“

Tag für Tag füllten sich Hof und Korridore, die Szene glich einem unaufhörlichen Flug in zwei Richtungen, hin zu jedem möglichen erreichbaren Winkel des riesigen Gebäudes. Es mag wie Chaos ausgesehen haben, aber es war das Chaos eines Bienenstocks oder eines Ameisenhügels. Eine neue Struktur entwickelte sich Schritt für Schritt. In einer großen Halle ist eine Kantine organisiert worden. Die Leute bezahlen, was sie aufbringen können, für Gläser Orangensaft, für ‚Minze‘ oder ‚Granatapfelsirup‘ und für Schinken oder Bratwurst. Ich frage, ob die Kosten denn gedeckt würden, und man sagt mir, daß sie gerade ausgeglichen werden. In einem anderen Teil des Gebäudes ist eine Kinderkrippe eingerichtet worden, anderswo eine Erste-Hilfe-Station wieder woanders ein Schlafsaal. Reguläre Reinigungsdienst Listen werden aufgestellt. Es werden Räume bereitgestellt für das Besetzungskomitee, für das Pressekomitee, das Propagandakomitee, für die Komitees zur Vereinigung von Studenten und Arbeitern, für die Komitees für die Probleme ausländischer Studenten, die Aktionskomitees der Schüler, die Komitees für die Verteilung der Räume und für die zahllosen Kommissionen, die besondere Aufgaben bewältigen wie z.B. die Erstellung einer Dokumentation über Polizeibrutalitäten, die Beschäftigung mit den Problemen der Autonomie, des Prüfungssystems usw. Jeder, der mitarbeiten möchte, kann leicht etwas finden.

Die Zusammensetzung der Komitees änderte sich ständig. Manchmal wechselte sie von einem Tag zum anderen, während die Komitees allmählich an Boden gewannen. Denjenigen, die noch sofortigen Lösungen für jedes einzelne Problem verlangten, wurde erwidert: „Geduld, Genosse. Gib uns Gelegenheit, eine Alternative zu entwickeln. Die Bourgeoisie hat diese Universität nahezu zwei Jahrhunderte lang kontrolliert. Sie hat keine Lösungen geschaffen. Wir sind dabei, ganz von unten aufzubauen. Wir brauchen einen Monat oder zwei… „

Angesichts dieser gewaltigen explosiven Entwicklung, die sie weder vorausgesehen hatte noch kontrollieren konnte, versuchte die Kommunistische Partei verzweifelt, von ihrem ramponierten Ruf zu retten, was sie konnte. Zwischen dem 3. und 13. Mai standen in jeder Ausgabe der ‚Humanité‘ Artikel, in denen die Studenten entweder angegriffen oder schmutzige Unterstellungen über sie verbreitet wurden. Jetzt plötzlich änderte sich dieses Programm.

Die Partei entsandte Dutzende ihrer besten Agitatoren in die Sorbonne, um den ‚Fall‘ zu erklären. Die Angelegenheit stellte sich recht einfach dar. Die Partei „unterstützte die Studenten“ – auch wenn sich unter deren Führern ein paar „zweifelhafte Elemente“ befanden. Das „hatte sie immer getan“. Und sie würde es auch immer tun.

Die dramatischsten Zeiten während der Besetzung waren ohne Zweifel die ‚Assemblees Generals“ oder Vollversammlungen, die jeden Abend in dem riesigen Amphitheater abgehalten wurden. Sie stellten den Rat dar, wo letztlich alle Entscheidungen ihren Ursprung hatten, den Entstehungsort direkter Demokratie. Das Amphitheater konnte in seinem riesigen Halbrund, das noch von drei Rängen überragt wurde, 5.000 Leute aufnehmen. Häufig war noch nicht einmal jeder Sitzplatz eingenommen, schon wollte die Menge zu den Seitenrängen und aufs Podium stürmen. Eine schwarze und eine rote Fahne hingen über dem einfachen Holztisch, an dem der Versammlungsleiter saß. Wenn man gesehen hat, wie Versammlungen von fünfzig Leuten aus dem Häuschen gerieten, dann ist es eine erstaunliche Erfahrung mit anzusehen, wie eine Versammlung von Fünftausend vonstatten geht. Wirkliche Ereignisse bestimmten die Themen und stellten sicher, daß der größte Teil der Diskussion wirklichkeitsnah blieb.

Es folgten erstaunliche Szenen. Jeder stalinistische „Agitator“ wurde sofort von einer großen Gruppe gut informierter junger Leute umringt, die die konterrevolutionäre Rolle der Partei aufdeckten. Die Genossen von ‚Voix Ouvriere‘ hatten eine Wandzeitung angebracht, in der täglich jede die Studenten angreifende Bemerkung, die in der ‚Humanité‘ oder in einem der Dutzend Partei Flugblätter erschienen war, angeschlagen wurde. Die ‚Agitatoren‘ kamen gar nicht zu Wort. Man ging ihnen sofort an den Kragen (nicht mit physischer Gewalt): „Die Sache ist nur allzu klar, Genosse. Wurden die Parteigenossen herzukommen belieben und ganz genau vorlesen, was die Partei vor noch nicht einmal einer Woche gesagt hat? Wurde die ‚ Humanité vielleicht den Studenten Platz einräumen, um auf einige der gegen sie erhobenen Anklagen zu antworten ? Andere aus der Zuhörerschaft brachten dann die Rolle der Partei während des Algerienkrieges auf den Tisch, die während des Minenarbeiterstreiks 1958 und während der Jahre des ‚Tripartismus‘ (1945-47). Die ‚Agitatoren ‚versuchten, sich wie ein Wurm hin und her zu winden, aber so konnten sie dieser Art der ‚Sofort Erziehung‘ nicht entkommen. Es war interessant festzustellen, daß die Partei diese ‚Rettungsaktion‘ nicht ihren jüngeren studentischen Mitgliedern anvertrauen konnte. Nur die ‚älteren Genossen‘ konnten sich in dieses Hornissennest wagen. Dies war so eindeutig und auffallend, daß die Leute meinten, jeder in der Sorbonne über 40 Jahre sei entweder ein Polizei Knecht oder ein Stalinistenbüttel.

Die dramatischsten Zeiten während der Besetzung waren ohne Zweifel die ‚Assemblees Generals“ oder Vollversammlungen, die jeden Abend in dem riesigen Amphitheater abgehalten wurden. Sie stellten den Rat dar, wo letztlich alle Entscheidungen ihren Ursprung hatten, den Entstehungsort direkter Demokratie. Das Amphitheater konnte in seinem riesigen Halbrund, das noch von drei Rängen überragt wurde, 5.000 Leute aufnehmen. Häufig war noch nicht einmal jeder Sitzplatz eingenommen, schon wollte die Menge zu den Seitenrängen und aufs Podium stürmen. Eine schwarze und eine rote Fahne hingen über dem einfachen Holztisch, an dem der Versammlungsleiter saß. Wenn man gesehen hat, wie Versammlungen von fünfzig Leuten aus dem Häuschen gerieten, dann ist es eine erstaunliche Erfahrung mit anzusehen, wie eine Versammlung von Fünftausend vonstatten geht. Wirkliche Ereignisse bestimmten die Themen und stellten sicher, daß der größte Teil der Diskussion wirklichkeitsnah blieb.

Nachdem man sich über das Thema der Diskussion geeinigt hatte, war es jedem erlaubt zu reden. Die meisten Redebeiträge wurden vom Podium aus gehalten, einige vom Halbrund aus, andere von den Balkonen. Die Lautsprecheranlage funktionierte gewöhnlich, manchmal jedoch nicht. Einige Redner konnten sich sofort Gehör verschaffen, ohne überhaupt die Stimme zu erheben, andere riefen durch ihren kreischenden Ton sofort eine feindselige Gegenstimmung hervor, durch ihre Heuchelei oder durch ihre mehr oder weniger offensichtlichen Versuche, die Versammlung zu manövrieren. Jeder, der schwafelte, in Erinnerungen schwelgte, Rollen rezitierte oder mit Phrasen um sich warf, wurde vom Auditorium nicht lange geduldet, einem Auditorium, das politisch das intelligenteste war, das ich jemals gesehen habe. Jeder, der praktische Vorschläge machte, hatte aufmerksame Zuhörer. So verhielt es sich mit denen, die die Bewegung im Zusammenhang mit ihren eigenen Erfahrungen zu interpretieren oder den weiteren Weg nach vorn aufzuzeigen versuchten.

Die meisten Redner bekamen drei Minuten Redezeit. Manche erhielten durch Abstimmung in der Zuhörerschaft sehr viel mehr. Die Menge selbst übte auf der Plattform und den Rednern gegenüber eine starke Kontrolle aus. Sehr schnell bildete sich eine gegenseitige Beziehung heraus. Die politische Reife der Versammlung zeigte sich am schlagendsten daran, daß man sehr schnell merkte, daß Buhen und Beifallklatschen während der Reden die eigenen Überlegungen der Versammlungen nur nachlassen ließen. Gute Reden wurden mit starkem Beifall bedacht – am Ende. Demagogische oder nutzlose Redebeiträge wurden ungeduldig beiseite geschoben. Bewußte revolutionäre Minderheiten spielten eine wichtige Katalysatoren-Rolle bei diesen Beratungen; sie versuchten jedoch nie – jedenfalls die intelligenteren von ihnen nicht – der großen Masse ihren Willen aufzuzwingen. Obwohl die Versammlung gerade in der Anfangsphase ihr gewisses Quantum an Exhibitionisten, Provokateuren und Spinnern aufwies, zeigten sich die Gesamtkosten der direkten Demokratie doch nicht so schwerwiegend, wie man hätte erwarten können.

Es gab Augenblicke der Spannung und solche der Erschöpfung. In der Nacht nach dem 13. Mai, am Tag der großen Demonstration durch die Straßen von Paris, sah Daniel Cohn-Bendit sich J. M. Catala, dem Generalsekretär der Union der kommunistischen Studenten, vor völlig überfüllten Auditorium gegenüber. Diese Szene hat sich tief in meine Erinnerung eingegraben:

„Erzähl uns“, sagt Cohn-Bendit, „warum die Kommunistische Partei und die CGT ihre Militanten aufgefordert haben, sich bei Denfert Rocherau zu entfernen, warum hielten sie sie davon ab, mit uns zusammen eine Diskussion auf dem Marsfeld zu führen?“

„Wirklich ganz einfach“, spottet Catala, „die zwischen der CGT, der CFDT, der UNEF und anderen verantwortlichen Organisationen geschlossene Übereinkunft beinhaltete, daß an einem vorher festgelegten Ort die Auflösung der Demonstration stattfinden sollte. Das gemeinsame verantwortliche Komitee hat keinerlei weitergehende Entwicklungen sanktioniert …“

„Eine enthüllende Antwort“, antwortet Cohn-Bendit, „die Organisationen haben nicht vorausgesehen, daß wir eine Million auf der Straße sein würden. Aber das Leben ist größer als die Organisationen. Mit einer Million Leute ist fast alles möglich. Du sagst, das Komitee hätte nichts weitergehendes sanktioniert. Am Tage der Revolution wirst du uns sicher erzählen, wir sollten auf sie verzichten, ‚weil das zuständige verantwortliche Komitee sie nicht sanktioniert hat …“

Das brachte die Versammlung aus dem Häuschen. Die einzigen, die nicht laut zu jubeln anfingen, waren einige Dutzend Stalinisten. Ebenso verhielten sich bezeichnenderweise diejenigen Trotzkisten, die schweigend die stalinistischen Vorstellungen akzeptierten – und deren einziger Streitpunkt mit der KP darin liegt, daß man sie davon ausschloß, eine der ‚verantwortlichen Organisationen‘ zu sein.

In derselben Nacht fällte die Versammlung drei wichtige Entscheidungen. Von jetzt an sollte sich die Sorbonne als revolutionäres Hauptquartier konstituieren („Smolny“ rief jemand). Diejenigen, die dort arbeiteten, sollten ihre Hauptkraft nicht bloß auf eine Neuorganisierung des Erziehungssystems, sondern auf eine totale Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft legen. Von jetzt an sollte die Universität all denen offen stehen, die sich diesen Zielen verpflichtet fühlten. Nachdem die Vorschläge angenommen waren, erhob sich die Versammlung wie ein Mann und sang die lauteste und leidenschaftlichste ‚Internationale‘, die ich jemals gehört habe. Das Echo muß bis zum Elysée-Palast auf dem anderen Ufer der Seine widergehallt haben.

DIE REVOLUTIONÄRE VON CENSIER

Zur gleichen Zeit, als die Studenten die Sorbonne besetzten, ergriffen sie auch Besitz vom ‚Centre Censier‘, der neuen Pariser Universitätsfakultät für Literatur.

Censier ist eine ultramoderne Angelegenheit aus Stahlbeton und Glas. die in der südöstlichen Ecke des Quartier Latin gelegen ist. Seine Besetzung zog weniger Aufmerksamkeit auf sich als die der Sorbonne. Sie sollte sich jedoch als ein ebenso bedeutsames Ereignis erweisen. Denn während die Sorbonne das Schaufenster des revolutionären Paris war mit allem, was eine blendende Schaustellung mit sich bringt – war Censier die Antriebskraft, der Ort, wo Dinge wirklich vorangebracht wurden.

Für viele müssen die Maitage in Paris wie eine im wesentlichen nächtliche Angelegenheit ausgesehen haben: nächtliche Schlachten mit der CRS, nächtliche Barrikaden, nächtliche Diskussionen in den großen Amphitheatern. Aber dies war nur eine Seite der Medaille. Während die einen bis in die Nacht hinein in der Sorbonne diskutierten, gingen die anderen früh ins Bett, weil sie am Morgen an den Fabriktoren oder in den Vororten Flugblätter verteilen würden. Flugblätter, die erst entworfen, dann getippt, dann abgezogen werden mußten und deren Verteilung sorgfältig zu organisieren war. Diese geduldige systematische Arbeit wurde in Censier geleistet. In nicht geringem Umfang trug sie dazu bei, dem neuen revolutionären Bewußtsein einen deutlichen Ausdruck zu verleihen.

Was die Genossen in Censier zusammenbrachte, war ein tief empfundener Sinn für die revolutionären Möglichkeiten der gegenwärtigen Lage und das Wissen, daß man keine Zeit zu vergeuden hatte. Sie alle verspürten das dringende Bedürfnis nach der Propaganda der direkten Aktion und daß die Dringlichkeit der Situation es erforderlich machte, daß sie alle doktrinären Unterschiede, die sie vielleicht haben mochten, hinter sich ließen. Es waren alles stark politisch engagierte Leute. Im großen wie im kleinen war ihre Politik die jener neuen und immer wichtiger werdenden historischen Art: sie waren ehemalige Mitglieder der einen oder anderen revolutionären Organisation. Welches waren ihre Ansichten? Im Grunde genommen liefen sie auf ein paar einfache Dinge hinaus. Was im Moment erforderlich war, war eine schnelle autonome Entwicklung des Kampfes der Arbeiterklasse, der Aufbau gewählter Streikkomitees, die die Verbindung zwischen den gewerkschaftlichen und nicht-gewerkschaftlichen Mitgliedern in allen dem Streik angeschlossenen Fabriken und Unternehmen herstellen würden, regelmäßige Versammlungen der Streikenden, so daß die grundlegenden Entscheidungen in den Händen der Basis blieben…

Bald nachdem Censier besetzt worden war, belegte eine Gruppe von Aktivisten einen großen Teil des dritten Stockwerks in Beschlag. Dieser Gebäudeteil sollte das Hauptquartier ihrer geplanten ‚Aktionskomitees von Arbeitern und Studenten‘ sein. Die allgemeine Vorstellung bestand darin, Verbindungen zu Gruppen von Arbeitern – wie klein sie auch seien -, die die generelle libertär-revolutionäre Auffassung dieser Studentengruppe teilten, herzustellen. Sobald Kontakte geknüpft seien, sollten Arbeiter und Studenten beim Herstellen von Flugblättern zusammenarbeiten. Die Flugblätter sollten die unmittelbaren Probleme besonderer Arbeitergruppen behandeln, aber im Lichte dessen, was die Studenten in ihrem Kampf als möglich aufgezeigt hatten. Ein fertiges Flugblatt sollte von Arbeitern und Studenten gemeinsam verteilt werden, draußen vor der jeweiligen Fabrik oder dem jeweiligen Büro, auf die sich das Flugblatt inhaltlich bezog. In einigen Fällen müsste die Verteilung von Studenten allein vorgenommen werden, in anderen wäre kaum ein einziger Student erforderlich.

Was die Genossen in Censier zusammenbrachte, war ein tief empfundener Sinn für die revolutionären Möglichkeiten der gegenwärtigen Lage und das Wissen, daß man keine Zeit zu vergeuden hatte. Sie alle verspürten das dringende Bedürfnis nach der Propaganda der direkten Aktion und daß die Dringlichkeit der Situation es erforderlich machte, daß sie alle doktrinären Unterschiede, die sie vielleicht haben mochten, hinter sich ließen. Es waren alles stark politisch engagierte Leute. Im großen wie im kleinen war ihre Politik die jener neuen und immer wichtiger werdenden historischen Art: sie waren ehemalige Mitglieder der einen oder anderen revolutionären Organisation. Welches waren ihre Ansichten? Im Grunde genommen liefen sie auf ein paar einfache Dinge hinaus. Was im Moment erforderlich war, war eine schnelle autonome Entwicklung des Kampfes der Arbeiterklasse, der Aufbau gewählter Streikkomitees, die die Verbindung zwischen den gewerkschaftlichen und nicht-gewerkschaftlichen Mitgliedern in allen dem Streik angeschlossenen Fabriken und Unternehmen herstellen würden, regelmäßige Versammlungen der Streikenden, so daß die grundlegenden Entscheidungen in den Händen der Basis blieben, Verteidigungskomitees der Arbeiter, um die Streikposten vor Einschüchterungen durch die Polizei zu schützen, und ein ständiger Dialog mit den revolutionären Studenten, alles mit dem Ziel, in der Arbeiterklasse deren eigene Tradition von direkter Demokratie und deren eigenes Verlangen nach Selbstverwaltung wiederherzustellen, derer die Bürokraten der Gewerkschaften und der politischen Parteien sich bemächtigt hatten.

Eine ganze Woche lang nahmen die verschiedenen trotzkistischen und maoistischen Grüppchen nicht einmal zur Kenntnis, was in Censier vor sich ging. Sie vergeudeten ihre Zeit in öffentlichen und oft scharf geführten Debatten in der Sorbonne wie zum Beispiel über die Frage, wer die beste Führung darstellen würde. Unterdessen schritten die Genossen in Censier ständig in ihrer Arbeit voran. Die Mehrheit von ihnen war mit beiden, stalinistischen und trotzkistischen Organisationen ‚fertig‘. Sie hatte sämtliche Vorstellungen hinter sich gelassen, nach denen ‚ Intervention‘ nur in Begriffen der potentiellen Rekrutierung für die eigene spezielle Gruppe Bedeutung hatte. Alle erkannten die Notwendigkeit einer revolutionären Bewegung mit großer Basis und mit maßvoller Struktur an, aber keiner von ihnen sah in dem Aufbau einer solchen Bewegung eine unmittelbare, über alles wichtige Aufgabe, um die sich die Propaganda jetzt zentrieren müßte.

Vervielfältigungsapparate aus dem Besitz der ’subversiven Elemente‘ wurden herbeigeschafft, die der Universität wurden eingezogen. Papier und Druckfarbe bekam man aus den verschiedenen Quellen und mit verschiedenen Mitteln. Allmählich kamen Flugblätter heraus, erst zu Hunderten, dann zu Tausenden, dann zu Zehntausenden, in dem Umfang, wie Verbindungen zu einer Arbeiterbasisgruppe noch der anderen entstanden. Allein am ersten Tag wurden Kontakte zu Renault, Citroen, Air France, Boussac, Nouvel les Messageries de Presse, Rhone-Poulence und zu RATP (Metro) geknüpft. Die Bewegung weitete sich dann schneeballartig aus.

Jeden Abend erstatteten in Censier die Aktionskomitees einer Vollversammlung Bericht, die ausschließlich zu diesem Zweck zusammentrat. Man schätzte die Reaktion auf die Verteilung der Flugblätter ein, der Inhalt künftiger Flugblätter wurde diskutiert. Diese Diskussionen wurden gewöhnlich von dem Arbeiter-Verbindungsmann begonnen, der den Eindruck des Flugblattes auf seine Kameraden beschrieb. Die hitzigsten Diskussionen bewegten sich um die Frage, ob man die CGT-Führer direkt angreifen sollte oder ob bloße Vorschläge dazu, was für den Sieg erforderlich sei, genügen würden, um jedermann aufzuzeigen, was die Gewerkschaftsführer alles getan hätten (und was nicht) und was sie alles in allem bedeuteten. Der zweite Standpunkt war der vorherrschende.

Die Flugblätter waren gewöhnlich sehr kurz, keinesfalls mehr als 200 oder 300 Worte. Nahezu alle begannen damit, daß sie Beschwerden der Arbeiter aufzählten oder daß sie ganz einfach deren Arbeitsbedingungen beschrieben. Am Ende forderten sie die Arbeiter dazu auf, in Censier oder in der Sorbonne zusammenzukommen. „Diese Orte gehören jetzt auch Euch. Kommt her und diskutiert Eure Probleme mit anderen, Nehmt es selbst in die Hand, den Leuten um Euch herum Eure Probleme und Forderungen bekannt zu machen“ Zwischen diesem Anfang und diesem Ende enthielten die meisten Flugblätter ein oder zwei politische Schlüsselfragen.

Die Antworten kamen augenblicklich. Mehr und mehr Arbeiter fanden sich ein, um gemeinsam mit den Studenten Flugblätter zu verfassen. Bald war kein Raum mehr groß genug für die tägliche Vollversammlung. Die Studenten lernten von der Selbstdisziplin der Arbeiter eine Menge und von ihrer systematischen Art, mit der sie ihre Berichte vorlegten. Das war alles grundlegend anders als die ‚Hickhacks‘ der politischen Sekten. Es war allgemein anerkannt, daß dies die besten Vorlesungen waren, die jemals in Censier gehalten wurden.

Von den wirkungsvolleren Abschnitten dieser Flugblätter habe ich mir folgendes notiert:

AIR FRANCE FLUGBLATT:

„Wir weigern uns, eine erniedrigende ‚Modernisierung‘ zu akzeptieren, die bedeutet, daß wir ständig bewacht werden und uns Bedingungen unterwerfen müssen, die für unsere Gesundheit, unser Nervensystem schädlich sind und die eine Beleidigung unserer Existenz als Menschen darstellen… Wir weigern uns, unsere Forderungen noch länger vertrauensvoll in die Hände professioneller Gewerkschaftsführer zu legen. Wir müssen wie die Studenten unsere Angelegenheiten in unsere eigenen Hände nehmen“.

RENAULT-FLUGBLATT:

„Wenn wir wollen, daß unsere Lohnerhöhungen und unsere Forderungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen Erfolg haben, wenn wir nicht wollen, daß sie ständig bedroht sind, dann müssen wir jetzt für eine grundlegende Veränderung in der Gesellschaft kämpfen … Als Arbeiter sollten wir selbst danach streben, den Gang unserer Unternehmen zu kontrollieren. Unsere Forderungen sind denen der Studenten ähnlich. Die Verwaltung der Industrie und die der Universität sollten von denen, die dort arbeiten, auf demokratischem Weg sichergestellt werden…“

RHONE-POULENC-FLUGBLATT:

„Bis jetzt haben wir versucht, unsere Probleme auf dem Weg von Bittschriften, Teilkämpfen und der Wahl besserer Führer zu lösen. Das hat uns zu nichts geführt. Die Aktion der Studenten hat uns gezeigt, daß einzig und allein Basisaktionen die Autoritäten zwingen können nachzugeben… Die Studenten stellen den ganzen Sinn und Zweck der bürgerlichen Erziehung in Frage. Sie wollen die grundlegenden Entscheidungen selbst in die Hand nehmen. So sollten wir es auch tun. Wir sollten über den Zweck der Produktion entscheiden und auf wessen Kosten die durchgeführt wird.“

STADTTEIL-FLUGBLATT:

(Dieses Flugblatt wurde in den Straßen von Boulogne Billancourt verteilt):

„Die Regierung fürchtet die Ausweitung der Bewegung. Sie fürchtet die Entwicklung der Einheit von Arbeitern und Studenten. Pompidou hat erklärt, daß ‚die Regierung die Republik verteidigen wird‘. Armee und Polizei stehen bereit. De Gaulle wird am 24.sprechen. Wird er die CRS schicken, um die Streikposten von den am Streik beteiligten Fabriken zu entfernen? Seid vorbereitet. Bezieht die Selbstverteidigung an Euren Arbeitsplätzen und an den Fakultäten in Eure Überlegungen mit ein…“

Dutzende solcher Flugblätter wurden jeden Tag diskutiert, getippt, vervielfältigt und verteilt. Jeden Abend hörten wir von der Resonanz, die sie fanden: „Die Genossen finden sie unheimlich gut. Es ist genau das, was sie auch denken. Die Gewerkschaftsfunktionäre reden nie so.“ „Die Genossen fanden das Flugblatt ganz gut. Sie sind skeptisch, was die 12% betrifft. Sie sagen, die Preise würden in die Höhe schnellen, so daß wir das Ganze in wenigen Monaten wieder verlieren würden. Einige sagen, laßt uns jetzt alles zusammenhauen und das Steuer in die Hand nehmen.“ „Das Flugblatt hat ganz sicher bewirkt, daß die Leute anfingen zu reden. Noch nie hatten sie so viel zu sagen. Die Funktionäre mussten warten, bis sie mit dem Reden an der Reihe waren…“

Lebhaft erinnere ich mich an einen jungen Drucker, der eines Abends sagte, diese Versammlungen seien das Spannendste, was er bisher überhaupt mitgemacht habe. Sein ganzes Leben habe er davon geträumt, Leute zu treffen, die auf diese Art dachten und sprachen. Aber jedesmal, wenn er dachte, er habe einen getroffen, dann war alles, woran der interessiert war, wie er etwas von ihm bekommen könnte. Dies sei das erste Mal, daß ihm uneigennützige Hilfe angeboten worden sei.

Ich weiß nicht, was in Censier seit Ende Mai geschehen ist. Als ich dort wegging, bereiteten gerade verschiedene Trotzkisten ihren Einzug vor, mit der Absicht, „die Flugblätter zu politisieren“ (ich nehme an, sie meinten damit, daß die Flugblätter jetzt von der ‚Notwendigkeit‘ handeln sollten, ‚die revolutionäre Partei aufzubauen‘ ). Wenn sie Erfolg loben, woran ich zweifle, da ich das Kaliber der Genossen in Censier kenne, wird es eine Tragödie sein.

Tatsächlich jedoch waren die Flugblätter politisch. Während meines ganzen kurzen Aufenthaltes in Frankreich sah ich nichts intensiver oder wesentlicher Politisches (im besten Sinne des Wortes) als die Kampagne, die von Censier ausging, eine Kampagne für eine ständige Kontrolle des Kampfes von unten, für Selbstverteidigung, für die Verwaltung der Produktion durch die Arbeiter, für die Verbreitung des Konzepts der Arbeiterräte, um allen und jedem die ungeheure Bedeutung zu erklären, die in einer revolutionären Situation revolutionäre Forderungen, organisierte Selbstaktivität und kollektives Selbstvertrauen haben.

Als ich Censier verließ, mußte ich unwillkürlich daran denken, daß dieser Ort einen Abriß der Krise des modernen bürokratischen Kapitalismus gegeben hat. Censier ist kein Erziehungsslum. Es ist ein ultramodernes Gebäude, eines der Schaustücke gaullistischer ‚Größe‘. Es hat Kabelfernsehen in den Hörsälen, moderne Installation und Automaten, die 24 verschiedene Sorten Essen – in sterilen Behältern – und 10 verschiedene Sorten Getränke ausgeben. Über 90 % der Studenten kommen dort aus kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Verhältnissen. Doch ihre Ablehnung der Gesellschaft, die sie aufgezogen hat, ist so stark, daß sie 24 Stunden am Tag Abzugsmaschinen bedienten und eine Flut revolutionärer Literatur herausbrachten, in die noch keine moderne Stadt jemals zuvor hineingestoßen wurde. Diese besondere Aktivität hat die Studenten verändert und hat zur Veränderung ihrer Umgebung beigetragen. Sie brachen gleichzeitig die Gesellschaftsstruktur auf und hatten Zeit für ihr Leben. Um es mit den Worten einer Parole an einer Mauer zu sagen: „Man ist nicht dazu da, sich zu langweilen“.

DIE ZUSAMMENKUNFT

Als die Nachricht von der ersten Fabrikbesetzung (die der Flugzeugwerke in Nantes) die Sorbonne erreichte – spät in der Nacht am Dienstag, dem 14. Mai -, gab es Szenen von unbeschreiblichem Enthusiasmus. Sitzungen wurden unterbrochen, um die Besetzung anzukündigen. Jedermann schien die Bedeutung dessen, was gerade geschehen war, zu spüren. Nach einer ganzen Minute ununterbrochenen begeisterten Rufens brach das Auditorium in ein rhythmisches Klatschen aus, das sonst für ganz große Gelegenheiten aufgespart war.

Am Donnerstag, dem 16. Mai, wurden die Renault Werke in Cleon (in der Nähe von Rouen) und in Flins (im Nordwesten von Paris) besetzt. Gespannt blieben die Gruppen im Hof der Sorbonne sozusagen an ihren Radios kleben, als stündlich die Nachrichten von weiteren Besetzungen durchkamen. Riesige Plakate wurden innerhalb und außerhalb der Sorbonne aufgestellt mit den neuesten Informationen darüber, welche Fabriken besetzt worden waren: Nouvelles Messageries de Presse in Paris, Kleber-Colombes in Caudebec, Dresser-Dujardin in Le Havre, die Schiffswerft in Le Trait … und schließlich die Renault-Werke in Boulogne-Billancourt. Innerhalb von 48 Stunden mußte der Plan, alles bekanntzugeben, aufgegeben werden. Keine Informationstafel war groß genug. Endlich fühlten die Studenten, daß der Kampf wirklich begonnen hatte.

Am frühen Freitagnachmittag wurde eine außerordentliche Vollversammlung abgeholten. Die Versammlung beschloss, eine große Abordnung zu den besetzten Renault-Werken in Billancourt zu senden. Deren Aufgabe war es, Kontakte herzustellen, die Solidarität der Studenten auszudrücken und wenn möglich gemeinsame Probleme zu diskutieren. Der Zug sollte den Platz der Sorbonne gegen 18 Uhr verlassen.

Gegen 17 Uhr wurden plötzlich Tausende von Flugblättern verteilt, in den Amphitheatern, im Hof der Sorbonne und in den umliegenden Straßen. Sie waren vom Renault-Büro der CGT unterzeichnet. Die Kommunistische Partei hatte schnelle Arbeit geleistet… Die Flugblätter lauteten:

„Wir haben gehört, daß Studenten und Lehrer den Plan haben, diesen Nachmittag in Richtung Renault zu ziehen. Dieser Beschluss wurde ohne Hinzuziehung der zuständigen Gewerkschaftsabteilungen der CGT, CFDT und FO gefaßt.“

„Wir begrüßen die Solidarität der Studenten und Lehrer im allgemeinen Kampf gegen die ‚pouvoir personel‘ (d. h. gegen de Gaulle) und die Unternehmer herzlich, aber wir sind gegen jede unkluge Initiative, die die Entwicklung unserer Bewegung bedrohen und eine Provokation begünstigen könnte, was nur zu einem Täuschungsmanöver durch die Regierung führen würde.“

„Wir raten den Organisatoren dieser Demonstration ernsthaft davon ab, mit ihren Plänen fortzufahren.“

„Wir haben die Absicht, zusammen mit den Arbeitern, die heute für ihre Forderungen kämpfen, unseren eigenen Streik durchzuführen. Wir lehnen jede Einmischung von außen ab, im Einklang mit der Erklärung, die gemeinsam von der CGT, der CFDT und der FO unterzeichnet worden ist und mit ausdrücklicher heute morgen erfolgter Billigung von 23.000 Arbeitern, die zur Fabrik gehören.“

Die Verdrehungen und Unaufrichtigkeit in diesem Flugblatt spotten jeder Beschreibung. Niemand hatte die Absicht, den Arbeitern Vorschriften darüber zu machen, wie sie den Streik führen sollten, und niemand strebte nach der Führung des Streiks. Alles, was die Studenten wollten, war, ihre Solidarität mit den Arbeitern für einen jetzt gemeinsamen Kampf gegen den Staat und die Ausbeuterklasse auszudrücken.

Das CGT-Flugblatt kam wie eine eiskalte Dusche über die weniger politischen Studenten und über alle, die gegenüber dem Stalinismus noch Illusionen hatten. „Sie werden uns nicht hinkommen lassen.“ „Die Arbeiter wollen nicht mit uns reden.“ Die Identifizierung von Arbeitern mit ‚ihren‘ Organisationen ist nur sehr schwer aufzubrechen. Einige Hundert, die eigentlich die Absicht hatten, mit nach Billancourt zu ziehen, wurden wahrscheinlich davon abgehalten. Die UNEF wurde unschlüssig, weil sie den Marsch nicht unter direkter Verletzung der ausdrücklichen Wünsche der CGT anführen wollte.

Schließlich brachen ungefähr 1.500 Leute auf, unter einem einzigen Spruchband, das in aller Eile von einigen maoistischen Studenten vorbereitet worden war. Auf dem Spruchband stand zu lesen: „Die starken Hände der Arbeiterklasse müssen jetzt die Fackel aus den schwachen Händen der Studenten übernehmen.“ Viele reihten sich in den Zug ein, obwohl sie keine Maoisten waren und nicht unbedingt mit dieser speziellen Formulierung des Ziels einverstanden sein mußten.

Obwohl dieser Demonstrationszug im Vergleich mit anderen klein war, war er sicherlich einer von den politischsten. Praktisch jeder, der an ihm teilnahm, gehörte zu der einen oder anderen ‚ Sekte‘: eine spontan vereinigte Front von Maoisten, Trotzkisten, Anarchisten, den Genossen von der Bewegung des 22. März und verschiedenen anderen. Jeder wußte genau, was er tat. Genau dies war es, was die Kommunistische Partei so in Wut brachte.

Der Marsch setzte sich lautstark in Bewegung, überquert den Boulevard St.Michel und zieht am besetzten Odeon-Theater entlang (wo sich einige Hundert Leute freudiger einreihen). Dann geht es in sehr raschem Tempo die Rue de Vaugirard, die längste Straße von Paris entlang bis hin zu den Arbeiterbezirken im Südwesten der Stadt; der Zug nimmt an Größe und an kämpferischer Haltung in dem Maße, wie er vorankommt, ständig zu. Es ist wichtig, daß wir die Fabrik erreichen, bevor die Stalinisten Zeit haben, ihre großen Bataillone zu mobilisieren…

Weit hinter uns sind jetzt die hellen Lichter des Quartier Latin und des faszinierenden Paris, wie es den Touristen bekannt ist. Wir ziehen durch kleine, spärlich beleuchtete Straßen, in denen der nicht abgeholte Müll sich zu Bergen angehäuft hat. Dutzende von jungen Leuten reihen sich bei uns ein, angezogen durch den Lärm und das Singen revolutionärer Lieder, wie „Die Junge Garde“, „Zimmerwald“ und das Lied der Partisanen. „Zu Renault, zu Renault“ rufen die Demonstranten. Die Leute scharen sich an den Türen der Kneipen oder schauen aus überfüllten Wohnungen aus dem Fenster, um uns vorbeiziehen zu sehen. Manche blicken erstaunt, aber viele – möglicherweise die Mehrzahl – klatschen jetzt oder winken uns ermutigend zu. In manchen Straßen stehen viele Algerier am Straßenrand. Einige rufen mit uns zusammen „CRS gleich SS“, „Charonne“, „Nieder mit dem Polizeistaat“. Sie haben nichts vergessen. Viele gucken schüchtern drein oder lächeln auf eine verlegene Art. Sehr wenige reihen sich in unseren Demonstrationszug ein.

Parolen wie z.B. „Mit uns zu Renault“, „Die Macht liegt auf der Straße“, „Alle Macht den Arbeitern“ werden immer wieder kräftig gerufen. Die Maoisten rufen „Nieder mit der volksfeindlichen gaullistischen Regierung der Arbeitslosigkeit und des Elends“, eine lange und politisch zweideutige Parole, aber eine, die ungemein zum gemeinsamen Rufen geeignet ist. Wiederholt erklingt die Internationale, diesmal von Leuten gesungen, die den Text zu kennen scheinen – selbst den der zweiten Strophe.

Während wir die acht Kilometer nach Issy-Les-Moulineaux gezogen sind, ist es mit der Zeit dunkel geworden. Weit hinter uns sind jetzt die hellen Lichter des Quartier Latin und des faszinierenden Paris, wie es den Touristen bekannt ist. Wir ziehen durch kleine, spärlich beleuchtete Straßen, in denen der nicht abgeholte Müll sich zu Bergen angehäuft hat. Dutzende von jungen Leuten reihen sich bei uns ein, angezogen durch den Lärm und das Singen revolutionärer Lieder, wie „Die Junge Garde“, „Zimmerwald“ und das Lied der Partisanen. „Zu Renault, zu Renault“ rufen die Demonstranten. Die Leute scharen sich an den Türen der Kneipen oder schauen aus überfüllten Wohnungen aus dem Fenster, um uns vorbeiziehen zu sehen. Manche blicken erstaunt, aber viele – möglicherweise die Mehrzahl – klatschen jetzt oder winken uns ermutigend zu. In manchen Straßen stehen viele Algerier am Straßenrand. Einige rufen mit uns zusammen „CRS gleich SS“, „Charonne“, „Nieder mit dem Polizeistaat“. Sie haben nichts vergessen. Viele gucken schüchtern drein oder lächeln auf eine verlegene Art. Sehr wenige reihen sich in unseren Demonstrationszug ein.

Wir ziehen noch ein paar Kilometer weiter. Kein Polizist ist zu sehen Wir überqueren die Seine und gehen schließlich langsamer, als wir an einem Platz angelangen, hinter dem die Renault-Werke liegen. Die Straßen hier sind sehr schlecht beleuchtet. Es liegt eine gewisse angespannte Erregung in der Luft.

Plötzlich stoßen wir auf einen Lastwagen, der quer über fast die ganze Straße geparkt und mit einer Lautsprecheranlage ausgerüstet ist. Der Zug macht holt. Auf dem Lastwagen steht ein CGT-Funktionär. Er spricht fünf Minuten lang. In einem irgendwie eisigen Ton erzählt er, wie sehr er erfreut ist, uns zu sehen. „Danke, daß ihr gekommen seid, Genossen. Wir begrüßen Eure Solidarität. Aber bitte keine Provokationen. Geht nicht zu nah an die Fabriktore heran, da die Verwaltung dies als Vorwand benutzen würde, die Polizei zu rufen. Und geht möglichst bald wieder nach Hause. Es ist kalt und Ihr werdet all Eure Kraft in den kommenden Tagen brauchen.“

Die Studenten haben ihre eigenen Lautsprecher mitgebracht. Ein oder zwei Leute sprechen kurz. Sie gehen auf die Ausführungen des Genossen von der CGT ein. Sie hätten nicht die Absicht, irgendwen zu provozieren, noch den Wunsch, irgendjemandes Funktionen an sich zu reißen. Wir bewegen uns dann langsam, aber ziemlich entschlossen auf den Platz zu, an beiden Seiten des Lastwagens vorbei, wobei wir den Protest von ungefähr hundert Stalinisten mit einer machtvollen ‚Internationale‘ übertönen. Arbeiter aus den umliegenden Cafés kommen heraus und reihen sich bei uns ein. Diesmal hat die Partei keine Zeit mehr gehabt, ihre Militanten zu mobilisieren. Sie konnte uns nicht physisch isolieren.

Ein Teil der Fabrik taucht jetzt direkt vor uns auf, drei Etagen auf der linken und zwei auf der rechten Seite. Uns gegenüber befindet sich ein riesiges Metalltor, das verschlossen und verriegelt ist. Ein großes Fenster im ersten Stock zu unserer Rechten ist mit Arbeitern überfüllt. Die erste Reihe sitzt mit den Beinen baumelnd auf dem Fensterbrett. Einige von ihnen scheinen im Teenageralter zu sein; einer von ihnen schwenkt eine große rote Fahne. Es sind keine ‚Trikoloren‘ zu sehen keine ‚doppelte Bürgerpflicht‘, wie ich es an anderen besetzten Orten gesehen habe. Einige weitere Dutzend Arbeiter stehen auf den Dächern der zwei Gebäude.

Wir winken. Sie winken zurück. Wir singen die ‚Internationale‘. Sie stimmen ein. Wir geben den ersten Salut mit geballten Fäusten. Sie geben ihn zurück. Ein jeder ruft laut. Der Kontakt war hergestellt.

Dann gibt es einen interessanten Wortwechsel. Eine Gruppe von Demonstranten beginnt zu rufen: „Die Fabriken in die Hände der Arbeiter“. Die Parole breitet sich wie ein Lauffeuer in der Menge aus. Die Maoisten, die nun klar in der Minderheit sind, sind ziemlich beunruhigt (dem Vorsitzenden Mao zufolge ist Arbeiterkontrolle eine kleinbürgerliche anarchosyndikalistische Abweichung). „Die Fabriken in die Hände der Arbeiter“… zehnmal, zwanzigmal hallt die Parole über den Place Nationale, von einer allmählich 3.000 Mann großen Menge aufgenommen.

Als das Rufen abflaut, ruft eine einzelne Stimme von einem der Dächer von Renault zurück: „Die Sorbonne den Studenten!“ Andere Arbeiter auf dem selben Dach stimmen ein, dann diejenigen auf den anderen Dächern. Der Lautstärke nach zu urteilen müssten es jetzt auf jedem Dach mindestens hundert Mann sein. Dann tritt ein Moment des Schweigens ein. Jedermann glaubt, daß das abwechselnde Parolen Rufen ein Ende hat. Aber da beginnt einer der Demonstranten zu rufen: „Die Sorbonne den Arbeitern“. Unter allgemeinem Gelächter stimmt jeder ein.

Wir beginnen miteinander zu reden. Schnell wird ein Seil vom Fenster herabgelassen, mit einem am Ende befestigten Eimer. Bier und Zigaretten werden hochgezogen. Ebenso revolutionäre Flugblätter, ganze Stapel von Zeitungen (hauptsächlich Ausgaben von ‚Dem Volke dienen‘ – einer maoistischen Zeitung mit der großen Titelzeile „Es lebe die CGT“). Zu ebener Erde gibt es einige Spalten in der Metallfassade des Gebäudes. Gruppen von Studenten drängen sich an diese ungefähr sechs Öffnungen und sprechen mit den Arbeitern auf der anderen Seite. Sie diskutieren über Löhne, Arbeitsbedingungen, die CGT, was die Kollegen drinnen am notwendigsten brauchen, wie die Studenten helfen können. Die Männer sprechen frei heraus. Sie sind keine Parteimitglieder. Sie glauben, daß das ständige Gefasel über ‚Provokateure‘ ein bißchen weit hergeholt sei. Aber die Maschinen müssten geschützt werden. Wir sagen, daß zwei oder drei Studenten in der Fabrik, in der Obhut des Streikkomitees, wohl kaum die Maschinen zerstören könnten. Sie geben das zu. Wir vergleichen die weit geöffneten Türen der Sorbonne mit den schwer verriegelten Toren von Renault, die von den CGT-Funktionären geschlossen seien, um eine ideologische Beeinflussung ‚ihrer‘ Militanten zu verhüten. Wie dumm, sagen wir, daß man durch diese blöden kleinen Spalten in der Mauer reden muß. Wiederum stimmen sie zu. Sie wollen die Sache vor ihre Führer bringen. Niemand scheint – bis jetzt jedenfalls – darüber hinaus zu denken.

Es gibt nun erstmal eine Ablenkung. Hundert Meter von uns entfernt steigt ein FER-Mitglied auf einen geparkten Wagen und beginnt über Lautsprecher mit einer Ansprache. Die Intervention steht in überhaupt keinem Zusammenhang mit der Diskussion, die gerade begonnen hat. Es ist die gleiche Schallplatte, die wir die ganze Woche schon in der Sorbonne gehört haben. „Fordert die Gewerkschaftsführer auf, die Wahl von Streikkomitees in jeder Fabrik zu organisieren. Zwingt die Gewerkschaftsführer, sich mit den Streikkomitees zusammenzutun. Zwingt sie, einen Generalstreik im ganzen Land auszurufen.“ (Und die alles zu einem Zeitpunkt, wo Millionen Arbeiter sich schon ohne Aufruf von irgendjemand im Streik befanden!). Der Ton der Rede ist kreischend, fast hysterisch, in total falscher Einschätzung der Bombenstimmung bei den Leuten hier. Die Demonstranten selbst übertönen den Sprecher mit einer lauten ‚Internationale‘. Als der letzte Ton verklingt, beginnt der Trotzkist von neuem. Und wieder wird er überstimmt.

Einige Gruppen ziehen die Avenue Yves Kermen entlang zu anderen Eingängen der Fabrik. Hier ist es schwieriger, richtigen Kontakt zu bekommen. Dort steht nämlich eine Menschenmenge vor dem Tor, aber die meisten von ihnen sind Parteimitglieder. Einige wollen überhaupt nicht reden, andere klopfen nur Sprüche.

Wir laufen zum Platz zurück. Es ist jetzt sicher schon nach Mitternacht. Die Menge lichtet sich. Einige Gruppen drängen in eine Reihe von Cafés, die noch geöffnet sind. Hier treffen wir auch auf eine Gruppe von jungen Arbeitern, die alle ungefähr 18 Jahre alt sind. Sie sind an diesem Tag noch in der Fabrik gewesen.

Sie berichten uns, daß zu jedem Zeitpunkt sicher über 1.000 Arbeiter an der Besetzung beteiligt waren. Der Streik habe Donnerstagnachmittag gegen 14 Uhr begonnen, als eine Gruppe von jungen Kollegen von Werk 70 beschloß, die Werkzeuge niederzulegen und in alle Teile der Fabrik zu gehen, um ihre Kollegen dazu aufzufordern, es ihnen nachzutun. Sie hatten an demselben Morgen von der Besetzung in Cleon gehört und daß über der Fabrik von Flint die rote Fahne wehte. Es habe dann eine Menge Gespräche darüber gegeben, was zu tun sei. Auf einer Versammlung am Mittag hatte die CGT unbestimmt von einer Serie sich von Werkstatt zu Werkstatt abwechselnder Streiks gesprochen; diese Streiks sollten am kommenden Tag in Angriff genommen werden.

Die Bewegung breitete sich mit unglaublicher Schnelligkeit aus. Die jungen Kollegen zogen umher und riefen: „Besetzung, Besetzung!“. Die halbe Fabrik Belegschaft hatte die Arbeit eingestellt, bevor die Gewerkschaftsfunktionäre mitbekommen hatten, was vor sich ging. Um ca. 16 Uhr sei Sylvain, ein CGT-Funktionär, aufgetaucht und erklärte ihnen dann über Lautsprecher, „sie wären zahlenmäßig nicht stark genug, sie sollten die Arbeit wieder aufnehmen und die CGT würde sich morgen für einen eintägigen Streik einsetzen.“ Er ging jedoch vollständig baden. Gegen 17 Uhr verkündete der Generalsekretär der CGT bei Renault, bleich wie ein Bettuch, daß die „CGT zur Besetzung der Fabrik aufgerufen habe“. Die Kollegen antworteten: „Sag’s Deinen Freunden: Wir haben damit begonnen! Aber werden wir in der Lage sein, die Sache in den Händen zu behalten? Das ist unser Problem…“

Studenten? Hut ab vor jedem, der sich mit den Bullen so großartig schlagen kann. Die jungen Leute erzählen uns von zwei ihrer Kollegen, die vor nunmehr insgesamt 10 Tagen die Fabrik verlassen hatten, um „der Revolution zu helfen“. Die ihre Familie, ihren Arbeitsplatz, einfach alles liegen gelassen hätten. Sie wünschen ihnen viel Glück. „Eine Gelegenheit wie diese kommt nur einmal im Leben“. Wir erörterten Pläne, wie die Bewegung sich fortentwickeln könnte. Die besetzte Fabrik könnte ein Ghetto sein, das die meisten Militanten isoliert. Wir reden die Zukunft. Fast bis Sonnenaufgang.

HABT ACHT VOR DEN PROVOKATEUREN

Soziale Umwälzungen wie die, die in Frankreich gerade beendet worden ist, lassen eine Spur von zerstörtem Ansehen hinter sich. Das Bild des Gaullismus als eine bedeutungsvolle Lebensort, die von der französischen Bevölkerung ‚akzeptiert‘ war, erhielt einen ungeheuren Schlag. Aber genauso erging es dem Bild der Kommunistischen Partei als einer lebensfähigen Herausforderung an das französische Establishment.

Soweit die Studenten betroffen sind, sind die jüngsten Aktionen der KPF von so einer Art, daß die Partei in diesem Bereich wahrscheinlich für eine ganze kommende Generation ihr Geschick besiegelt hat. Bei den Arbeitern sind die Auswirkungen schwieriger einzuschätzen, und es wäre verfrüht, eine solche Einschätzung zu wagen. Alles, was gesagt werden kann, ist, daß die Auswirkungen sicher tiefgreifend sein werden, wenn es vielleicht auch eine Zeit lang dauern wird, bis diese Auswirkungen zum Ausdruck kommen. Für einen Moment war die proletarische Beschaffenheit als solche in Frage gestellt. Gefangene, die einen kleinen Lichtblick auf Freiheit hatten, nehmen einen lebenslänglichen Urteilsspruch nicht leicht auf.

Die volle Bedeutung der Rolle von KPF und CGT muß von den Revolutionären noch eingeschätzt werden. Vor allem aber müssen sie informiert werden. In diesem Abschnitt des Textes will ich nach besten Kräften die Rolle der KPF dokumentieren. Es ist wichtig zu bedenken, daß die Partei jedes Stückchen Dreck gegen die Studenten in ihren offiziellen Publikationen mit Tonnen solcher Äußerungen in Versammlungen und Privatgesprächen übertraf. Diese Art Verleumdung ist nach der Natur der Dinge schwer zu dokumentieren.

FREITAG, 3. MAI

In einem Hof der Sorbonne wurde von der UNEF, JCR, MAU und der FER eine Versammlung einberufen, um gegen die Schließung der Fakultät von Nanterre zu protestieren. Diese Versammlung wurde auch von Militanten der Bewegung des 22. März besucht. Rektor Roche rief die Polizei, die Aktivisten aus allen beteiligten Gruppen verhaftete.

Die Union der kommunistischen Studenten (UEC) nahm an dieser Kampagne nicht teil. Sie verteilte aber ein Flugblatt in der Sorbonne, in dem die Aktivität der ‚Sekten‘ denunziert wurde.

„Die Führer der linken Gruppen wollen aus den Versäumnissen der Regierung Nutzen ziehen. Sie beuten die studentische Unzufriedenheit für sich aus und versuchen, das Funktionieren der Fakultäten zu beenden. Sie wollen die Masse der Studenten vom Arbeiten und vom Examen abhalten. Diese falschen Revolutionäre verhalten sich objektiv als Verbündete der gaullistischen Macht. Sie unterstützen mit ihrem Handeln deren Politik, die für die Masse der Studenten und besonders für diejenigen mit ordentlicher Herkunft unheilvoll ist.“

Am selben Tag hatte die ‚Humanité‘ geschrieben: „Bestimmte kleine Grüppchen (Anarchisten, Trotzkisten und Maoisten), die hauptsächlich aus Söhnen der Großbourgeoisie bestehen und von dem deutschen Anarchisten Cohn-Bendit angeführt werden, wollen aus den Versäumnissen der Regierung Nutzen ziehen… usw.“ (s.o.) Dieselbe Ausgabe der ‚Humanité‘ hatte einen Artikel von Marchais veröffentlicht, einem Mitglied des Zentralkomitees der Partei. Dieser Artikel fand als Flugblatt vor Fabriken und Büros weite Verbreitung:

„Mit der Agitation, die sie im studentischen Milieu veranstalten – eine Agitation, die gegen die Interessen der Masse der Studenten gerichtet ist und die faschistischen Provokateure begünstigt -, besitzen diese Pseudorevolutionäre nun auch noch die Nerven, danach zu trachten, der Arbeiterbewegung Nachhilfeunterricht zu geben. In wachsender Zahl sehen wir sie vor den Toren der Fabriken und in den Wohnorten der Gastarbeiter Flugblätter und anderes Propagandamaterial verteilen. Diese falschen Revolutionäre müssen entlarvt werden, denn sie dienen objektiv den Interessen der gaullistischen Macht und den großen kapitalistischen Monopolen.“

MONTAG, 6. MAI

Die Polizei hat über das Wochenende das Quartier Latin besetzt. Dort hatte es große studentische Straßendemonstrationen gegeben. Auf einen Aufruf von UNEF und SNESup hin zogen 20.000 Studenten von Denfert Rochereau nach St. Germain des Pres und forderten die Freilassung der verhafteten Arbeiter und Studenten. Mehrfach griff die Polizei die Demonstranten an: 422 Verhaftungen, 800 Verwundete. ‚L’Humanité‘ stellt fest: „Man kann heute das Ergebnis der abenteuerlichen Aktionen der Linksradikalen, Anarchisten, Trotzkisten und anderer Gruppen deutlich sehen. Objektiv gesehen spielen sie nur der Regierung in die Hände… Der Mißkredit, in den sie die Studentenbewegung bringen, gibt nur den gewaltigen Kampagnen der reaktionären Presse und des ORTF Nahrung, die – indem sie die Aktionen dieser Gruppen mit denen der Masse der Studenten identifizieren – versuchen, die Studenten von der Masse der Bevölkerung zu isolieren…“

https://www.youtube.com/watch?v=Kno24o0dLdQ

DIENSTAG, 7. MAI

UNEF und SNESUP rufen ihre Anhänger zu einem unbefristeten Streik auf. Bevor überhaupt Diskussionen mit den Autoritäten beginnen können, bestehen sie auf der Erfüllung folgender Punkte:

-Einstellung aller Verfahren gegen Studenten und Arbeiter, die im Verlaufe der Demonstrationen der letzten Tage verhört, verhaftet oder schuldig gesprochen wurden.

-Abzug der Polizei aus dem Quartier Latin und aus allen Universitätsgebäuden

Wiedereröffnung der geschlossenen Fakultäten.

In einer Erklärung, die zeigt, wie weit sie von den tiefgreifenden Motiven der studentischen Revolte entfernt waren, erklären die „gewählten kommunistischen Vertreter des Bezirks Paris“ in der ‚Humanité‘: „Der Mangel an Geld, Gebäuden, Ausstattung, Lehrern… verhindern es, daß drei von vier Studenten ihr Studium beenden können, abgesehen davon, wie viele Menschen überhaupt nie Zugang zu höherer Erziehung haben… Diese Sachlage hat berechtigterweise tiefe Unzufriedenheit unter Studenten und Lehrern hervorgerufen. Sie hat ebenso die Aktivität unverantwortlicher Gruppen begünstigt, deren Vorstellungen keine Lösung für die Probleme der Studenten darstellen können. Es ist untragbar, daß Sie Regierung aus dem Betragen einer verschwindenden Minderheit Nutzen zieht, einem Betragen, das darin besteht, das Studium zehntausender von Studenten ein paar Tage vor dem Examen zum Erliegen zu bringen…“

Die gleiche Ausgabe der ‚Humanité‘ brachte eine Erklärung der KP-Abteilung der Lehrer an der Sorbonner Literatur Fakultät: „Die kommunistischen Dozenten verlangen die Freilassung der verhafteten Studenten und die Wiedereröffnung der Sorbonne. Unserer Verantwortung bewußt betonen wir eigens, daß diese Solidarität nicht bedeutet, daß wir mit den Parolen, die von bestimmten studentischen Organisationen kommen, übereinstimmen oder diese gar unterstützen. Wir mißbilligen die unrealistischen demagogischen und antikommunistischen Parolen und die ungerechtfertigte Methode der Aktionen, wie sie von verschiedenen linken Gruppen verteidigt werden.“

Am selben Tag sprach Georges Segui, der Generalsekretär der CGT, vor der Presse über das Programm des Arbeiterjugendfestivals (das vom 17. bis zum 19. Mai festgesetzt worden war, später aber abgesagt wurde): „Die Solidarität zwischen Studenten, Lehrern und der Arbeiterklasse ist für die CGT-Kämpfer eine vertraute Feststellung… Genau diese Tradition ist es, die uns zwingt, keinerlei zweifelhafte oder provokatorische Elemente zu dulden, Elemente, die sogar die Organisationen der Arbeiterklasse kritisieren…“

MITTWOCH, 8. MAI

Am Abend zuvor hat – auf einen Aufruf der UNEF hin – auf den Straßen von Paris eine große Studentendemonstration stattgefunden. Die Titelseite der ‚Humanité‘ bringt eine Erklärung des Parteisekretariats: „Die Unzufriedenheit der Studenten ist berechtigt. Aber die Situation begünstigt abenteuerliche Aktivitäten, deren Ziel den Studenten keine Perspektive anbietet und nichts gemein hat mit einer wirklich progressiven und vorausschauenden Politik…“

In derselben Ausgabe schreibt J. M. Catala, Generalsekretär der Union kommunistischer Studenten (UEC), daß „die Aktionen verantwortungsloser Gruppen das Establishment in seinen Zielen unterstützen… Was wir tun müssen, ist, einen größeren Haushalt für Erziehung zu fordern; dies würde größere Stipendien für die Studenten, Einstellung von mehr oder besser qualifizierten Lehrern und den Bau neuer Fakultäten erlauben… usw.“

Die Union der kommunistischen Jugend in Frankreich (UJCF) und die Union der französischen Mädchen (UJFF) verteilen in einer Reihe von Schulen ein Flugblatt: L’Humanité zitiert das Flugblatt zustimmend: „Wir protestieren gegen die Polizeibrutalität, die gegenüber den Studenten entfesselt wurde. Wir fordern die Wiedereröffnung von Nanterre und der Sorbonne und die Freilassung aller Verhafteten. Wir betrachten die gaullistische Macht als den Haupt(!)verantwortlichen für diese Situation. Wir denunzieren aber ebenso das Abenteuer bestimmter verantwortungsloser Gruppen und rufen die Schüler auf, Seite an Seite mit der Arbeiterklasse und ihrer kommunistischen Partei zu kämpfen…“

MONTAG, 13.MAI

Über das Wochenende hat Pompidou nachgegeben. Aber die Gewerkschaften, die UNEF und die Lehrer haben beschlossen, an dem Aufruf zum eintägigen Generalstreik festzuhalten.

Auf der Titelseite bringt L’Humanité in riesigen Lettern den Aufruf zum eintägigen Streik, gefolgt von einer Erklärung des Politbüros: „Die Einheit der Arbeiterklasse und der Studenten bedroht das Regime… Das bringt ein riesiges Problem mit sich.

Es ist unabdingbar, daß keine Provokation und keine Abweichung erlaubt sein darf, die irgendwelche Kräfte vom Kampf gegen das Regime ablenken oder der Regierung den geringfügigsten Vorwand geben könnte, die Bedeutung dieses großen Kampfes zu verdrehen. Die Kommunistische Partei verbindet sich ohne Vorbehalt mit dem gegenwärtigen Kampf der Studenten…“

MITTWOCH, 15. MAI

Die riesigen Demonstrationen vom Montag in Paris und in anderen Städten – die nebenbei gesagt verhinderten, daß am Dienstag ‚L’Humanité‘ oder auch andere Zeitungen erschienen waren ein riesiger Erfolg. In einem bestimmten Sinn waren sie der Auslöser für die ’spontane‘ Streikwelle, die in ein oder zwei Tagen folgte. Auf seiner Titelseite veröffentlicht ‚L’Humanité‘ eine Erklärung, die am Tag zuvor vom Politbüro der Partei herausgegeben worden war. Nachdem sie den Erfolg des 13. Mai ganz für sich verbucht hat, fährt die Erklärung fort: „Die Bevölkerung von Paris zog stundenlang durch die Straßen der Hauptstadt und zeigte dabei eine Macht, die jede Provokation unmöglich machte. Die Parteiorganisationen arbeiteten Tag und Nacht daran sicherzustellen, daß diese große Demonstration von Arbeitern, Lehrern und Studenten in größtmöglicher Einheit, Stärke und Disziplin stattfinden konnte… Es ist jetzt klar, daß das Establishment, konfrontiert mit den Protesten und der kollektiven Aktion aller Hauptgruppen der Bevölkerung, uns zu spalten versuchen wird, weil es so hofft, uns zu besiegen. Es wird auf alle Methoden zurückgreifen, einschließlich der der Provokation. Das Politbüro warnt Arbeiter und Studenten vor jedem abenteuerlichen Unterfangen, das unter den gegenwärtigen Umständen die breite Kampffront zerbrechen könnte, die sich gerade entfaltet, und das die gaullistische Macht mit einer unverhofften Waffe versehen könnte, mit der sie ihre ins Wanken geratene Rolle wieder konsolidieren würde…“

SAMSTAG, 18. MAI

In den letzten 48 Stunden haben sich Streiks mit Fabrikbesetzungen ausgebreitet wie Schießpulver von einer Ecke des Landes zur anderen. Das Eisenbahnsystem ist lahmgelegt, Flughäfen trogen die rote Fahne. (Offenbar waren ‚Provokateure‘ an der Arbeit.)

L’Humanité veröffentlicht auf ihrer Titelseite eine Erklärung des Nationalkomitees der CGT: „Von Stunde zu Stunde breiten sich Streiks und Fabrikbesetzungen aus. Diese Aktion wurde von der CGT und anderen gewerkschaftlichen Organisationen initiiert (sic!) und schafft eine neue Situation von außerordentlicher Wichtigkeit… Lang angesammelte Unzufriedenheit im Volk findet darin ihren Ausdruck. Die gestellten Fragen müssen ernsthaft beantwortet und in ihrer ganzen Bedeutung zur Kenntnis genommen werden. Die Entwicklung der Lage bringt eine ganz neue Dimension des Kampfes mit sich… Während es seine Anstrengungen, den Kampf auf das erforderliche Niveau zu heben, vervielfacht, warnt das Nationalkomitee alle CGT-Kämpfer und lokalen Gruppen vor allen Versuchen von Gruppen von außerhalb, sich in die Führung des Kampfes einzuschalten und vor allen provokatorischen Akten, die den Kräften der Repression bei ihren Versuchen, die Entfaltung der Bewegung zu vereiteln, zuhilfe kommen könnten…“

Die gleiche Ausgabe der Zeitung widmete einer Warnung an die Studenten vor dem Trugschluss irgendwelcher „Studentenmacht-Parolen“ eine ganze Seite, wobei man nebenbei der Bewegung des 22. März eine ganze Reihe von politischen Positionen zuschrieb, die diese niemals eingenommen hat.

MONTAG, 20.MAI

Das ganze Land ist gelähmt. Die kommunistische Partei warnt immer noch vor ‚Provokateuren‘. Die rechte obere Ecke der ‚Humanité enthält einen Kasten: „WARNUNG. Im Gebiet von Paris sind Flugblätter verteilt worden, die zu einem aufständischen Generalstreik aufrufen. Es braucht nicht gesagt zu werden, (in der Tat nicht, M.B.), daß solche Aufrufe nicht von unseren demokratischen Gewerkschaftsorganisationen herausgegeben wurden. Sie sind das Werk von Provokateuren, die der Regierung einen Vorwand zum Einschreiten liefern wollen… Die Arbeiter müssen wachsam sein, um alle diese Manöver zu vereiteln…“

In der gleichen Ausgabe setzt Etienne Fajon vom Zentralkomitee die Warnungen fort: „Die augenblickliche Haupttätigkeit des Establishments besteht darin, die Arbeiterklasse an der Basis zu spalten und von anderen Bevölkerungsgruppen zu trennen… Unser Politbüro hat Arbeiter und Studenten von Beginn an vor abenteuerlichen Parolen gewarnt, die die breite Kampffront nur aufbrechen können. Verschiedene Provokationen sind auf diesem Wege verhindert worden. Wir müssen unsere politische Wachsamkeit in aller Klarheit behalten…“

Dieselbe Ausgabe widmete zentrale Seiten einem Interview mit Georges Seguy, dem Generalsekretär der CGT, das über das Europanetz ausgestrahlt wurde. In dieses Life-Interview konnten einige Zuhörer per Telefon direkt Fragen stellen. Die folgenden sind der Protokollierung wert:

Frage: „Herr Seguy, die streikenden Arbeiter sagen überall, daß sie ganze Sache machen wollen. Was halten Sie davon? Was sind Ihre Ziele?

Antwort: “Der Streik ist so machtvoll, daß die Arbeiter offenbar glauben, am Ende einer solchen Bewegung ein Maximum an Zugeständnissen zu bekommen. Das Ganze bedeutet für uns Gewerkschafter, die Forderungen durchzukriegen, für die wir immer gekämpft haben, die aber Regierung und Unternehmer überhaupt auch nur zu erwägen sich immer geweigert haben. Sie haben unseren Verhandlungsvorschlägen, die wir wiederholt gemacht haben, eine dumpfe Unversöhnlichkeit entgegengesetzt. Das Ganze heißt allgemeine Lohnerhöhung (kein Lohn unter 600 Francs im Monat), Beschäftigungsgarantie, ein früheres Pensionsalter, Verkürzung der Arbeitszeit ohne Lohnverlust und die Verteidigung und Ausweitung gewerkschaftlicher Rechte im Betrieb. Ich bringe diese Forderungen in keine bestimmte Reihenfolge, weil wir ihnen alle die gleiche Wichtigkeit beimessen.”

Frage: “Wenn ich mich nicht irre, dann erklären die Statuten der CGT es zu ihren Zielen, den Kapitalismus zu überwinden und durch den Sozialismus zu ersetzen. Warum ergreift nun die CGT unter den gegenwärtigen Umständen, die Sie selbst als ‘außergewöhnlich’ und ‘wichtig’ bezeichnet haben, nicht die einzigartige Gelegenheit, ihre grundlegenden Ziele als Forderung aufzustellen?”

Antwort: “Das ist eine sehr interessante Frage. Sie gefällt mir sehr gut. Es ist richtig, daß die CGT den Arbeitern ein gewerkschaftliches Konzept bietet, das wir als das revolutionärste ansehen, insofern, als sein Endziel die Beseitigung von Ausbeuterklasse und Lohnarbeit ist. Es ist richtig, daß dies eine unserer vordersten Aussagen im Statut ist. Es bleibt auch grundsätzlich Ziel der CGT. Aber kann die gegenwärtige Bewegung dieses Ziel erreichen? Wenn es offensichtlich werden sollte, daß das möglich wäre, würden wir sofort alle Verantwortung auf uns nehmen. Es muß sich noch herausstellen, ob alle gesellschaftlichen Kräfte, die bei der gegebenen Bewegung beteiligt sind, bereit sind, so weit zu gehen.”

Frage: “Seit den Ereignissen der letzten Woche bin ich überall hingegangen, wo die Leute diskutieren. Diesen Nachmittag war ich im Odeon Theater. Dort diskutierten Massen von Menschen. Ich kann Euch versichern, daß alle Klassen, die unter dem gegenwärtigen Regime zu leiden haben, dort vertreten waren Als ich fragte, ob die Leute meinten, daß die Bewegung weiter gehen sollte als die Minimalforderungen, die die Gewerkschaften in den letzten 10 oder 20 Jahren aufgestellt hat, brachte ich die Leute damit aus dem Häuschen. Ich denke deshalb, es wäre ein Verbrechen, die gegenwärtige Gelegenheit vorübergehen zu lassen. Es wäre ein Verbrechen, weil dies früher oder später sowieso getan werden müßte. Die Bedingungen von heute könnten es uns erlauben, dies friedlich und ruhig zu tun, und vielleicht werden sie nie wiederkehren. Ich denke, ein solcher Aufruf müsste von Euch und von den anderen politischen Organisationen erlassen werden. Diese politischen Organisationen sind natürlich nicht Eure Sache. Aber die CGT ist eine revolutionäre Organisation. Ihr müßt Eure revolutionäre Fahne rausholen. Die Arbeiter sind verwundert, Euch so ängstlich zu sehen.”

Antwort: “Während Sie sich im Odeon-Fieber tummelten, war ich in den Fabriken. Mitten unter den Arbeitern. Ich versichere Ihnen, daß die Antwort, die ich Ihnen gebe, die Antwort eines Führers einer großen Gewerkschaft ist, die beansprucht, ihre ganze Verantwortung auf sich genommen zu haben, die aber Wünsche nicht mit Realität verwechselt.”

Eine Stimme ruft: “Ich möchte gerne Herrn Seguy sprechen. Ich heiße Duvauchel. Ich bin der Direktor der Sud-Aviation-Fabrik in Nantes.”

Seguy: “Guten Tag, mein Herr.”

Duvauchel: “Guten Tag, Herr Generalsekretär. Ich möchte gerne wissen, was Sie von der Tatsache halten, daß ich in den letzten vier Tagen zusammen mit ungefähr zwanzig weiteren Mitgliedern des Verwaltungsstabes auf dem Gelände der Sud-Aviation-Fabrik in Nantes festgehalten werde.”

Seguy: “Hat jemand die Hand gegen Sie erhoben?”

Duvauchel: “Nein. Ich bin am Verlassen gehindert worden trotz der Tatsache, daß der Generalmanager der Firma angekündigt hatte, daß die Firma sich darauf vorbereitet, positive Vorschläge zu machen, sobald der freie Zugang zum Firmengelände und vor allem zu den Verwaltungsgebäuden wieder hergestellt sei.”

Seguy: “Haben Sie darum gebeten, die Fabrik verlassen zu dürfen?”

Duvauchel: “Ja.”

Seguy: “Die Erlaubnis wurde verweigert?”

Duvauchel: “Ja”.

Seguy: “Dann muß ich Sie auf eine Erklärung hinweisen, die ich gestern in der Pressekonferenz der CGT abgegeben habe. Ich habe festgestellt, daß ich mit solchen Aktivitäten nicht einverstanden bin. Wir sind dabei, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um zu gewährleisten, daß sich so etwas nicht wiederholt.”

Aber genug davon. Die Revolution selbst wird sicherlich von den Stalinisten noch als Provokation denunziert werden. In einem Epilog ist es der Erinnerung wert, daß auf einer überfüllten Versammlung von revolutionären Studenten, die am Donnerstag, dem 9. Mai in der ‚Mutualité‘ abgehalten wurde, ein Sprecher der trotzkistischen Organisation Internationale Kommunisten sich nichts besseres einfallen lassen konnte, als die Versammlung dazu aufzurufen, eine Resolution zu verabschieden, in der Seguy aufgefordert werden sollte, den Generalstreik auszurufen.

FRANKREICH 1968

Zweifellos war dies die bedeutendste revolutionäre Erhebung in Westeuropa seit den Tagen der Pariser Commune. Hunderttausende von Studenten haben sich regelrechte Schlachten mit der Polizei geliefert. Neun Millionen Arbeiter standen im Streik. Die rote Fahne der Revolte flatterte über besetzten Fabriken, Universitäten, Baustellen, Werften, Haupt- und Realschulen, Grubeneingängen, Bahnhöfen, Kaufhäusern, Überseeflugzeugen, Theatern, Hotels. Die Pariser Oper, das Folies Bergères und das Gebäude des Nationalen Rates für Wissenschaftliche Studien wurden besetzt, ebenso wie das Hauptquartier der französischen Fußballföderation, mit dem klaren Ziel, „normale Fußballer davon abzuhalten, Spaß am Fußball zu haben“.

Im Verlaufe einiger Tage brachen die ungeheuren kreativen Möglichkeiten der Leute plötzlich auf. Die kühnsten und realistischsten Ideen – die gewöhnlich dieselben sind wurden verteidigt, vertreten und angewendet. Sprache, in abgedroschener Form überliefert, seit Jahrzehnten bürokratischer Verhunzung ihres Wesens beraubt von denen, die sie für Werbezwecke manipuliert haben, erschien plötzlich wieder als etwas neues und frisches. Die Leute eigneten sie sich wieder in ihrer Gesamtheit an. Wunderbar passende und poetische Parolen brachte die anonyme Menge hervor. Kinder erklärten ihren Eltern, was die Aufgabe der Erziehung sein sollte. Die Erzieher wurden erzogen. Innerhalb weniger Tage erreichten junge Leute von 20 ein solches Maß an Verständnis und politischem und taktischem Gespür, was vielen, die seit 30 Jahren oder mehr in der revolutionären Bewegung sind, leider oft abgeht.

Nahezu jede Schicht der französischen Gesellschaft wurde im bestimmten Umfang in die Geschehnisse einbezogen. In überfüllten Endlostreffen in jedem erreichbaren Klassenzimmer oder Hörsaal haben Hunderttausende von Leuten jeden Alters jeden Aspekt des Lebens diskutiert. Vierzehnjährige Jungen sind in eine Mädchenschule mit dem Ruf „Liberté pour les filles!“ (Freiheit für die Mädchen) eingedrungen. Selbst so traditionell reaktionäre Enklaven wie die Fakultäten für Medizin und Jura wurden von oben bis unten erschüttert. Ihre geweihten Prozeduren und Institutionen wurden angegriffen und als falsch empfunden. Millionen nahmen an der Geschichte teil. Das ist der Inhalt der Revolution.

Unter dem Einfluß der revolutionären Studenten begannen Tausende, das ganze Prinzip der Hierarchie in Frage zu stellen. Die Studenten haben es dort in Frage gestellt, wo es am ’natürlichsten‘ erschien: in den Gefilden von Unterricht und Wissenschaft. Sie proklamierten, daß die demokratische Selbstverwaltung möglich sei – und um es zu beweisen, praktizierten sie sie selbst. Sie denunzierten die Monopolisierung der Information und produzierten Millionen von Flugblättern, um diese Monopolisierung zu durchbrechen. Sie attackierten einige der wichtigsten Stützen der gegenwärtigen ‚Zivilisation‘: die Barriere zwischen Handarbeitern und Intellektuellen, die Konsumgesellschaft, die ‚Heiligkeit‘ der Universität und anderer Quellen kapitalistischer Kultur und Weisheit.

Im Verlaufe einiger Tage brachen die ungeheuren kreativen Möglichkeiten der Leute plötzlich auf. Die kühnsten und realistischsten Ideen – die gewöhnlich dieselben sind wurden verteidigt, vertreten und angewendet. Sprache, in abgedroschener Form überliefert, seit Jahrzehnten bürokratischer Verhunzung ihres Wesens beraubt von denen, die sie für Werbezwecke manipuliert haben, erschien plötzlich wieder als etwas neues und frisches. Die Leute eigneten sie sich wieder in ihrer Gesamtheit an. Wunderbar passende und poetische Parolen brachte die anonyme Menge hervor. Kinder erklärten ihren Eltern, was die Aufgabe der Erziehung sein sollte. Die Erzieher wurden erzogen. Innerhalb weniger Tage erreichten junge Leute von 20 ein solches Maß an Verständnis und politischem und taktischem Gespür, was vielen, die seit 30 Jahren oder mehr in der revolutionären Bewegung sind, leider oft abgeht.

Die stürmische Entwicklung des Kampfes der Studenten gab den Anstoß für die ersten Fabrikbesetzungen. Sie veränderte sowohl das Kräfteverhältnis in der Gesellschaft als auch das Bild etablierter Institutionen und etablierter Führer, wie es in den Köpfen der Leute bestand. Sie zwang den Staat, sowohl seinen in seiner Natur liegenden Zwangscharakter als auch seine grundlegende Unfähigkeit, den gesellschaftlichen Zusammenhang zu gewährleisten, zu offenbaren. Sie legte die völlige Hohlheit von Regierung, Parlament und Verwaltung und auch die aller politischen Parteien dar. Unbewaffnete Studenten haben das Establishment gezwungen, die Maske fallen zu lassen, vor Angst zu schwitzen und bei Polizei und Gasgranaten seine Zuflucht zu suchen. Studenten schließlich haben die bürokratischen Führungen der ‚Organisationen der Arbeiterklasse‘ gezwungen, sich selbst als die letzten Hüter der etablierten Ordnung zu entlarven.

Aber die revolutionäre Bewegung vollbrachte noch mehr. Sie trug ihre Kämpfe in Paris aus und nicht in einem unterentwickelten Land, das unter imperialistischer Ausbeutung steht. In wenigen ruhmvollen Wochen ließen die Aktionen der Studenten und jungen Arbeiter den Mythos der gut organisierten, gut funktionierenden kapitalistischen Gesellschaft in sich zusammensinken, einer Gesellschaft, in der grundlegende Konflikte ausgeklammert waren und in der offiziell nur Randprobleme zur Lösung verblieben. Verwalter, die alles und jedes verwaltet hatten, erwiesen sich plötzlich als Leute, die von nichts eine Ahnung hatten. Planer, die alles und jedes geplant hatten, erwiesen sich plötzlich als unfähig, die Zustimmung der Leute, auf die ihre Pläne angewandt werden sollten, sicherzustellen.

Diese äußerst moderne Bewegung sollte wirklichen Revolutionären die Möglichkeit geben, eine Reihe der ideologischen Hindernisse abzulegen, die in der Vergangenheit die revolutionäre Aktivität gehemmt haben. Es war nicht der Hunger, der die Studenten zur Revolte trieb. Es gab auch nicht einmal eine ‚ökonomische Krise‘ im weitesten Sinne des Wortes Die Revolution hatte nichts mit ‚Unterkonsumtion‘ oder ‚Überproduktion‘ zu tun. Die ‚fallende Profitrate‘ war es nicht. Die studentische Bewegung hatte ihre Basis nicht in ökonomischen Forderungen. Im Gegenteil, die Bewegung fand ihre wahre Gestalt und ihre gewaltige Antwort erst dann, als sie über die ökonomischen Forderungen hinausging, mit denen die offizielle studentische Gewerkschaftspolitik so lange versucht hatte, die Studentenbewegung in bestimmten Schranken zu halten (Nebenbei gesagt: mit dem Segen aller politischen Parteien und der ‚revolutionären‘ Gruppen der ‚Linken‘.). Andererseits war es genau die Beschränkung der Arbeiterkämpfe auf rein ökonomische Ziele, die es den Gewerkschaftsbürokraten so lange erfolgreich erlaubte, dem Regime zu Hilfe zu kommen.

Die gegenwärtige Bewegung hat gezeigt, daß der grundlegende Widerspruch des modernen bürokratischen Kapitalismus nicht in der ‚Anarchie des Marktes‘ besteht. Er besteht nicht in dem „Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Eigentumsverhältnissen“. Der grundlegende Konflikt, auf den sich alle anderen beziehen, ist der Widerspruch zwischen denen, die Anordnungen treffen, und denen, die diese Anordnungen befolgen müssen. Dieser unlösbare Widerspruch, der der modernen Kapitalistischen Gesellschaft die Därme ausreißt, ist es, der sie zwingt, die Menschen von der Regelung ihrer eigenen Handlungen auszuschließen, und der sie zur selben Zeit zwingt, um deren Teilnahme, ohne die alles zusammenbrechen würde, nachzusuchen. Diese beiden widersprüchlichen Tendenzen finden ihren Ausdruck einerseits in dem Versuch der Bürokraten, die Menschen in Objekte zu verwandeln (auf dem Wege der Gewalt, der Mystifikation, neuer Manipulationstechniken oder ‚ökonomischer‘ Bonbons), und andererseits in der Weigerung der Menschen zu erlauben, daß man sie auf diese Weise behandelt. Die Ereignisse in Frankreich zeigen deutlich etwas, das alle Revolutionen gezeigt haben, was aber offenbar immer wieder neu erfahren werden muß. Es handelt sich nicht um den ‚Aufbau einer revolutionären Perspektive‘, nicht um ‚allmähliches Anwachsen der Widersprüche‘, nicht um ‚eine progressive Entwicklung eines revolutionären Massenbewußtseins‘. Worum es geht, sind die Widersprüche und Konflikte, die wir beschrieben haben, und die Tatsache, daß die moderne bürokratische Gesellschaft mehr oder weniger unvermeidlich periodische ‚Krisen‘ produziert, die ihr Funktionieren unterbrechen. Beides ruft die Intervention seitens der Bevölkerung hervor und versieht die Leute mit Möglichkeiten, sich selbst zu behaupten und die gesellschaftliche Ordnung zu verändern. Das Funktionieren des bürokratischen Kapitalismus schafft die Bedingungen, unter denen revolutionäres Bewußtsein auftauchen könnte. Diese Bedingungen sind ein integraler Bestandteil der gesamten entfremdeten, hierarchischen, unterdrückerischen Gesellschaftsstruktur. Wann immer Leute den Kampf aufnehmen, sehen sie sich früher oder später gezwungen, die ganze Gesellschaftsstruktur in Frage zu stellen.

Es handelt sich hier um Ideen, denen sich viele von uns bei ‚Solidarity‘ schon lange verbunden fühlten. Sie wurden ausführlich in einer Reihe Schriften von Paul Cardan entwickelt. In Le Monde vom 20. Mai 68 gibt E. Morin zu, daß das, was heute in Frankreich geschieht, eine „blendende Auferstehung sei: eine Auferstehung derjenigen libertären Richtung, die die Vereinigung mit dem Marxismus anstrebt, eine Formel, von der ‚Socialisme ou Barbarie‘ wenige Jahre zuvor eine erste Synthese versucht hat. „Wie nach jeder Verwirklichung grundlegender Konzepte in der Feuerprobe wirklicher Ereignisse werden viele Leute beanspruchen, daß diese Konzepte schon immer ihre eigenen Ansichten gewesen seien. Das ist natürlich nicht wahr. Es geht jedoch nicht darum, in einer Art Copyright im Bereich der richtigen revolutionären Ideen etwas für sich zu beanspruchen. Wir begrüßen Leute, die sich ändern, aus welchem Grund und wie spät auch immer.

Selbst wenn man die ‚besten‘ der kleinen Organisationen herausnimmt und deren Zahl um Hundert vervielfacht, hätte es den Erfordernissen der gegenwärtigen Situation nicht entsprochen. Wenn die Probe aufs Exempel anstand, dann leierten alle ‚linken‘ Gruppen weiterhin bloß ihre alten Platten herunter. Was immer ihre Verdienste als Ablageplätze für die kalte Asche der Revolution sein mag – eine Aufgabe, die sie nunmehr seit mehreren Jahrzehnten übernommen haben -, sie zeigten sich unfähig, aus ihren alten Ideen und ihrer alten Routine auszubrechen, und unfähig, etwas zu lernen bzw. etwas hinter sich zu lassen.

Wir können uns hier nicht in aller Breite mit dem, was in Frankreich heute ein wichtiges Problem ist, namentlich der Schaffung einer neuen Art einer revolutionären Bewegung auseinandersetzen. Die Dinge wären in der Tat anders verlaufen, wenn eine solche Bewegung schon existiert hätte, stark genug, um die bürokratischen Manöver zu überlisten, lebendig genug, um Tag für Tag die Doppelzüngigkeit ‚linker‘ Führungsgruppen darzulegen, tief genug verwurzelt, um den Arbeitern die wirkliche Bedeutung des Kampfes der Studenten zu erklären, die Idee der autonomen Streikkomitees (die Gewerkschaftsmitglieder und nicht gewerkschaftlich Organisierte verbinden sollen), der Verwaltung der Produktion durch die Arbeiter und die der Arbeiterräte zu propagieren. Viele Dinge, die man hätte tun können, wurden nicht getan, weil es eine derartige Bewegung nicht gab. Die Art und Weise, wie der Kampf der Studenten entfesselt wurde, hätte eine äußerst wichtige Katalysator Rolle spielen können, ohne automatisch zu einer bürokratischen ‚Führungscrew‘ zu werden. Aber solche Klagen sind nutzlos. Die Nichtexistenz einer solchen Bewegung ist kein Zufall. Wenn sie sich während der vorherigen Periode herausgebildet hätte, dann wäre es sicher nicht eine Bewegung von der Art gewesen, wie wir es gemeint haben. Selbst wenn man die ‚besten‘ der kleinen Organisationen herausnimmt und deren Zahl um Hundert vervielfacht, hätte es den Erfordernissen der gegenwärtigen Situation nicht entsprochen. Wenn die Probe aufs Exempel anstand, dann leierten alle ‚linken‘ Gruppen weiterhin bloß ihre alten Platten herunter. Was immer ihre Verdienste als Ablageplätze für die kalte Asche der Revolution sein mag – eine Aufgabe, die sie nunmehr seit mehreren Jahrzehnten übernommen haben -, sie zeigten sich unfähig, aus ihren alten Ideen und ihrer alten Routine auszubrechen, und unfähig, etwas zu lernen bzw. etwas hinter sich zu lassen.

Die neue revolutionäre Bewegung wird aus den neuen Gruppierungen (Studenten und Arbeiter) aufgebaut werden müssen, die die wahre Bedeutung der gegenwärtigen Ereignisse verstanden haben. Die Revolution muß in die große politische Lücke treten, die sich durch die Krise der alten Gesellschaft enthüllt hat. Sie muß eine Stimme, ein Gesicht, eine schriftliche Aussage entwickeln – und sie muß dies bald tun.

Wir können verstehen, daß sich manche Studenten der Herausbildung einer solchen Organisation widersetzen. Sie fühlen, daß es hier einen Widerspruch zwischen Tat und Gedanke, zwischen Spontaneität und Organisation gibt. Ihre Zurückhaltung in diesem Punkt wird durch ihre ganze bisherige Erfahrung genährt. Sie haben gesehen, wie ein Gedanke zum sterilen Dogma werden kann, eine Organisation zur Bürokratie oder zum leblosen Ritual, wie Sprache zur Mystifikation, wie eine revolutionäre Idee zu einem rigiden stereotypen Programm werden kann. Durch ihre Aktionen, durch ihre Kühnheit, durch ihre Weigerung, längerfristige Ziele ins Auge zu fassen, sind sie aus dieser Zwangsjacke ausgebrochen. Aber das ist nicht genug.

Vielmehr haben viele von diesen Studenten die traditionellen ‚linken‘ Gruppen auf die Probe gestellt. In allen grundlegenden Aspekten bleiben diese Gruppen in den ideologischen und organisatorischen Grenzen des bürokratischen Kapitalismus gefangen. Sie haben Programme, die einmal und dann für immer aufgestellt sind, Führer, die fix und fertige Reden von sich geben, was auch immer sich in der Realität rings herum wandeln mag, organisatorische Formen, die ein Spiegelbild der Formen der bestehenden Gesellschaft abgeben. Solche Gruppen reproduzieren in ihren eigenen Reihen die Trennung zwischen Ausführenden und Anordnenden, zwischen denen, die Bescheid wissen, und denen die nicht, also die Trennung zwischen scholastischer Pseudo Theorie und wirklichem Leben. Sie wollen diese Trennung sogar noch der Arbeiterklasse insgesamt auferlegen, die sie und das betrifft alle Organisationen – führen wollen, weil – und das sagt man mir immer wieder – „die Arbeiter nur imstande seien, ein trade-unionistisches Bewußtsein zu entwickeln.“

Aber die oben genannten Studenten liegen dennoch falsch. Man läßt die bürokratischen Organisationen nicht hinter sich, indem man jede Organisation ablehnt. Man fordert die sterile Rigidität fix und fertiger Programme nicht heraus, indem man sich weigert, sich selbst hinsichtlich seiner Ziele und Methoden zu bestimmen. Man widerlegt ein totes Dogma nicht, indem man jede theoretische Reflexion verdammt. Die Studenten und die jungen Arbeiter können nicht einfach da stehen bleiben, wo sie jetzt sind. Diese aufgezeigten ‚Widersprüche‘ zu bejahen als etwas Gültiges und etwas, über das man nicht hinausgehen könne, heißt, die Grundlage der bürokratischen kapitalistischen Ideologie zu akzeptieren. Es bedeutet die Anerkennung der vorherrschenden Philosophie und der vorherrschenden Wirklichkeit. Es heißt, die Revolution in eine etablierte historische Ordnung zu integrieren.

Wenn die Revolution nur eine ein paar Tage (oder Wochen) andauernde Explosion ist, dann kann die etablierte Ordnung – ob sie das weiß oder nicht – mit ihr fertig werden. Ja im tieferen Sinne – braucht die Klassengesellschaft vielmehr gerade solche Erschütterungen. Diese Art von ‚Revolution‘ erlaubt der Klassengesellschaft zu überleben, indem sie sie zwingt, sich zu verwandeln und sich anzupassen. Erschütterungen, die die imaginäre Welt, in der entfremdete Gesellschaften tendenziell leben, zerbrechen und sie für einen Moment auf die Erde zurückbringen, diese Erschütterungen helfen den Gesellschaften, veraltete Herrschaftsmethoden aufzugeben und neue, flexiblere zu entwickeln.

Tat oder Gedanke? Für revolutionäre Sozialisten besteht nicht das Problem, eine Synthese aus diesen beiden von den revolutionären Studenten in Besitz genommenen Begriffen herzustellen. Es geht darum, den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem solche falschen Alternativen entstehen, zu zerstören.

ANHANG

Ein Flugblatt der CGT, des überall in Boulogne Billancourt angeschlagen war:

ARBEITER SEID WACHSAM ! ! !

Seit einigen Monaten sind die verschiedensten Publikationen von Elementen verteilt worden, die sich aus einem der Arbeiterklasse fremden Milieu rekrutieren.

Die Verfasser dieser Artikel bleiben meistens anonym, eine Tatsache, die ihre unehrlichen Absichten zur Genüge dokumentiert. Sie geben ihren Zeitschriften die merkwürdigsten und verführerischsten Titel, um so besser in die Irre führen zu können: ‚Luttes Ouvrière‘ (Arbeiterkampf), ‚Servir le Peuple‘ (Dem Volke dienen), ‚Unité et Travail‘ (Einheit und Arbeit), ‚Lutte Communiste‘ (Kommunistischer Kampf), ‚Revoltes‘, ‚Voix Ouvrière‘ (Arbeiterstimme), ‚Un Groupe d’Ouvriers‘ (Eine Gruppe Arbeiter).

Die Titel mögen jeweils verschieden sein, aber der Inhalt dient einem gemeinsamen Ziel: die Arbeiter von der CGT wegzuführen und in ihren Reihen Spaltungen zu erzeugen, um sie zu schwächen.

Nachts reißen ihre Kommandos unsere Plakate ab. Zu jeder Zeit verteilen sie irgendetwas vor den Toren, die Polizei ist nicht weit weg, bereit, ihr Verhalten zu schützen, wie es jüngst in LMT der Fall war. Letztens versuchten sie in die Büros der Arbeitsvermittlung in Boulogne einzudringen. Ihren Aktivitäten werden seitens des gaullistischen Rundfunks und in den Spalten der bürgerlichen Presse eine weit übertriebene Aufmerksamkeit geschenkt.

Diese Warnung ist zweifellos für die Mehrheit der Renault Arbeiter überflüssig, die in der Vergangenheit diese Art der Agitation kennenlernen konnten. Andererseits muß den jungen Arbeitern gesagt werden, daß diese Elemente im Dienste der Bourgeoisie stehen, die sich dieser pseudorevolutionären Elemente immer bedient hat, wo das Auftauchen einer einheitlichen Kraft auf der Linken eine Bedrohung ihrer Privilegien darstellte.

Es ist deshalb wichtig, diesen Elementen nicht zu erlauben, vor die Fabriktore zu kommen und unsere Gewerkschaftsorganisationen mit Schmutz zu bewerfen, die sich unermüdlich im Kampf für unsere Forderungen und für die Schaffung einer Einheit verzehren. Diese Elemente ernten gewöhnlich am Ende des Tages eine fette Belohnung für ihre schmutzige Arbeit und für die loyale Arbeit, die sie für die Bosse geleistet haben (Einige bekleiden jetzt hohe Positionen in der Verwaltung der Fabrik).

Nachdem gesagt worden ist, was gesagt werden mußte, ruft das CGT-Komitee von Renault die Arbeiter dazu auf, den Kampf für ihre Forderungen fortzusetzen, ihre Anstrengungen zu verstärken, um eine größere Einheit von demokratischen und gewerkschaftlichen Kräften zu gewährleisten, und die Reihen der CGT im Kampf für diese heroischen Ziele zu kräftigen.

Gewerkschaftsbüro der CGT. Renault

BIBLIOGRAPHISCHE ANMERKUNGEN

Carmagnole: Lieblingslied der Revolutionäre während der frz. Revolution

CFDT: Französische Arbeiter Konföderation

CGT: Allg. Arbeitervereinigung, KPF nahestehende Organisation

Charonne: U-Bahn-Station, an der bei einer Demonstration gegen den Algerienkrieg Demonstranten von der Polizei niedergeschlagen und -zumindest einer- erschossen wurde.

CRS: Republikanische Sicherheitskompanien (vgl. deutsche Bereitschaftspolizei)

Elysee: Palast des Präsidenten der Republik

FEN: Nationaler Lehrerverband

FER: Verband der revolutionären Studenten (Trotzkisten)

FO: sozialdemokratische Gewerkschaft

Humanité: Zeitung der KPF

JCR: Revolutionär kommunistische Jugend (Trotzkisten)

MAU: Bewegung der revolutionären Aktion

Mutualité: öffentliches Gebäude, in dem sehr viele politische Versammlungen veranstaltet werden

ORTF: Französischer Rundfunk

Alain Peyrefitte: damaliger Erziehungsminister

PSU: Vereinigte Sozialistische Partei

Smolny: 1. Regierungssitz der Sowjets in Leningrad

SNEup: Gewerkschaft der Hochschulprofessoren und Assistenten (Unterorganisation der FEN)

UEC: Union der kommunistischen Jugend (KPF)

UNEF: Nationale Union der Studenten Frankreichs