Abdankung

Franco ‘Bifo’ Berradi

In dieser Ausgabe nun erneut eine Übersetzung eines Beitrages von Bifo, dieser hier erschien im Februar 2022 auf e Flux Journal. Sunzi Bingfa

Der psychotische Kollaps des westlichen Geistes

Wir im Westen befinden uns derzeit mitten in einem rasanten Zerfall der geopolitischen Ordnung, die aus der Geschichte des modernen Kolonialismus hervorgegangen ist und sich über Jahrzehnte hinweg gehalten hat. Der Kern dieses Zerfalls ist der mentale, d. h. kognitive Zusammenbruch der westlichen Welt. Manchmal denke ich, dass alle Götter im Himmel eine Versammlung einberufen haben, um die Dringlichkeit der Beendigung ihres gewagten Experiments zu erörtern: die menschliche Rasse. In einem graphisch-musikalischen Gedicht, „l’esperimento“, wird ja suggeriert, dass nur Kalliope, die Göttin der Poesie, die Menschen retten kann. (1)

Mit dem Zerfall der hegemonialen geopolitischen Ordnung bröckelt das Erbe von fünf Jahrhunderten weißer Kolonisierung und Ausbeutung der Welt. Infolgedessen sehen sich die weißen alternden Herrscher, die an die Macht gewöhnt sind, außerstande, die von ihnen selbst geschaffene Welt zusammenzuhalten. So vervielfältigen sie lediglich die Ausbreitung der Gewalt. Der senile Organismus des Westens spürt das Herannahen einer Pandemie der psychischen Depression. In der Vergangenheit war die Reaktion auf eine drohende Depression oft aggressive Hysterie und Faschismus. Und wie so oft führt diese hysterische Komödie am Ende zu einer kolossalen Tragödie.

Der virale Sturm, der im Winter 2019/20 einsetzte, hat eine Welle des Chaos ausgelöst, die als erzwungene Ordnung getarnt und deren Auswirkungen weit über den Gesundheitsbereich hinausreichen. Das Covid-19-Virus, das zu einer verstärkten Überwachung, Kontrolle und polizeilichen Maßnahmen geführt hat, ist ein unvorhersehbarer und unberechenbarer Faktor, der andere Formen des Chaos verstärkt: das ökologische, soziale, mentale und nicht zuletzt das geopolitische Chaos. Als der virale schwarze Schwan unter der Last eines viralen Sturms zu ächzen begann, erwachten viele andere schwarze Schwäne und begannen gemeinsam in einem kakophonischen Konzert zu singen.

In der Zwischenzeit fliehen immer mehr verzweifelte Menschen aus ihren Ländern, die von westlichen Kriegen und Ausbeutung verwüstet wurden, und diese Migrationswellen liefern paradoxerweise einen Sündenbock für weißen Rassismus und Ethno-Nationalismus. An den östlichen Grenzen Europas werden gewaltige Mauern errichtet, die angeblich die weiße Zivilisation vor ihrer eigenen „Verzweiflung“ schützen sollen. An der Südgrenze ertrinken Tausende im Mittelmeer. Alles in allem gleicht die heutige Europäische Union immer mehr der europäischen Ordnung von 1941, als Hitler das Recht auf ethnische Vernichtung geltend machte, um das heilige, imaginäre Heimatland der arischen Rasse zu schützen.

Jenseits des Atlantiks versinken die Vereinigten Staaten in einem Strudel aus politischem Chaos und ohnmächtiger Wut. Die Reaktion auf die US-Niederlage in Afghanistan hat eine Massenpanik ausgelöst, während der Rettungsplan der Biden-Administration schneller verpuffte, als er zustande kam. Eine weitere Bühne für die Tragödie ist bereitet: In den letzten Monaten hat sich die Krise in der Ukraine zu einem aggressiven Showdown entwickelt. Putin bekräftigt, dass das Militärbündnis der Ukraine mit dem Westen eine rote Linie darstellt, die nicht überschritten werden darf, und er wird die an der Grenze stationierten russischen Truppen erst dann abziehen, wenn er sicher ist, dass die NATO weder Männer noch Waffen an die Grenze entsenden wird. Aber der Westen kann sich nicht beugen, und Biden verspricht, im Falle einer Invasion irgendwie zu reagieren. Nach dem Fall von Kabul schwindet jedoch das Vertrauen in Amerika. Und ironischerweise ist genau dieser Mangel an Vertrauen der Grund dafür, dass Biden nicht auf eine kämpferische Haltung verzichten kann.

Diese geopolitische Dynamik lässt sich nur psychopathologisch entschlüsseln, denn die Niederlage in Afghanistan hat die Aussicht auf den unvermeidlichen Niedergang der westlichen Vormachtstellung verdeutlicht. Der westliche Verstand reagiert mit einer panischen Psychose, die einen selbstmörderischen Akt ankündigen könnte. Nichts kann die Dynamik dieses Zusammenspiels paranoider Wahnvorstellungen unterbrechen. Das Einzige, was wir – als Intellektuelle, als Aktivisten, als Therapeuten auf der Suche nach neuen Subjektivitäten – tun können, ist, uns auf das Chaos vorzubereiten und uns Fluchtlinien auszudenken.

Das Undenkbare

The Unthinkable (Das Undenkbare) ist der Titel eines Buches von Jamie Raskin, einem Mitglied des US-Repräsentantenhauses aus Maryland. Das Buch erschien am ersten Jahrestag des psychotischen Aufstands, der Tausende von Trumpisten ins politische Zentrum der USA brachte. Der Autor ist nicht irgendein Schriftsteller, er ist ein wichtiges Mitglied des US-Kongresses, weit oben in den Rängen der Demokratischen Partei. Außerdem ist Raskin Professor für Verfassungsrecht, ein selbsternannter Liberaler und Vater von drei Kindern in den Zwanzigern. Eines von ihnen, Tommy – fünfundzwanzig Jahre alt, politischer Aktivist, Unterstützer progressiver Anliegen, mitfühlend, empathisch – starb am letzten Tag des Jahres 2020. Um genau zu sein, beging Tommy Selbstmord, weil er seit langem unter Depressionen litt und auch (vielleicht versteht sich das von selbst) wegen der langen moralischen Erniedrigung seiner humanitären Werte. In seinem letzten Brief erwähnt Tommy seine Depression: „Verzeih mir, meine Krankheit hat gesiegt.“ Dann fügt er hinzu: „Kümmert euch für mich umeinander, um die Tiere und um die Armen der Welt.“ (2)

Der Selbstmord seines geliebten Sohnes stellt sich für Raskin wie eine Apokalypse dar. Tommys endgültige Entscheidung ist nicht nur eine affektive Katastrophe für seinen Vater, sondern auch der Auslöser für ein radikales Überdenken seiner politischen Überzeugungen. Beim Lesen dieses Buches habe ich den Schmerz eines Vaters und die Qualen eines Intellektuellen geteilt. Gleichzeitig wurde ich dazu gebracht, über die Tiefe der Krise nachzudenken, die die westliche Kultur und die liberale Demokratie zerreißt.

Das Buch erzählt drei verschiedene Geschichten gleichzeitig. Die erste ist die des amerikanischen Faschismus, der Trump-Regierung als Reich der Ignoranz, des Rassismus und der Aggressivität. Die zweite ist die von Tommy, seiner Ausbildung, seinen Idealen und der ständigen Erniedrigung seines ethischen Empfindens. Die dritte ist die der Wirkung von Covid-19 auf das Gemüt der jungen Generationen, die am meisten unter ‘sozialer Distanzierung’, Depression und der Unfähigkeit, sich eine lebenswerte Zukunft vorzustellen, gelitten haben.

Raskin schreibt, er habe sich immer als „Optimist betrachtet, radikal optimistisch in Bezug darauf, wie die ‘Verfassung’ der Nation selbst unseren sozialen, politischen und intellektuellen Zustand verbessern kann“. Nach dem Tod seines Sohnes änderte sich jedoch seine Selbstwahrnehmung. Sein ‘Verfassungs-Optimismus’ wird durch die Vorherrschaft der brutalen Gewalt über die Kraft der Vernunft und durch die Ausbreitung der Depression erschüttert. Er schreibt:

Plötzlich beschämt mich dieser Verfassungs-Optimismus … Ich fürchte, dass mein sonniger politischer Optimismus, den viele meiner Freunde an mir am meisten geschätzt haben, zu einer Falle für massive Selbsttäuschung geworden ist, zu einer Schwäche, die von unseren Feinden ausgenutzt werden kann. Aber ich bin auch entsetzt, wenn ich daran denke, was es bedeuten würde, ohne diesen Optimismus zu leben – und auch ohne meinen geliebten, unersetzlichen Sohn. Die beiden gingen immer Hand in Hand, und jetzt lebe ich vielleicht ohne einen von beiden auf der Erde.”

Raskins Worte markieren eine Art Abrechnung: eine Einsicht, dass die politischen und persönlichen Tragödien die Selbsttäuschungen, die der liberalen Demokratie innewohnen, deutlich machen. Selbst angesichts dieses Bruchs mit seinem „sonnigen politischen Optimismus“ ist er nicht in der Lage, sich vom kapitalistischen Dogma zu distanzieren. Selbst im Angesicht von Tragödie und Tod stellt sich ihm die Frage, wie er den amerikanischen Exzeptionalismus mit der Tragödie in Einklang bringen kann, wie er seine neu erworbene Skepsis mit seinem uneingeschränkten Glauben an die Nation, die im Mittelpunkt seiner Depression steht, in Einklang bringen kann.

Psycho-Deflation

Während die geopolitische Landschaft chaotisch wird, bleibt eine Schlüsselfrage bestehen: Was geschieht in der Landschaft der sozialen Subjektivität? Die Pandemie hat die psychische Landschaft tiefgreifend verändert und Depressionen und Ängste verbunden mit Phänomenen von körperlicher Schwäche und verminderter Energie ausgelöst. Long Covid ist ein Ausdruck davon, aber nur die Spitze des Eisbergs.

Eine allumfassende Psycho-Deflation zeichnet sich als Horizont des viralen Zeitalters ab, und die heutige intellektuelle Aufgabe besteht darin, Asthenie (abnorme körperliche Schwäche oder Energieverlust) in evolutionäre Begriffe zu übersetzen. In gewissem Sinne ist diese Deflation vielleicht der einzige positive Trend der heutigen Zeit, der zumindestens bestimmte Prozesse zum Stillstand bringt.

Die Psycho-Deflation ist die Folge der anhaltenden Gesundheits-Panik, der Verinnerlichung der Angst und vor allem der Veränderung des allgemeinen Konsenses über den notwendigen Abstand zwischen sich und anderen. Das Bedürfnis nach sozialer Distanz hat zu einer massiven, phobischen Sensibilisierung für den Körper des anderen, für die Haut und die Lippen des anderen beigetragen. Die Erotik ist gelähmt und die Lust an der Geselligkeit bröckelt.

Es ist also nicht verwunderlich, dass die dem gesamten sozialen Körper (in unterschiedlichem Maße) auferlegten obligatorischen Gesundheitsmaßnahmen reife Bedingungen für einen biopolitischen Bürgerkrieg geschaffen haben. In dieser Landschaft müssen neue politische und therapeutische Kategorien ausgearbeitet werden. Die psychologische Energie wird dem sozialen Körper entzogen, die Vorstellungskraft erlahmt, und der kollektive Körper wird gelähmt. Das ist es, was ich mit dem Begriff „Psycho-Deflation“ meine.

Aber durch diese Berührungsängste, die das Virus ausgelöst hat, durch diese Verlangsamung der sozialen Reaktivität, nehmen verschiedene Fluchtlinien Gestalt an. Die meisten Menschen im Westen folgen einer faschistischen Fluchtlinie und reagieren aggressiv auf die drohende Depression. Aber auch auf psychoanalytischem (schizo-analytischem) Weg lässt sich eine autonome Fluchtlinie erkennen und entwirren: Im sich ausdehnenden schwarzen Loch des psychischen Leidens kann man auch die Lücke finden, die dem Entstehen eines neuen Subjektivierungsprozesses und der Sichtbarkeit eines neuen Horizonts vorausgeht.

wäre es ein Fehler, sich auf die politische Sphäre zu beschränken, um das mögliche Entstehen neuer Subjektivitäten zu beschreiben. Der Wandel, der sich vollzieht, hat wenig mit politischer Repräsentation zu tun. Viel interessanter als die politische Partizipation ist die vielschichtige Resignation, die sich im Alltag ausbreitet. Viel interessanter als das politische Bewusstsein ist die weit verbreitete Ablehnung von Arbeit, Konsum und Fortpflanzung.

Ein Horizont der Selbstständigkeit, der Genügsamkeit und der Gleichheit, ganz zu schweigen von den Horizonten der Rebellion und der Revolte, die sich ebenfalls seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie entwickelt haben. Auch wenn einige dieser zeitgenössischen Erfahrungen, wie der chilenische Aufstand und seine politischen Folgen, ebenfalls in diesem Horizont entstehen, wäre es ein Fehler, sich auf die politische Sphäre zu beschränken, um das mögliche Entstehen neuer Subjektivitäten zu beschreiben. Der Wandel, der sich vollzieht, hat wenig mit politischer Repräsentation zu tun. Viel interessanter als die politische Partizipation ist die vielschichtige Resignation, die sich im Alltag ausbreitet. Viel interessanter als das politische Bewusstsein ist die weit verbreitete Ablehnung von Arbeit, Konsum und Fortpflanzung.

Wirtschaft und depressive Psychose

Ich verfolge mit großer Aufmerksamkeit die Ansichten, die Paul Krugman in seiner Kolumne in der New York Times äußert, denn ich halte ihn für einen der zukunftsorientiertesten und ehrlichsten Wirtschaftswissenschaftler. Aber letzten Endes ist er ein Ökonom, und die erkenntnistheoretischen Grenzen seiner Wissenschaft hindern ihn daran, die zugrunde liegenden Prozesse des Wandels zu erkennen, seien sie nun sozialer, politischer oder kognitiver Natur.

Für einen Ökonomen muss alles mit ökonomischen Begriffen erklärt werden, mit Marktschwankungen, steigenden und fallenden Löhnen, Inflation, Zinssätzen – alles wichtige Dinge, um Himmels willen. Für eine berufstätige Familie ist es sehr wichtig, dass die Löhne steigen und dass ihre Kaufkraft stabil bleibt. Aber wenn die Analyse der Welt, in der wir leben, auf wirtschaftlich quantifizierbare Werte reduziert wird, besteht die Gefahr, dass wir das wesentliche Funktionieren der laufenden Prozesse nicht verstehen. Nehmen wir zum Beispiel die Kolumne, die Krugman am 9. Dezember 2021 unter dem Titel „How Is the U.S. Economy Doing?“ veröffentlichte. Krugman bezieht sich auf zwei aktuelle Erhebungen des US Bureau of Labor Statistics und zeigt sich überrascht:

Die amerikanische Wirtschaftslandschaft sieht in der Tat sehr gut aus. Nach der Schrumpfung im Jahr 2020 stehen wir vor der besten wirtschaftlichen Erholung seit Jahrzehnten. Dennoch scheint es, als seien die Verbraucher sehr mutlos, und diese negative Wahrnehmung der Wirtschaft wirkt sich schließlich auf die Wahlpräferenzen für Präsident Biden aus.” (3)

Ich verstehe sehr gut, dass Krugman, ein leidenschaftlicher Verfechter der Demokratischen Partei und Unterstützer Bidens, bedauert, dass die Leistung des Präsidenten in der Außenpolitik und bei der Umsetzung seines Mega-Finanzplans bisher katastrophal war. (4) Aber der Wirtschaft geht es gut, sagt Krugman – die Beschäftigung ist auf das Niveau vor dem Lockdown gestiegen, der Wachstumsmotor läuft auf Hochtouren, der Energieverbrauch ist gestiegen (was Tornados verursacht und die Voraussetzungen für neue verheerende Flächenbrände schafft, ein Detail, das Krugman nicht erwähnt). Er fragt sich also: „Haben die Verbraucher recht? Müssen wir sagen, dass diese Wirtschaft schlecht ist, obwohl die Daten zeigen, dass sie sehr gut ist? Und wenn es tatsächlich keine schlechte Wirtschaftslage ist, warum sagt die Mehrheit etwas anderes?“

Gute Frage, Paul. Warum schmollen die amerikanischen Arbeitnehmer, die sich über den enormen Anstieg der Unternehmensgewinne und den winzigen Anstieg ihrer Löhne freuen sollten, weiterhin, sind nervös und unzufrieden? Krugman versucht, sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln eine Antwort zu geben:

Die steigenden Preise haben sicherlich die Lohnzuwächse aufgezehrt, auch wenn das Pro-Kopf-Einkommen immer noch über dem Niveau vor der Pandemie liegt. Ich habe den Eindruck, dass die Inflation selbst bei steigenden Löhnen das Vertrauen erschüttert, weil sie den Eindruck erweckt, dass die Dinge außer Kontrolle geraten sind.”

Die Antwort ist also die Inflation, das Schreckgespenst der liberalen und konservativen Wirtschaft. Endlich ist eine wirtschaftliche Entschuldigung für die Angst gefunden worden! Aber ich frage mich: Glaubt Krugman wirklich, dass die Verbraucher (die keine Verbraucher sind, sondern Menschen mit einem Leben, das sich nicht darauf beschränkt, Schecks einzulösen und sie auszugeben) „schlechte Laune“ haben, weil die Inflation wieder aufzutauchen scheint? In einem Anflug von transökonomischer Intelligenz räumt Krugman zwar ein, dass man andere Antworten erhält, wenn man Menschen fragt: „Wie geht es Ihnen?“ im Gegensatz zu „Wie geht es der Wirtschaft?“

Aber Krugman gelingt es nicht, diese Intuition weiterzuentwickeln, und er quält sich weiter mit der unverständlichen Kluft zwischen der mürrischen Stimmung der Menge und der Güte der Wirtschaft. So bricht er am Ende in einen Schrei der Verzweiflung aus:

Kurz gesagt, das stark negative Urteil über die Wirtschaft steht im Gegensatz zu jedem anderen Indikator, den man sich vorstellen kann [natürlich dem wirtschaftlichen]. Was ist also los? Es ist wichtig, die Perspektive zu wahren. Es handelt sich um eine wirklich sehr gute Wirtschaftsentwicklung, auch wenn es einige Probleme gibt. Lassen Sie sich von den Schwarzmalern nicht einreden, dass dies nicht der Fall ist.”

Was ist nun der Punkt, den der Wirtschaftswissenschaftler Krugman übersieht? Meiner bescheidenen Meinung nach geht es darum, dass die Erfahrungen der letzten Jahre – insbesondere die Erfahrung mit dem Virus und der daraus resultierenden Angst und dem sich ausbreitenden Gefühl der Sterblichkeit – die Menschen dazu gebracht haben, über das Leben in Begriffen nachzudenken, die nicht nur die Sicherheit des Arbeitsplatzes betreffen, der an sich ein fast zufälliger Marker für Stabilität ist.

Heute kann das alte Sprichwort „It’s the economy, stupid“ umformuliert werden: „Es ist die Psychologie, Dummkopf“.

Der psychotische Zusammenbruch neutralisiert die Stärke der Wirtschaft.

Viele haben sich den von Trump und evangelikalen Predigern angeführten Horden angeschlossen. Viele nahmen Fentanyl und OxyContin, bis sie eine Überdosis nahmen. Einige schnappen sich das Maschinengewehr ihres Vaters und gehen zur Schule, um ein halbes Dutzend Gleichaltriger zu töten. Aber viele andere haben sich gefragt, warum sie ihr ganzes Leben einer schlecht bezahlten (oder sogar „gerecht“ bezahlten) Arbeit widmen sollten, wenn diese Arbeit keinen Sinn macht, einen deprimiert, auslaugt und von anderen entfremdet. Warum unter Bedingungen der ständigen Demütigung leben? Warum nicht kündigen, ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Belange?

Viele haben große Streiks organisiert, wie bei Kellogg’s, bei Nabisco und an der Columbia University, wo dreitausend Arbeiter über neun Wochen lang gestreikt haben! Viele andere haben einfach gekündigt: Viereinhalb Millionen amerikanische Arbeitnehmer haben Ende 2020 ihren Arbeitsplatz aufgegeben – „die große Resignation“, wie es genannt wird. (5) Eine Art Long Covid hat sich im Zentrum des westlichen Geistes festgesetzt – aber nicht nur im westlichen Geist. Anstatt hart zu arbeiten, ein Haus zu kaufen, zu heiraten und Kinder zu bekommen, entscheiden sich in China immer mehr junge Menschen dafür, aus dem Rattenrennen auszusteigen und einen schlecht bezahlten Job anzunehmen – oder überhaupt nicht zu arbeiten. Dieser einfache Akt des Widerstands ist gemeinhin als „tangping“ oder „flachliegen“ bekannt.

Was Krugman aufgrund seiner (liberalen) wirtschaftlichen Weltanschauung nicht sehen kann, ist, dass das Geld angesichts von Tod, Panik und Depression seine Macht, vielleicht sogar seinen Wert verliert. Geld kann eine Gesellschaft, die in Depressionen versinkt und von Panik und wahnsinniger Wut durchdrungen ist, nicht wiederbeleben. Geld kann nicht gegen eine massive Resignation ankommen: Im Zuge der großen Resignation sollten wir nicht vergessen, dass das Wort „Resignation“ nicht nur Aufgeben bedeutet, sondern auch den Verzicht auf Erwartungen.

Die modernen Erwartungen wurden enttäuscht: Demokratie ist ein leeres Wort, der erworbene Wohlstand wurde durch die räuberische Finanzwirtschaft aufgehoben. Resignation bedeutet auch, dem Vergnügen, dem Reichtum, der Aktivität und der Zusammenarbeit eine neue Bedeutung zu geben. Dies ist der neue Horizont, den wir am Ende des Tunnels der Psycho-Deflation entdecken können. Eine egalitäre und genügsame Sensibilität ist die verborgene Perspektive, die sich dort auftut.

In einer Art Gegengesang zu Squid Game singt die südkoreanische Popband BTS: „It’s alright to stop / There’s no need to run without even knowing the reason / It’s alright to not have a dream / If you have moments where you feel happiness for a while.“

Es scheint, dass BTS eine große Fangemeinde unter den jungen Menschen weltweit hat.

Anmerkungen

  1. https://soundcloud.com/e_flux/lesperimento/s-pLLR0TaThtx?si=f961ed3d537645b189130d6bf0274b60
  1. Jamie Raskin, The Unthinkable: Trauma, Wahrheit und die Prüfungen der amerikanischen Demokratie (Harper, 2022), Kindle.
  1. Paul Krugman, „How Is the U.S. Economy Doing?“ New York Times, 9. Dezember 2021
  1. Siehe z. B. Lauren Gambino, “’It’s a Tough Time‘: Why Is Biden One of the Most Unpopular US Presidents?“ The Guardian, 18. Januar 2022
  1. Zur Columbia Graduate Worker Union siehe „How We Beat the Administration and the Union Bureaucracy“, CrimethInc. Zu den anderen erwähnten Streiks, siehe From Kellogg’s to Nabisco: The strikes behind America’s growing labor movement”
  1. „The Low-Desire Life: Why People in China Are Rejecting High-Pressure Jobs in Favour of ‚Lying Flat‘,“ The Guardian, July 5, 2021