An wen ist das Wort gerichtet?

Giorgio Agamben

In jedem Zeitalter haben Dichter, Philosophen und Propheten vorbehaltlos die Laster und Unzulänglichkeiten ihrer Zeit beklagt und angeprangert. Diejenigen, die so klagten und anklagten, wandten sich dennoch an ihre Mitmenschen und sprachen im Namen von etwas Gemeinsamen oder zumindest Teilbaren. In diesem Sinne hat man davon gesprochen, dass Dichter und Philosophen immer im Namen eines abwesenden Volkes gesprochen haben. Abwesend im Sinne von fehlend, von etwas, das als fehlend empfunden wurde und deshalb irgendwie noch vorhanden war. Selbst in diesem negativen und rein ideellen Modus setzten ihre Worte immer noch einen Adressaten voraus.

Heute sprechen Dichter und Philosophen vielleicht zum ersten Mal – wenn sie überhaupt sprechen – ohne einen möglichen Adressaten im Kopf. Die traditionelle Entfremdung des Philosophen von der Welt, in der er lebt, hat die Bedeutung der Worte verändert, die Entfremdung bedeutet nicht mehr nur Isolation oder Verfolgung durch feindliche oder gegnerische Kräfte. Das Wort muss sich nun mit einer Abwesenheit des Adressaten auseinandersetzen, die nicht episodisch, sondern gewissermaßen konstitutiv ist. Es ist ohne Adressat, d. h. ohne Bestimmungsort. Dies kann auch dadurch ausgedrückt werden, dass man sagt, wie es von vielen Seiten getan wird, dass die Menschheit – oder zumindest der Teil von ihr, der reicher und mächtiger ist – am Ende ihrer Geschichte angelangt ist und dass daher die Idee, etwas weiterzugeben und zu vererben, keinen Sinn mehr hat.

Als Averroè im 12. Jahrhundert in Andalusien erklärte, dass der Zweck des Denkens nicht darin besteht, mit anderen zu kommunizieren, sondern sich mit dem eigentlichen Verstand zu vereinen, ging er davon aus, dass die menschliche Gattung ewig ist. Wir sind die erste Generation der Moderne, für die diese Gewissheit in Frage gestellt wird, für die es sogar wahrscheinlich ist, dass die menschliche Rasse – zumindest die, die wir unter diesem Namen verstehen – aufhört zu existieren.

Wenn wir jedoch – wie ich es in diesem Augenblick tue – weiter schreiben, können wir nicht umhin, uns zu fragen, was ein Wort bedeuten könnte, das auf keinen Fall geteilt und gehört werden wird, wir können dieser extremen Prüfung unseres Daseins als Schriftsteller in einem Zustand der absoluten Unauffindbarkeit nicht entgehen. Sicherlich war der Dichter immer allein mit seiner Sprache, aber diese Sprache war per Definition gemeinsam, was uns heute nicht mehr so selbstverständlich erscheint. Auf jeden Fall ist es der Sinn unseres Tuns, der sich wandelt, vielleicht sogar schon völlig gewandelt hat. Das bedeutet aber, dass wir unseren Auftrag an das Wort neu überdenken müssen – an ein Wort, das keinen Adressaten mehr hat, das nicht mehr weiß, an wen es gerichtet ist. Das Wort wird hier mit einem Brief verglichen, der zum Absender zurückgeschickt wurde, weil der Empfänger unbekannt ist. Und wir selbst können ihn nicht zurückweisen, wir müssen ihn in den Händen halten, weil wir vielleicht selbst dieser unbekannte Adressat sind.

Vor einigen Jahren bat mich eine englischsprachige Zeitschrift um eine Antwort auf die Frage, “an wen sich die Poesie richtet“. Ich gebe hier den italienischen Text wieder, der noch unveröffentlicht ist.

An wen richtet sich die Poesie?

Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man versteht, dass der Empfänger eines Gedichts keine reale Person ist, sondern ein Bedürfnis.

Ein Bedürfnis fällt mit keiner der uns bekannten Modal-Kategorien zusammen: Was Gegenstand eines Bedürfnisses ist, ist weder notwendig noch bedingt, weder möglich noch unmöglich.

Vielmehr wird man sagen, das eine verlangt nach dem anderen, während das erste, das andere sein wird, ohne dass das Erste dies logisch impliziert oder zwingt, auf der Ebene der Tatsachen zu existieren. Es ist schlicht und einfach jenseits aller Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Wie ein Versprechen, das nur von dem erfüllt werden kann, der es empfängt.

Benjamin schrieb, das Leben des Fürsten Myškin müsse unvergesslich bleiben, auch wenn es alle vergessen hätten. Ebenso verlangt ein Gedicht danach, gelesen zu werden, auch wenn es niemand liest.

Das lässt sich auch so ausdrücken, dass das Gedicht, soweit es verlangt, gelesen zu werden, ungelesen bleiben muss, dass es eigentlich keinen Leser des Gedichts gibt.

Das ist es vielleicht, was César Vallejo im Sinn hatte, als er, um die letztendliche Absicht und fast die Widmung seiner gesamten Poesie zu definieren, keine anderen Worte fand als ‘por el analfabeto a quien escribo’.

Man betrachte die scheinbar überflüssige Formulierung ‘für den Analphabeten, dem ich schreibe’. Denn hier gilt nicht so sehr ‘a’, sondern ‘an seiner Stelle’, wie Levi sagte, er solle für – das heisst ‘anstelle’ – derjenigen aussagen, die sich im Jargon von Auschwitz ‘Muselmänner’ (1) nannten, das heißt für diejenigen, die unter keinen Umständen aussagen konnten. Der wahre Empfänger eines Gedichts ist derjenige, der es nicht lesen kann. Das bedeutet aber auch, dass das Buch, das für den bestimmt ist, der es nicht lesen kann – den Analphabeten – mit einer Hand geschrieben wurde, die gewissermaßen nicht schreiben kann, mit einer Hand, die die eines Analphabeten ist. Die Poesie führt jede Schrift zu jenem Unlesbaren zurück, von dem sie stammt und zu dem sie sich auf den Weg macht.

23. August 2022

Giorgio Agamben

  1. Fussnote Sunzi Bingfa: Siehe dazu diese sehr ausführliche Ausführung, die wir Euch unbedingt an Herz legen möchten http://www.wollheim-memorial.de/de/muselmaenner