Post Covid Riot Prime Manifest – Roter Oktober

Doc McCoy

 

Es bedeutet zu behaupten, dass wir aufrichtig sind, mit unseren Kinderaugen in dieser nicht zu rechtfertigenden Welt; wenn jemand jemanden angreift, wird jemand jemanden angreifen.“

Manifest der Jugend (1)

Einundvierzig. Es war ein heißer Sommer. Die Taktung der Aufstände machte schwindelig, die Winterpaläste zu erobern erfolgte handstreichartig wie auf Sri Lanka, aber: Es kommt vor, dass Aufstände nicht direkt vom Staat besiegt werden, sondern vielmehr durch den Schock ihres eigenen Sieges. Als die Bewegung ihren eigenen Sieg betrachtete, schien sie wie gelähmt.” (2) Wie bereits im ‘Post Covid Riot Prime Manifest – Next Level’ konstatiert: “Nicht reif für den Bürgerkrieg, örtlich begrenzt, idealisierend in ihrer Verhaftung des Commune Charakters gelang nicht der notwendige Sprung in die neue Qualität der Klassenauseinandersetzung. Aber selbst wenn dieser Sprung zukünftig gelingen wird, wir also real die vorrevolutionäre Qualität erfahren, mit allen Sinnen, stehen wir vor dem Dilemma, wie sich diese neue Qualität ausdrückt, ihre Form findet”. (3)

Gewisse Kreise in Frankreich, aus denen die Autorenkollektive Tiqquin und das Unsichtbare Komitee entstammen, bereisten verschiedene Orte des militanten Dissens, beschäftigten sich intensiv u.a. mit den Erfahrungen der italienischen Autonomia, bevor sie ihre Analysen und Vorschläge veröffentlichten. Verbleiben wir für einen Augenblick an diesem letztgenannten Ort, versuchen wir noch einmal unseren Fokus auf jene Klassenauseinandersetzung der 70er in Italien zu richten.

Fast sämtliche Texte von Protagonisten der italienischen Revolte der 70er, die nach dem Scheitern von 77 veröffentlicht wurden, verorten die Ursache für das Scheitern dieses Anlaufes in der “Militarisierung des Konflikts”, teilweise meint das die “Militarisierung des Konfliktes durch ‘die Bewegung’ selbst”, teilweise richtet sich die Kritik an die Roten Brigaden (BR), die insbesondere mit der Zuspitzung des Konflikts durch die Entführung und Hinrichtung Aldo Moros eine Situation geschaffen hätten, der ‘die Bewegung’ nicht mehr gewachsen war. Ich denke, beide Narrative werden der historischen Wahrheit nicht gerecht. Zuerst wäre zu erwähnen, dass die BR, im Gegensatz zu anderen bewaffneten Gruppen in Westeuropa, sehr wohl Wert auf eine ganz reale Verankerung in der Arbeiterklasse legte. In vielen strategisch wichtigen Fabriken gab es Kolonnen der BR, viele Aktionen intervenierten direkt in Klassenkämpfe vor Ort, die BR dürften hunderte von Militanten und tausende von Sympathisanten in den Fabriken selbst gehabt haben. Unabhängig von den internen Auseinandersetzungen in den BR um die “strategische Ausrichtung” war die Entführung Aldo Moros richtigerweise bestimmt als Intervention gegen den “historischen Kompromiss”, mit dem die italienische KP sich als Juniorpartner der Christdemokraten in die Regierung einkaufen wollte. Die grundsätzliche Militarisierung der Klassenauseinandersetzung war m.E. nicht durch die Interventionen der antagonistischen Linken bestimmt, auch nicht durch manches militantes Abenteurertum bestimmter Gruppen der Autonomia. Sicherlich waren und sind Demonstrationen keine geeigneten Orte für bewaffnete Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, auch weil die organisierten Kräfte immer eine Minderheit der Demonstranten stell(t)en, ABER waren die bewaffneten Aktionen auf den Demos und während der Riots in erster Linie Versuche, den bewaffneten Angriffen der Bullen etwas entgegenzusetzen. Im Prinzip kann man davon sprechen, dass eine grundsätzliche Situation hergestellt wurde, in der zurückgeschossen wird.

All die erwähnten Positionen lassen aber vor allem eine bedeutende historische Erfahrung außen vor, die zahlreichen Massaker an der italienischen Arbeiterklasse in den Kämpfe des zurückliegenden Jahrzehnts der 60er, die das subjektive Bedürfnis geschaffen hatten, sich nicht noch einmal ohne Gegenwehr abschlachten zu lassen. So oder so, letztendlich bewegen sich all diese Bewertungen alle auf dem Niveau einer taktischen Bilanzierung. Im Kern aber war die 77er Revolte in Italien eine isolierte Revolte, die sich zwar auf größere Teile der Arbeiterklasse beziehen konnte, aber in ihrer Nationalstaatlichkeit gefangen war. Ihre Niederlage war deshalb historisch gesehen unvermeidlich. Und selbst auf dem Terrain des Nationalstaates nicht abzuwenden, wie die später bekannt gewordenen Planungen und Manöver der NATO belegen. Wir können also von einer unvollständigen Untersuchung durch die italienischen und französischen Genossen sprechen, weil der Horizont der Untersuchung die Revolte und nicht die Revolution war. Um genau darum geht es aber, um jetzt auf der Höhe der Zeit zu intervenieren… Um unseren Blick wieder auf das Hier und Jetzt zu richten.

Zweiundvierzig. Die Aufstände sind gekommen. Jetzt geht es um mehr. Um alles. Die diversen Veröffentlichungen der Sicherheitsorgane zu den “Gefahren für die bestehende Ordnung” durch die sozialen Verwerfungen hier in der BRD sprechen dafür ebenso wie die Deckelung der Energiepreise in Frankreich, dessen Eliten sich immer noch im Status einer Posttraumatischen Belastungsstörung befinden, hervorgerufen durch die eruptive Geister der Gilets Jaunes, die sich aus dem Nichts des sozialen Nebels materialisierten. In einem der reichsten Länder der Welt wird über die Einrichtung von “Wärmehallen” für Menschen gesprochen, die sich im kommenden Winter das Beheizen ihrer Wohnung nicht mehr leisten können. Der sich im Pandemie Ausnahmezustand allmächtig gebende Staat ist über Nacht zu einem hilflosen Schurken geworden, der den Gesetzen des Marktes, dem freien Spiel der Derivate zu gehorchen hat und nicht umgekehrt. (4) Mit der realen Hilflosigkeit des Staates zerbricht der Nimbus, den der historische Sieg von 1989ff geschaffen hat. Man muss nur den Mut aufbringen, genau hinzuschauen. Und mit der Option des Staates zerbricht auch jene Linke, die sich auferlegt hat, diesen Staat, in welcher Form auch immer, zu übernehmen. Die feindliche Übernahme ist die Investition in einen toten Koloss.

Der Westen und besonders die BRD kaufen wie verzweifelt Betrunkene weltweit Energieträger zusammen, Südafrika z.B. kommt gar nicht mehr mit seinen Transportkapazitäten nach, so viel Kohle wird nachgefragt, im ersten Halbjahr 2022 wurden die Exporte in die BRD verachtfacht. Und während irrelevante Debatten um einen dreimonatigen Weiterbetrieb der 3 letzten AKWs hierzulande geführt werden, droht gerade die ‘grüne Klimakrisen-Governance’ in dem Moment zu einer Randnotiz der Geschichte zu werden, wo sie als die Zukünftigkeit des Empires im Endgame festzustehen schien. Es gibt gegenwärtig nur drei geschichtliche Alternativen. Ein baldiger “Waffenstillstand” des Westens mit Russland, um den unvermeidlichen “ökologischen Umbau des Kapitalismus” noch zu retten. Eine Ausweitung der gegenwärtigen Konflikte, die reale “Zeitenwende”, den Eintritt in einen (zumindestens latenten) permanenten Kriegszustand (unter Einbeziehung Chinas und bedeutender Regionalmächte wie Indien und Pakistan) oder eine breite revolutionäre Erhebung.

Dreiundvierzig. Revolution. Eine Begrifflichkeit, die historisch gesehen so häufig missbraucht und lächerlich gemacht wurde, dass sich jeder anständige Mensch erst einmal voller Skrupel, Ekel und Verachtung abwendet. In der Totalität des Marktes muss die erste Aufgabe sein, sich diesen Begriff wieder anzueignen. Überhaupt wieder den geschichtlichen Horizont aufzureißen. Sich endgültig der falschen scheinbaren Verbündeten zu entledigen. Nicht zuzulassen, dass diese unerträglichen Milieus sich wieder breit machen, von denen jedes einzige nur dazu dient, eine Wahrheit zu kontrollieren, wie das Unsichtbare Komitee schrieb. (5) Sich nicht in der Pose des ewigen Rebellen zu gefallen, nicht dem falschen Nihilismus zu dienen, sondern sich den bewussten Nihilismus anzueignen. “Angst ist der Grundzustand in der entwickelten Welt. Angst, hervorgerufen durch die entfremdet und atomisiert eingerichtete Welt. Es gibt, neben dem kybernetischen, kein Beziehungsgeflecht, welches mit diesem Zustand besser vereinbar wäre.” (6) Sich ehrlich machen, Freundschaften pflegen und finden, sich organisieren, die vorrevolutionäre Situation nutzen.

Vierundvierzig. In der gegenwärtigen Situation ist die Verneinung des Krieges die Tendenz zum Bürgerkrieg. Dem wohnt kein Militarismus inne, sondern die Liebe zum Leben. Das tiefe Wissen, dass unser Zeitfenster begrenzt ist. Dass unser Gegner das auch weiss, der die irrationale Welt repräsentiert, eine irrationale Welt, die ihre pathologische Irrationalität, ihre emotionale Ertaubung als Wissenschaft und Unvermeidlichkeit tarnt. Eine Welt, die eine einzige Täuschung ist, eine Matrix der Simulationen, die uns den Boden unter den Füßen rauben, uns taumelnd machen sollen. Das Wahrheitsministerium ist längst eingerichtet, alle Medienredaktionen residieren im 31. Stockwerk. Wir leben längst in einer Dystopie, die große Kunst der Macht war es, den Menschen einzureden, es wäre nicht so. All die Aufstände, die zur Zeit um den Globus rasen, wissen längst um all diese leeren Versprechungen, die Bankräuber wussten schon immer um die heimliche Sympathie der Unterdrückten, jetzt sammeln sich die Menschen vor den Polizeirevieren, in denen sie gefangen gehalten werden und fordern ihre Freilassung. “Wir sind alle zusammen, wir haben keine Angst mehr”, rufen sie im Iran und nicht nur dort, während sie sich im Tränengas umarmen und trösten, Polizeireviere stürmen und niederbrennen. Jede Macht ist endlich. Und auf ihrem Höhepunkt in ihrem fragilsten Aggregatzustand. Und genau an diesem Punkt befinden wir uns. Eben noch konnten sie über Nacht zwei Drittel der Weltbevölkerung wegsperren, jetzt taumelt der Koloss. Das ist die wichtigste revolutionäre Tat derzeit, diese Kunde in die Welt zu tragen. Dies führt unvermeidlich dazu, dass aus Proteste Riots, aus Riots Revolten, aus Revolten Aufstände, und aus Aufständen Revolutionen werden. Wenn die Hoffnung zurückkehrt. Revolutionen resultieren nicht aus Verzweiflung, Aufstände resultieren häufig aus Verzweiflung, Revolutionen resultieren aus Zuversicht.

Fünfundvierzig. Klug sein. Klug bleiben. Es mangelt nicht an Mut, nicht an Entschlossenheit, wer sich umsieht in der Welt, den diversen Erzählungen der Aufstände lauscht, wird darin mehr als genug Mut und Entschlossenheit finden. Wir machen noch zu viele Fehler. Noch. Die Revolution zu denken heißt immer die Konterrevolution mitzudenken. Unser Gegner lässt 24/7 seine Computer laufen, seine technologischen, politischen, ökonomischen, soziologischen, kriminalistischen,… Stäbe und Kommissionen tagen und tagen. Berechnet Chancen und Wahrscheinlichkeiten, für jedes Szenario gerüstet, Hunger, Blackout, atomares Risiko. Wir sind aber unberechenbar. Das Leben, der Mensch ist kein Algorithmus, wird es niemals sein. Wenn es jemals dazu kommen sollte, wird es kein Leben mehr sein, nur noch eine biologische Variante eines Rechenmodells einer KI. Aber dazu werden wir es nicht kommen lassen. Wir werden weiter voneinander lernen, jede Niederlage wird von uns analysiert, wir sind mehr als unser Verstand, wir haben unsere Intuitionen und unsere Herzen, wir sind jeder scheiß Maschine überlegen. Wir stehen uns nur manchmal noch selber im Weg. “Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.” Sun Tzu

Sechsundvierzig: Der gegenwärtige gesellschaftliche Aggregatzustand ist der der Gefangenschaft, genauer gesagt, und in Weiterentwicklung der allgegenwärtigen Knastgesellschaft von denen schon die schwarzen Brüder und Schwestern der Black Panther in den 70ern sprachen, der einer Gefangenschaft in Geiselhaft. Die Gefangenschaft verpflichtet zu nichts, entweder sie wird akzeptiert oder wird mit individueller oder kollektiver Revolte und dem Bemühen, dem Knast zu entkommen, beantwortet. Dies setzt voraus, dass Freiheit überhaupt noch denkbar ist im Gegenwärtigen, Orte kennt an denen das freie Atmen überhaupt noch möglich ist. Die Geiselhaft, die sich über den Planeten mit dem Corona Ausnahmezustand bis in die letzten indigenen Gebiete ausgebreitet hat, erwartet ständige Gegenleistung um überhaupt am “nackten Überleben” (Agamben) partizipieren zu können.

Jede grundsätzliche Kritik wird nun als Verleugnung der EINZIGEN Realität gebrandmarkt, die Kritiker als nichts mehr zur Gesellschaft zugehörig von dieser ausgeschlossen oder in ihrem Geisteszustand pathologisiert. Alles, was als Counterinsurgency in den 70er und 80er gegen den bewaffneten Antagonismus praktiziert wurde, ist nun gesamtgesellschaftlich generalisiert worden. Mit dem Corona Ausnahmezustand wurden die “systemrelevanten Sektoren” noch einmal in aller Schärfe definiert, die unter allen Umständen am Laufen gehalten werden müssen. Jeder und Jede ist dazu verpflichtet seinen, bzw. ihren Beitrag zu leisten, notfalls dienstverpflichtet, dazu gibt es nun entsprechende Regelungen z.B. für Beschäftigte im Gesundheitswesen. Und nun, da der Ausnahmezustand der Pandemie fließend in den des Krieges, der im Kern ein Krieg um die Energieressourcen ist, übergegangen ist, trifft die Dienstverpflichtung die streikenden Arbeiter in den Eröl- und Erdgasraffinerien- und Depots in Frankreich, denen Bullen nach Hause geschickt werden, um sie zur Arbeit zu schleppen. Die Lohnarbeit ist nicht mehr nur ein Ausbeutungsverhältnis, sondern das eines Leibeigenenverhältnises, ergo das einer Geisel, die sich ständigen neuen Erpressungen ausgesetzt sieht, die nie enden, egal, wieviel an eigenem Leben als Tauschwert angeboten wird.

Dass nun die Anti-Terroreinheiten in Frankreich gegen die von den Raffinerien sich ausweitende Streikwelle eingesetzt werden sollen, um die “systemrelevanten Sektoren” am Laufen zu halten, ist nur die konsequente Logik des Empire im Endgame, in dem jeder Dissens in seiner Zulässigkeit von den staatlichen Staaten gelabelt wird: zulässig oder als gegen die herrschende Ordnung gerichtet, was im Kriegszustand in dem wir uns befinden, als terroristischer Akt behandelt werden muss.

Siebenundvierzig: Die Macht endet dort, wo sich der Mensch weigert, sich mit seinem Geiselnehmer zu identifizieren, sich seinem vermeintlichen Schutz zu unterwerfen, kurz gesagt, sie endet dort, wo die regressive Neurose endet. Frantz Fanon musste, um als Psychiater seine Patienten wirklich verstehen zu können, sich dem algerischen Aufstand anschließen, er konnte ihr Leid nur lindern, indem er zum Revolutionär wurde.Wenn die Psychiatrie eine medizinische Technik darstellt mit dem Ziel, Menschen zu ermöglichen, ihre Entfremdung von ihrer Umgebung zu überwinden, bin ich mir die Feststellung schuldig, dass der Araber, der in seinem eigenen Land beständig entfremdet ist, in einem Zustand absoluter Entpersonalisierung lebt.”

Die Dekolonialisierung des Bewusstseins, ich bin schon darauf eingegangen, ist die dringlichste Aufgabe der revolutionären Kräfte jetzt. Die Linke hat sich in ihrer historischen Niederlage, dem “Ende der Geschichte”, so sehr eingegraben, dass sie sich nur noch als moralisches Korrektiv des Bestehenden definieren kann, sie somit selber Teil des Bestehenden geworden ist (wenn man von den traurigen Gestalten absieht, die sich weigern, die letzten 25 Jahre zur Kenntnis zu nehmen und deshalb mit ihrem untauglichen analytischen Werkzeugen des letzten Jahrhunderts die aktuellen Konfliktualitäten bearbeiten). Genau deshalb gab und gibt es keine materialistischen Analysen des Pandemie Ausnahmezustandes und des Krieges, der gerade in Europa tobt. Nur moraltriefende Ausgrenzungen und scheinbare Frontverläufe des Klassenkampfes, die Irrlichter im grauen Nebel sind, der sich wie Eiskristalle auf die nackte Haut unserer Seele brennt. Den Nebel zu lichten heißt, den revolutionären Horizont sichtbar zu machen, der real da ist. Viele der Aufstände der letzten Jahre im Trikont haben genau das begriffen, wenn sie gegen jede Fremdzuschreibung darauf beharren, dass sie eine revolutionäre Erhebung repräsentieren.

Die politische Moderne wird oft im Licht der Französischen Revolution gedacht. Tonnen von Büchern und Tausende von Analysen wurden geschrieben, um sie zu glorifizieren, sie zu beschmutzen oder zu versuchen, unsere Gegenwart mit ihr zu denken. Dazu gehört auch der Versuch, sie zusammen mit der Revolution in Haiti zu denken, der ersten Revolution der schwarzen Sklaven, die nur zwei Jahre später, 1791, ausbrach. Die Revolutionäre in Haiti nahmen die Slogans der Revolution in Frankreich für Freiheit und Gleichheit wörtlich. Sie geben einer ‘zweiten Geste’ Gestalt, die die erste Geste radikalisiert und retrospektiv auf sie einwirkt. Der universelle Charakter der Französischen Revolution gehört nicht der Französischen Revolution, sondern denjenigen, die den Staffelstab übernehmen, damit die Worte Freiheit und Gleichheit nicht nur Worte sind, geschweige denn Instrumente der Unterwerfung. Es sind die Revolutionäre in Haiti, die ‘überprüfen’, dass das, was geschehen ist, nicht nichts war, sondern zu etwas anderem führen kann. Es geht also nicht um die Magie und das Genie einer Eröffnungsgeste, sondern um die Art und Weise, wie eine emanzipatorische Geste eine andere Geste ablöst. Indem sie diese verifiziert und ihre Wahrheit zu einem Werden macht.” (7)

Geschichte schreiben zu wollen heißt auch Geschichte neu denken und aufschreiben zu wollen, heißt den ganzen ideologischen Ballast loszuwerden, der dem modernen Leibeigenen wie eine Fußfessel angelegt ist, heisst die rote Zone wieder erstürmen zu wollen und nicht selber zum konzeptionellen Architekt der modernen Knastgesellschaft zu werden, zum Strategen der roten, gelben und grünen Zonen. Heisst den realen Frontverlauf in der Klassenauseinandersetzung zu markieren, heisst sich die notwendigen analytischen Mittel, die dazu nötig sind, anzueignen. Heisst sich der Familie der Milieus zu entsagen, die jetzt wieder mit ihren lahmen Kampagnen und leeren Phrasen ankommen. Nicht zuzulassen, dass die leeren Augen wieder unsere Seelen mit ihren Alpträumen beschweren. Heisst sich die Orte zu erkämpfen, an denen wir wieder überhaupt atmen können. Sonst werden wir einfach ersticken. Ersticken an all den Lügen, an all den falschen Zeugnissen. Ersticken an all dem verbalen Müll, mit dem sie versuchen unser Bewusstsein in kolonialer Abhängigkeit zu halten, an den Ängsten, mit denen sie uns manipulieren, ersticken an unserer Ohnmacht, an dem Gefühl, nichts ausrichten zu können.

Achtundvierzig: Die menschlichen Seelen sind die postmodernen Kolonien, die Kobaltlager mit der sich das Empire in den Transhumanismus hinüber retten will. Dies ist seine einzige Perspektive. Unsere Perspektiven sind vielfältig. Die Erde, wie wir sie kennen, wird es nicht mehr geben, angesichts dessen in Defätismus zu verfallen, ist genauso gefährlich wie die appellative Ohnmacht, die um sich greift. Im Kern schafft die reale Situation eine geschichtliche Freiheit, die in der Moderne einmalig ist. Wir haben nichts mehr zu verteidigen, nur noch alles zu gewinnen. Es gibt keine utopischen Bilderwelten, die uns begrenzen. “Wir werden siegen, weil wir tiefgründiger sind”, schrieben die Autoren des Konspiratorischen Manifests. Tiefgründiger, nicht nachhaltiger. Wir entwerfen keine gesellschaftlichen Blaupausen, die immer notgedrungen Kopien des Gegenwärtigen sind. Das Denken kann sich von allen Fesseln befreien. Irgendeine Form von Erde wird bleiben, die Macht des Menschen, seine Hybris, ist begrenzter, als er es sich ausmalt. Die Trauer um die Verluste sind Teil davon, nun wir selber sein zu können. Die Trauer ist nicht nur dem Menschen eigen, aber sie gehört wohl zu seinen edelsten Eigenschaften. Sie markiert sein Wissen um seine Endlichkeit genauso wie seine sozialen Bindungen, ohne die er nichts ist. Wir haben eine ganze Welt zu betrauern und wie an jeden Anfang eines Trauerprozesses steht am Anfang der Trauer um die Welt ein Abgrund an Schmerz und Verzweiflung. Das trennt uns von unseren Todfeinden, deren destruktives Verwertungssystem keinen Verlusterfahrungen kennt, keine echte Tränen, nur synthetische Gefühlswelten, seelische Krücken. Deshalb wurden unsere Toten im Pandemie Ausnahmezustand einfach verscharrt, jede Ansammlung als Trauergemeinschaft verboten. Deshalb schlucken immer mehr Menschen Psychopharmaka, ein Drittel aller Amerikaner klagt mittlerweile über Symptome einer klinischen Depression oder chronischen Angsterkrankung. Während der Lockdowns stieg der Umsatz von Antidepressiva um 50%, das gängige Medikament Zoloft wurde knapp, weil die Hersteller in Asien nicht mehr mit der Produktion nachkamen. “Die Seele brennt und im Herzen Eiszeit” fand man auf die Mauern Zürichs während der Jugendrevolte der 80er an die Häuserwände gesprüht. Die Menschen können nicht mehr, sie wollen nicht mehr. Wir leben in revolutionären Zeiten.

Nachdem die Revolte endgültig der Vergangenheit angehört, fällt es mir schwer, etwas Sinnvolles zu sagen. Auch auf die Gefahr hin, melodramatisch zu klingen, wenn Normalität und Stabilität wieder die Oberhand gewinnen, sehe ich ehrlich gesagt keinen Sinn darin, irgendetwas zu tun, und selbst die banale Tätigkeit des Lebens kann sich als ziemlich zäh erweisen. Darüber hinaus würde ich wetten, dass jeder von uns mit diesem Zustand vertraut ist, in dem diese Anstrengung von einem gewissen Maß an Leid begleitet wird, das von leichtem Unbehagen bis hin zu schwersten Qualen reicht” (8)

Ja, wir waten durch ein Meer aus Tränen. Aber wir sollten verstehen, dass dies unvermeidlich ist. Und jeder Trauer wohnt Trost inne, wenn es uns gelingt, uns in echter Beziehung zu anderen Menschen zu setzen. Der Schmerz zwingt uns zu einer Entscheidung. Entweder verleugnen wir ihn und damit uns selbst, oder wir bekennen uns zu unserer Fragilität. Und in dieser Fragilität begegnen wir uns. Schaffen wir die Bindungen, die wir benötigen, um unsere Vereinzelung, unsere Hoffnungslosigkeit zu überwinden. Liebe – Hoffnung- Krawall.

Neunundvierzig: “Sich finden, organisieren, Aufstand”, schrieb schon 2008 das Unsichtbare Komitee in “Der kommende Aufstand”. Nichts hat sich daran geändert. Jedenfalls hierzulande. In anderen Teilen der Welt sind die Menschen schon weiter. Hier irren wir weiter orientierungslos durch unser Leben und unsere Praxis. Es wird hier keinen heißen Herbst geben. Höchstens von rechter Seite. Die Großdemo der AfD in Berlin mit 10.000 Leuten hat davon einen Vorgeschmack vermittelt. Der antifaschistische Irrtum, der ein überlebensnotwendiger Impuls Anfang der 90er war, ist in der Sackgasse gelandet, in die er gehört. Ohne eigene sozialrevolutionäre Praxis, ohne realen Kontakt zum zu großen Teilen migrantischen Surplus Proletariat, ohne analytische Werkzeuge,… sind wir verloren. Es muss dringendst eine gemeinschaftliche Debatte unter den dissidenten Splittern angeschoben werden, die auch auf eine konkrete Organisierung und Praxis zielt. Es muss endlich begriffen werden, dass diesem Prozeß partikulare Interessen unterzuordnen sind. Die Situation ist zu zugespitzt, um sich den Luxus des Vor-sich-hin-Wurschtelns weiter leisten zu können. Die Verfassungsschutzbehörden haben das schon begriffen, gehen von der realen Gefahr der Erosion ihrer Ordnung aus, allerdings nicht durch die Wühlarbeit linker Maulwürfe. Die Macht verliert immer mehr an Zustimmung, das Corona Maßnahmen Korsett wird immer breiter abgelehnt, die politischen Parteien stehen als das da was sind sind, Sachverwalter des täglichen Elends, während die Inflation galoppiert und die Notenbanken nicht in der Lage sind, die Sache in den Griff zu bekommen. Failed State ist nicht mehr die Lagebeschreibung ferner Regionen wie Somalia, Libanon oder Haiti, sondern eine Realität, die sich vor aller Augen in einem der reichsten Länder der Welt manifestiert. Wir stehen vor historischen Veränderungen, entweder wir organisieren uns und sind in der Lage innerhalb der fragilen Verhältnisse zu intervenieren, oder wir werden ohnmächtige Zuschauer bleiben.

Fünfzig: “Zunächst jedoch sehen wir hier den ersten Fortschritt, den der Geist der Revolte auf das Denken ausübt, das anfänglich von der Absurdität und der scheinbaren Sterilität der Welt durchdrungen ist. In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell. Von der Bewegung der Revolte ausgehend, wird ihm bewusst, kollektiver Natur zu sein; es ist das Abenteuer aller. Der erste Fortschritt eines von der Befremdung befallenen Geistes ist demnach, zu erkennen, dass er die Befremdung mit allen Menschen teilt und dass die menschliche Realität in ihrer Ganzheit an dieser Distanz zu sich selbst und zur Welt leidet. Das Übel, welches ein Einzelner erlitt, wird zur kollektiven Pest.” So schreibt Albert Camus in “Der Mensch in der Revolte”. Angesichts der Welt, die es nicht mehr so geben wird, wie wir sie kennen, angesichts dieses unermesslichen Verlustes, angesichts des alles überwältigenden Schmerzes, der mit dieser Erkenntnis einhergeht, stellt sich die Frage aller Frage, die den Menschen von Beginn an umtreibt, noch einmal in einer ganz anderen Dimension. Wie angesichts all dessen noch sich selbst, dem Leben, einen Sinn geben? Sicherlich gelingt dies in der allgemeinen Atomisierung, in den Scheinrealitäten der Blasen, in den ersehnten safer spaces nicht einmal ansatzweise. Es gelingt vielleicht da, wo wir uns gemeinsam dem Todeskult, der alles mit sich reißt, entgegenstellen. Dass heisst, zu der Unvermeidlichkeit, sich zu organisieren, um überhaupt revoltieren zu können, kommt die Unvermeidlichkeit, zu revoltieren, um überhaupt unserem Leben angesichts der Absurdität, die grundsätzlicher als angesichts des Abschieds von der Welt wie wir sie kennen, nicht sein könnte, trotzdem einen Sinn abtrotzen. Unter Tränen werden wir um diese Erkenntnisse nicht umhin kommen. Aber vielleicht werden wir irgendwann begreifen, dass manche Dinge unvermeidlich waren, damit wir die werden, die wir in unseren Träumen immer sein wollten.

Einundfünfzig: „Ehe das Proletariat seine Siege auf Barrikaden und in Schlachtlinien erficht, kündet es die Ankunft seiner Herrschaft durch eine Reihe intellektueller Siege an.“ – Karl Marx. Es wird sich wieder verschworen. In jedem Winkel der Welt. Verschworen und diskutiert. Die Revolten und Aufstände der letzten Jahre, ihr Potential und ihre Begrenzungen. Dass es nicht reicht, Dior auf den Champs-Élysées zu plündern, im Swimmingpool des Präsidentenpalastes von Colombo zu baden, Quito lahmzulegen oder Bullenwachen in Minneapolis niederzubrennen. Das Primat der Praxis [P(A)=U-p] war unabdingbar, um die Ära der Aufstände nicht mehr zu behaupten, sondern zur Gegenwärtigkeit des Klassenkonfliktes zu materialisieren. Doch nun wird jede Welle, die gegen das Stauwerk des Empires anbrandet, von diesem zurückgeworfen und nivelliert die Amplituden der nächsten Wellenbewegungen, wenn es nicht gelingt, das erste Abwehrbollwerk zu überspringen.

Dafür braucht es eine neue aufständische Begrifflichkeit, die über das hinausgeht, was das bisherige theoretische Rüstzeug der Aufstände war. Eine Begrifflichkeit, die nun den Horizont der grundsätzlichen revolutionären Erhebung für alle aufreißt. Die erste Aufgabe wäre die Demythologisierung der Allmacht des Empires. Zu wesentliche Sektoren der Klasse sind noch in Angst gebunden an die Macht. Die sozialen Verwerfungen und die Vorstellung des Endes der Welt wie wir sie kennen haben das grundsätzliche konforme Bewusstsein erodiert, aber die Angst ist der brüchige Kitt, der das Trennscheibenpanzerglas noch im Rahmen hält, die Isolierung und Atomisierung aufrechterhält, die primären Bedingungen der Unterwerfung und Ohnmacht. Gegen Angst hilft nicht Mut, sondern ein Bewusstsein über die Bedingungen ihrer Entstehung, Aufrechterhaltung, sowie Begrenzung; und somit Überwindbarkeit.

Die erste Tat jedes Kolonialisten ist es zu täuschen. Über seine Absichten und Pläne. Die zweite ist es, Angst zu säen, um von seiner anfänglichen Unterlegenheit abzulenken, bis er genug Truppen und Kriegsmaterial um sich versammelt hat. Wobei fast immer Teile seiner Truppen aus Hilfstruppen der zu Unterwerfenden bestehen. Die dritte Tat ist es Krankheiten unter den zu Kolonialisierenden zu verbreiten. (Cortés marschierte mit nur 300 eigenen Mann ins Azteken Reich ein). Die Krankheit der Kolonialisierten der Postmoderne ist die Angst in all ihren Spielarten, einschließlich der Depression, die mittlerweile große Teile der Bevölkerung vor allem in den sogenannten entwickelten Ländern (aber nicht nur dort) befallen hat. (Ich führte schon in Part ll aus, dass z.B. jeder dritte US Amerikaner unter einer behandlungsbedürftigen Angststörung und/oder Depression leidet.)

Im Pandemie Ausnahmezustand konnte man erleben, wie das Empire auf der Klaviatur der Angst ganze Symphonien erklingen ließ und wie wirkungsvoll dies (allerdings nur für eine begrenzte Zeit) die Klassenkonfliktualität lähmte. Da diese Erfahrung eine globale war (und verständlicherweise in den sogenannten entwickelten Ländern ausgeprägter), ist es unvermeidlich, diese Erfahrung, die in sich den Terror der Schockstrategie (die dem Opfer die Möglichkeiten zum Gegenangriff ebenso wie zur Flucht raubt, ihn ergo in Schockstarre versetzt) trägt, grundlegender zu analysieren und zum Gegenstand der Neubestimmung revolutionärer Strategie zu machen. Unsere Gegner haben längst schon die Erfahrungen der massenhaften Internierungspraxis analysiert und mit den Rechenmodellen ihrer Preparedness Think Tanks abgeglichen und wir können davon ausgehen, dass ihr nächster Schlag noch besser vorbereitet sein wird. Für uns, für unsere Seite, gilt es nun, die grundlegendste Lektion jeder Kampfkunst anzuwenden: Die Energie des Angriffs des Gegner zu absorbieren und zu der unsrigen zu machen. Wir können aus den Erfahrungen des Pandemie Ausnahmezustandes genauso viel wie unser Gegner lernen, wir können sogar mehr über das Verhalten unseres Gegner lernen, als dieser über unseres, da es sein Manöver war, das ausgeführt wurde.

Die Demythologisierung der Allmacht des Empires als erster Schritt einer grundlegenden revolutionären Analyse gelingt also am besten und nur über den Weg der Untersuchung des Pandemie Ausnahmezustandes und seiner Mechanismen. Einer Auseinandersetzung mit der konkreten Machtentfaltung der letzten 2,5 Jahre. Alle, die diesen Weg scheuen (viele davon sind sogenannte Linke, die ihren eigenen Anteil an der repressiven Totalität vergessen machen wollen) bewegen sich zwangsläufig nicht auf dem Niveau der gegenwärtigen Klassenkonfliktualität. Das revolutionäre Narrativ über den Pandemie Ausnahmezustand unter die Leute zu bringen ist der erste Sieg der Reihe von intellektuellen Siegen, von denen Marx sprach. Im Zusammenhang mit den letzten zwei Jahren wurde von einer großen Verwirrung der Geister gesprochen. Aber es gibt eine Art von Verwirrung, die der Erkenntnis unmittelbar vorausgeht. Für denjenigen, der bereit ist zu sehen, werden die vergangenen zwei Jahre eine große Klarheit hervorgebracht haben. Für diejenigen, die bereit sind, aufzuräumen, ist das Feld offen.” – Konspirationistisches Manifest

Zweiundfünfzig: Da nun das Unvermeidliche getan wird oder auch nicht, es nur noch die Wahl zwischen dem Ende der Geschichte oder dem Schreiben von Geschichte gibt, kommen wir zu der Wahl unserer Waffen, die mit Bedacht gewählt werden müssen. Wenn der revolutionäre Horizont real aufscheint (und nicht in der Imagination gestriger linker Splittergrüppchen) wird jedes Gedicht, jede Überlieferung, jede Unterweisung, jedes Gespräch unter Freunden, jeder Kuss im Tränengas, jede Feuertonne an einem tristen Ort, jede hitzige Diskussion, jede Umarmung, jedes ehrliche Wort,… zu einem revolutionären Terrain. Ein Terrain, das wir definieren, und indem wir dieses Terrain definieren, entreißen wir dem Empire einen weiteren Ort, an dem es wüten kann, an dem es seine zerstörerische Verwertungslogik durchsetzen kann. Die wahre Kunst der Wahl der Waffen besteht also darin, dass wir diese Orte auswählen und definieren, dass wir uns dafür die Orte aussuchen, die am wenigsten mit der Verwertungslogik verbunden sind. Die Non Bewegungen haben uns viel gelehrt über die Auswahl dieser Orten, nicht zufällig entstanden sie häufig an Kreisverkehren, in armen Viertel, an den Rändern der Metropolen, in den indigenen Gebieten… Die zweite große Aufgabe ist also ein tiefgründiges Verständnis unserer eigenen Aufstände und Revolte zu entwickeln, zu verstehen, wie die Non Bewegungen und ihre Genese in einem uns bisher nicht bewussten Verhältnis zu den eigentlichen Orten stehen, jenen Orten, die vor allem durch Beziehungen definiert sind. Denn der Kern jeder eigentlichen Beziehung zwischen Menschen ist, solange nicht die Entfremdungsprozesse wirksam werden, jenseits jeder Verwertungslogik. Auch und besonders deshalb zielte der Pandemie Ausnahmezustand darauf ab, jegliche Beziehungen in einen fragilen Zustand zu versetzen, im Endergebnis als einen Gnadenakt der Macht, ein Privileg, das erteilt oder untersagt werden kann. “Arendt wies auf die Freundschaft als mögliche Grundlage für Politik in dunklen Zeiten hin. Ich denke, das ist ein guter Punkt, vorausgesetzt, wir erinnern uns daran, dass Freundschaft – d.h. die Tatsache, ein Anderssein in unserer Erfahrung des Existierens zu spüren – eine Art politisches Minimum ist, eine Schwelle, die das Individuum gegenüber der Gemeinschaft sowohl eint als auch trennt. Das heißt, vorausgesetzt, wir erinnern uns daran, dass es sich um nichts Geringeres als den Versuch handelt, überall eine Gesellschaft oder eine Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft zu bilden. Mit anderen Worten, angesichts der zunehmenden Entpolitisierung der Individuen, in der Freundschaft das radikale Prinzip einer erneuten Politisierung zu finden.” – Giorgio Agamben

Dreiundfünfzig: Sich treu bleiben. Den Verrat hassen. Offene Rechnungen begleichen. Lügen Lügen nennen. Feinde denunzieren. Wahrheiten lieben. Die Gefallenen und Gefangenen nicht vergessen. Nicht mitmachen. Zuzuhören. Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen. Sich dessen bewusst zu sein, was auf dem Spiel steht. Inmitten des Lärms und der Hektik der Unruhen Gelassenheit bewahren. Ungeduldig bleiben und trotzdem sich alle Zeit der Welt zu lassen. Alt und weise werden und alles trotzdem jeden Tag aufs Neue mit Kinderaugen zu betrachten. Geschenke verteilen. Kochen. Schreiben. Dichten. Kämpfen. Schlafen. Träumen. Von denen lernen, die an vorderster Front kämpfen, auch wenn sie nicht die passenden Worte finden. Geschichte studieren. Immer und immer wieder. Schwach sein. Müde sein. Trotzdem da zu sein, wenn man gebraucht wird. Übersetzen. Berichten. Reisen, um sich zu verschwören. “In die Herzen ein Feuer” – George Jackson

Vierundfünfzig: “Der Faschismus ist auf der italienischen und europäischen Bühne allgegenwärtig: in der Wiederkehr der nationalistischen Wut, in der Verherrlichung des Krieges als einzige Hygiene der Welt, in der arbeiter- und gewerkschaftsfeindlichen Gewalt, in der Verachtung von Kultur und Wissenschaft, in der demografisch-rassistischen Besessenheit, die Frauen davon überzeugen will, Kinder mit weißer Hautfarbe zu bekommen, um den großen ethnischen Austausch zu vermeiden und weil die Nation altert und zerfällt, wenn die Wiegen leer sind, wie es heißt. Dieser ganze Unsinn ist wieder da. Ist es Faschismus? Nicht ganz. Der Faschismus Mussolinis war ein futuristischer Faschismus, der die Jugend, die Eroberung und die Expansion verherrlichte. Doch hundert Jahre später ist die Expansion vorbei, an die Stelle des Eroberungsdrangs ist die Angst vor der Invasion fremder Einwanderer getreten. Und an die Stelle der glorreichen Zukunft tritt der fortschreitende Zerfall der Strukturen, die die Zivilisation ermöglicht haben. – ‘Die Sonne geht frei und fruchtbar auf, / du wirst keinen größeren Ruhm auf der Welt sehen als Rom’ – , so die nationalistische Rhetorik des vergangenen Jahrhunderts. Jetzt ist die Sonne unheimlich, weil die Flüsse austrocknen und die Wälder brennen. Was auf dem Vormarsch ist, ist der Geronto-Faschismus: der Faschismus des senilen Alters, der Faschismus als wütende Reaktion auf die Alterung der ‘weißen Rasse’.” – So schreibt Franco ‘Bifo’ Berardi in seinem Artikel ‘Geronto Faschismus’ (9) über den jüngsten Wahlerfolg der radikalen Rechten in Italien.

Ohne Zweifel gibt es derzeit zwei Optionen für das Empire im Endgame, die “Grüne Governance”, auf die ich schon ausführlicher eingegangen bin und die sich bis vor kurzem als die Zukünftigkeit abzeichnete, und die faschistische Option (in welcher modifizierten Form auch immer). In der Permanenz des Ausnahmezustandes, in die wir eingetreten sind, die rasche Abfolge der Krisen, die aufeinander folgen, entsteht aber offensichtlich auch eine permanente Fragilität der Macht selber, die so viele inkonstante Momente in sich trägt, dass alles möglich scheint, auch eine grundsätzliche Renaissance eines Faschismus, der keine Zukünftigkeit in sich trägt. Angesichts der realen faschistischen Machtoption stehen die revolutionären Kräfte vor dem gleichen Dilemma, das auch schon in dem Krieg in der Ukraine, der auch und nicht unwesentlich ein innerimperialistischer Krieg ist, deutlich geworden ist: Es gibt einen relevanten Zeitfaktor, der angesichts der Situation, in der sich unsere Kräfte befinden, alles in Frage stellt, was wir bisher erreicht haben und alles was nun endlich wieder geschichtlich möglich scheint. Das muss einfließen in das was weltweit derzeit im revolutionären Lager diskutiert wird, ich werde darauf im nächsten, vierten Teil des Post Covid Riot Prime Manifest (Roter Oktober) noch ausführlicher eingehen, wollte diesen Punkt aber schon einmal aufgrund der aktuellen Entwicklung kurz anschneiden.

Fünfundfünfzig: “Der Leviathan ernährt sich von der Energie der Lebenden. Je mehr sich seine Verzahnung quantitativ und qualitativ ausweitet, desto mehr kolonisiert er direkt die Körper. Aber da die Körper mit der größten Energie diejenigen sind, die an etwas glauben – ein Aspekt, den die Technokraten des Westens ignorieren, die davon überzeugt sind, dass ihre Laboratorien, wenn sie Gene rekombinieren oder synthetische Steaks produzieren können, auch Seelen herstellen können -, sind die aufstrebenden Mächte diejenigen, die sowohl die koloniale Gewalt als auch die gegenteilige Kraft der antikolonialen Revolutionen in ihrem Getriebe haben: Zwangsarbeit und kollektive Identifikation.” (10) Das große Meta-Welt-Projekt von Zuckerberg läuft gerade voll gegen die Wand. Der Wert seines Imperiums hat sich innerhalb eines Jahres von 1 Billion Dollar auf 360 Milliarden reduziert, jeden Tag verliert der Konzern derzeit an der Börse 1,5 Milliarden Dollar an Notierung. Alle Zukünftigkeiten sind im Kern nur denkbar durch die Projektionen der postmodernen Kolonialisierten, oder anders ausgedrückt, ohne die Proklamation der modernen Sklaven steht alles am Abgrund, zur Disposition. Die gleiche Erfahrung muss auch die chinesische Staatsführung machen, die ihr Schicksal derzeit an ihre Zero Covid Politik geknüpft hat und deshalb Mühe hat trotz eines unglaublich perfektionierten Überwachungsapparates die aufkommenden Unruhen im Griff zu behalten und gleichzeitig hohe Einbrüche bei den Wachstumsraten zu verkraften hat, was ebenfalls zu wesentlichen Teilen der Zero Covid Politik geschuldet ist. Was aus dem chinesischen Gesellschaftsmodell ohne ausbleibendes Wirtschaftswachstum wird, lässt sich unschwer erahnen. Die Rückkehr zu einem nordkoreanischen Modell ist jedenfalls nicht mehr möglich.

So oder so, wo man auch hinblickt, alle derzeitigen Modelle der Macht gelangen an ihre Grenzen. Alles, was den Laden noch am Laufen hält, ist die Passivität, die Hinnahme der Beherrschten, die scheinbare Alternativlosigkeit. Eine Welt, die dem Untergang geweiht ist, in der es keine Visionen mehr zu verkaufen gibt, die glaubhaft sind, eine kalte, nacke Wüste. Eine Wüste, die immer sichtbarer wird, eine Welt, die nach Rebellion schreit. Das ist die Situation, die wir vorfinden. Eine Welt wie gemacht für Revolutionäre…

Sechsundfünfzig: Mutter, wenn der Satan Gott um Vergebung bitten würde, denkst du er würde das tun? – Snabba Cash (Schnelles Geld). Tag für Tag die Gefallenen beerdigen, Mütter und Väter, die ihre noch so jungen Töchter und Söhne beweinen, Tausende an den Gräbern, die immer neu ausgehoben werden müssen. Nacht für Nacht brennende Barrikaden, Molotows auf die Einrichtungen der Repressionskräfte, jeden Morgen die immer gleichen bangen Fragen, wo sind die Gefährten? In die Hände der Feinde gefallen, aus Angst Zuhause geblieben, vor Erschöpfung verschlafen, verschleppt, festgenommen, in Gefängnissen, auf den Polizeirevieren, an unbekannten Orte? Wer wird morgen, übermorgen oder in einer Woche, einem Monat, wieder in ihren Reihen auftauchen, verkratzt, verschrammt, krank an Körper und Seele, immer noch diese Wundmale, über die man nicht reden kann, weil es dafür eigentlich keine Wörter gibt. Weitermachen, nicht aufgeben, schon so weit gegangen zu sein. Siegen müssen, um allem einen Sinn zu verleihen. Vor sich selbst all die Toten verteidigen zu können. Scheitern ist der Tod. Der sichere Tod. Also wieder sammeln, Umarmungen, tiefe Blicke aus müden Augen, yalla. Irgendwo verkündet der amerikanische Präsident, dass man siegen werde. Verbessert sich schnell, aber genau das ist damit gemeint.

Erinnerungen an Homs, einen anderen Aufstand, an Aleppo, wo sich alles zum Glücke zu schicken schien, das dann aber ein Ort des ewigen Schreckens wurde. Fassbomben, Tag für Tag, russische Luftaufklärung, erst die Hospitäler, dann die improvisierten Behandlungszentren, Ärzte, Schwestern, Verwundete, Kranke, das primäre operative Angriffsziel. Ein Aufstand, der tausend Mal verraten wurde, in den jede Welt- und Regionalmacht ihre Hilfstruppen entsandte, ein Aufstand, der von den Linken der Welt denunziert und im Stich gelassen wurde, weil alles was sich jenseits der eigenen begrenzten Begrifflichkeit organisiert, suspekt erscheint. So lange verraten und verkauft, bis die Islamisten leichte Beute machen konnten. Nun also billige Solidaritätsadressen von Vollidioten in irgendwelchen Unterhaltungsshows, irgendwo zwischen Werbeblocks und der nächsten aufgeblasenen seichten Nummer. Wo in der Metropole alles leer und sinnlos ist, wird sich Identität angeeignet, der Kolonialismus hat nie geendet.

Nun also müssen die iranischen Gefährten und Gefährtinnen siegen. Aber wie soll das gehen. Wenn es doch gehen muss. Und selbst wenn, wenn der Gegner schwächelt, seine Fußtruppen anfangen zu desertieren, Soldaten sich weigern, auf ihre Familien, ihre Nachbarn, auf unbewaffnete Mädchen und Jungen zu schießen, wenn es anfängt, dass die Geldmittel außer Landes geschafft werden, wenn die Auslandsflüge ausgebucht sind, wenn der berühmte Kipppunkt am Horizont erscheint, wenn all das möglich wird. Nach wievielen Wochen, Monaten, nach wie vielen Toten, Verschwundenen? Wenn also all das möglich wird, wovon eine ganze Generation träumt, es den klerikalen Faschisten endlich heimzuzahlen, Rache nehmen zu können, sie aus dem Land jagen zu können… “Wir” werden siegen, hat der amerikanische Präsident gesagt. Er meint das genau so. Wenn die iranische Führung fällt, reißt sie den Irak, den Libanon, eine halbe Region mit sich. Eine Instabilität, die derzeit niemand der globalen Player will, das Terrain der Hegemonialität wird gerade woanders ausgefochten. Also wie kann er aussehen, der Sieg, oder wird er ein Pyrrhussieg sein, ein paar Karten neu gemischt, alle erinnern sich an das Schicksal der Aufstände, der Revolutionen, die 2011 ff die arabische Region, den Maghreb, Teile Afrikas erschütterten und die Trostlosigkeit, die sich nur wenig später auf die Seelen der stolzen, scheinbaren Sieger legte. Einige der syrischen Revolutionäre sagen, ihre Revolution sei nicht wirklich besiegt worden, der Aufstand habe etwas zwischen den Menschen verändert, etwas grundsätzliches Neues geschaffen, etwas, das irreversibel sei. Vielleicht haben sie Recht, vielleicht müssen wir alle uns unter “der Revolution” etwas ganz anderes, etwas vorstellen, das unsere bisherigen Vorstellungswelten sprengt. Es wird im Iran kein Zurück zu 1979 geben, keine Monarchie, kein reformiertes klerikales Projekt, keine westliche Moderne, nichts, was es schon gab, was jetzt schon existiert. Vielleicht sollten wir darauf vertrauen, dass die Revolution sich immer wieder neu erfindet, erfinden muss, weil die geschichtlichen Gegebenheiten sich ändern. Dass nur die Revolutionäre im Gestern leben, oder besser gesagt jene, die für sich am lautstärktsten behaupten, die Revolution zu repräsentieren. Und was nur sicher bleibt, ist, dass wir sie nicht davonkommen lassen. Egal was sie von sich behaupten, womit sie uns glauben machen wollen, sie seien nicht mehr unsere Feinde, seien es nie gewesen. Vielleicht können die Götter vergeben, wir haben eine ganze Welt zu betrauern, eine ganze Welt, die sie uns geraubt haben, eine Welt, die nicht zu ersetzen ist. Wir sind Teil des Kampfes der iranischen Gefährten und Gefährtinnen. Entweder wir sind das, oder wir sind keine Menschen, die kämpfen. In den Straßen von Teheran, Sanandaj und Khash wird auch unsere Zukunft verhandelt. Wir stehen tief in der Schuld der iranischen Aufständischen, weil sie so viel opfern für uns alle, für unsere strategische Option, die Todfeinde der Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, weil in diesem historischen Momentum alle Aufstände objektiv ineinandergreifen, weil wir mehr voneinander wissen, als wir denken, weil unsere Leben, unsere Schicksale voneinander abhängen, in dieser globalen Monsterwelt, die sie, unsere Todfeinde, geschaffen haben.

Siebenundfünfzig: “Unsere Gewalt ist politisch, sie ist dazu da, die Welt an unsere Fähigkeit zu erinnern, uns zu verteidigen und anzugreifen, wenn der Hunger auf uns lauert, wenn unsere Kinder auf einen leeren Kühlschrank starren, wenn unsere Rechte mit Füßen getreten werden, wenn uns unser unveräußerliches Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit verweigert wird.

In den letzten Jahren haben wir sie mit einem besonderen Sinn für Strategie eingesetzt. Cortège de tête, schwarzer Block, Straßenblockaden, Autoreduktion, Gratis-Mausaktionen, Sabotage von Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen, wilde Streiks, Blockaden von Raffinerien und Logistikplattformen, Besetzungen von Universitäten und Einkaufszentren, von Kreisverkehren und landwirtschaftlichen Flächen: Wir schmieden unser Arsenal im Kampf; wir lernen, mit unseren Waffen und kollektiven Werkzeugen im Kampf umzugehen.” – Les Gilets Jaunes Invisibles (11 ) Alle Konfrontationslinien laufen im Moment aufeinander zu, die ökologischen Bewegungen, die Bewegungen der Vororte und des Surplus Proletariats, die Bewegungen der Queers und Frauen, die Bewegungen der rassistisch Unterdrückten, die Bewegungen der Migration, die Kämpfe der noch organisierten proletarischen Kernbelegschaften, die Revolten des Trikonts. Treffen auf diesem Terrain aufeinander, wo die Integrationsmechanismen, die woke Diversität enden und die nackte Gewalt der Kommandos herrscht. An diesem Ort entsteht der neue grundsätzliche gesellschaftliche Antagonismus, sucht und findet die Auseinandersetzung mit der bewaffneten Verteidigungslinie der dem Untergang geweihten Welt. Was noch allgemein begriffen werden muß, ist der Weg wie diese Bündnisse auf Dauer geschmiedet werden können, wie eine gemeinsame Sprache und Begrifflichkeit von der Gegenwärtigkeit sich angeeignet werden kann, aus der eine grundsätzliche revolutionäre Bewegung entsteht, die real Gegenmacht generiert. Sich in der Widersprüchlichkeit der Bedürfnisse der unterschiedlichen Akteure wiederentdeckt, die Bereicherung begreift, die diese Widersprüchlichkeit in sich trägt. Die Antiglobalisierungsbewegung scheiterte an der Unreife der Zeit, der Schatz ihrer Erfahrungen in Bezug auf Heterogenität, Vielfalt an Taktiken, Flexibilität, der grundsätzliche Offensivität, muss geborgen, neu entdeckt und neu interpretiert werden. Und so wie es keinen Sturm auf das Winterpalais mehr gibt, gibt es keine roten Zonen mehr zu erobern. Wir sind schon weit jenseits davon. Aufgabe nun ist es, Vorstellungen davon zu entwickeln, was für eine Konsistenz befreite Zonen anzunehmen haben, was unter diesen Orten überhaupt zu verstehen sei. Auf jeden Fall gilt es zu begreifen, dass diese Orte primär Orte des Bewusstseins und der Beziehungen sind, räumlich gesehen flüchtige Aggregatzustände, die sofort aufgegeben werden, wenn sich das Kräfteverhältnis konkret zu unseren Ungunsten ändert, um weiter zu ziehen, die Gegenwärtigkeit der Revolutionäre ist die der Existenz von Nomaden, die von Konflikt zu Konflikt ziehen, für den (noch) überlegenen Gegner nicht zu greifen sind, für ihn unsichtbare Fäden, Depots, Versprechen, Bündnisse, Verschwörungen, Freundschaften hinterlassend, die auf die Reife der Zeit warten. Auf den Tag, an dem wir es wagen können, aus dem Schatten zu treten, ohne von ihrer Vernichtungsmaschinerie zermalmt zu werden. Dann wird alles neu geschrieben werden. Aber niemand kann uns garantieren, ob wir siegreich sein werden. Aber wir haben erstmals seit einem Jahrhundert wieder die Chance, den grundsätzlichen Umsturz in Angriff zu nehmen.

Achtundfünfzig: „Ich hatte mit aller Macht meines schnell zirkulierenden Blutes gespürt, dass mein Tod diesen Baum nicht seiner strahlenden Schönheit berauben würde, dass er die Welt nur meines Blickes berauben würde.“ – Jorge Semprún, Was für eine schöner Sonntag. Die faschistische Machtoption ist nicht wieder da, sie war niemals verschwunden, die OAS, Gladio, das griechische Obristenregime, der faschistische türkische Militärputsch von 1980, die Mobilisierung der “60 Millionen gegen sechs Terroristen”, die offene Drohung mit der extralegalen Tötung der Gefangenen aus der Raf 1977 in der BRD, De Gaulles Drohung mit dem Ausnahmezustand und einer Militärregierung, der Marsch der hunderttausenden von “anständigen Franzosen” am 30. Mai 1968 in Paris, die faschistische Option war immer eine konterrevolutionäre und gegenwärtig, nicht nur in Lateinamerika in Form der diversen faschistischen Putsche von CIAs Gnaden. Das Narrativ von dem ‘Ende der Geschichte’ ging einher mit dem Narrativ ‘der Zivilgesellschaft’, gesellschaftliche Opposition als Partizipation, im Schulterschluss mit der Macht Antifaschismus als Staatsdoktrin, nun ist das Geheule groß wenn Geheimdienste und Bullenapparat einfach das weiterbetreiben, was sie seit Jahrzehnten tun, im Hinterzimmer der Macht gemeinsame Sache mit den Faschisten zu machen.

Trotzdem konstituieren natürlich die Wahlerfolge der rechtsextremen Parteien, ihr zunehmender Einfluss in breiten Teilen der Bevölkerung in den letzten Jahren auch die Bedingungen für die aufständischen Bewegungen. Nicht immer wird es so einfach sein wie in Frankreich, wo die Faschos einfach aus der Bewegung der Gilets Jaunes rausgeboxt wurden. Wir können in Deutschland sehen, dass das Agreement von den allergrößten Teilen der (radikalen) Linken mit dem totalitären Staat im Pandemie Ausnahmezustand es den Faschisten ermöglichte zwei Jahre lang erfolgreich Basisarbeit auf der Straße zu betreiben, wir sehen, dass die Linken nicht in der Lage sind, nur ansatzweise Menschen für einen ‘heißen Herbst’ auf die Straße zu bringen, die Faschos aber genau da anknüpfen können, wo sie bei den Protesten gegen die totalitären Corona Maßnahmen aufgehört haben.

Aber die Fragestellung nach einer faschistischen Renaissance ist grundsätzlicher und nicht auf Westeuropa begrenzt. Im Kern ist die entscheidende Fragestellung, ob den faschistischen Gruppen und Parteien eine Mobilisierung jenseits der Wahlurnen gelingt oder nicht. Ihr Projekt ist ausschließlich eines der Ressentiments, sie haben keine Vorstellungen über die konkrete Organisierung des Empires im Endgame anzubieten. Als werdender Teil des Machtapparates sind sie gebunden an die Zwänge der Aufrechterhaltung der Verwertungsbedingungen, aus der Nummer kommen sie nicht raus. Aber es bleiben zwei wesentliche Aspekte zu bedenken: Erstens können sie auf der Straße eine ernstzunehmende Gefahr für uns darstellen und Teile des potentiell zur Rebellion bereiten Proletariats ideologisch an sich binden und zweitens birgt die Instabilität die mit der Zuspitzung der Verwaltung der allgegenwärtigen, permanenten Krise einhergeht, immer in sich die Gefahr für Eigendynamiken, die auch einen ‘Faschismus der Verzweiflung’ als letzten Ausweg des Empires möglich machen können.

Neunundfünfzig: “Die Wüste ist der spezifische Ort der Krisis; in der ursprünglichen Bedeutung dieses altgriechischen Wortes, das uns immer noch verfolgt: Wahl und Entscheidung. Meint Ihr nicht auch, meine Freunde, dass wir heute alle an genau diesen Ort ‘getrieben’ werden? Ist der unausweichliche Moment der Entscheidung nicht vielleicht für uns alle gekommen? Und seid ihr nicht auch der Meinung, dass dies eine Entscheidung ist, die wir gemeinsam treffen sollten, ausgehend von uns selbst, und nicht jeder für sich selbst, ohne Rücksicht auf die anderen?” – Marcello Tarì; Brief an die Freunde der Wüste (12) Ohne Zweifel, die Welt ist nur noch als Wüste zu begreifen, zu erfassen. Was aber nun? Der Vorschlag wäre, einfach davon auszugehen. Die Unvermeidlichkeit zu akzeptieren. Nicht, dass es nicht schmerzen würde, unendlich schmerzen. Nicht, dass es auszuhalten ist. Es ist nicht auszuhalten. Es irgendeinen Trost geben würde. Es gibt keinen. Innerhalb von etwas mehr als 500 Jahren hat der westliche Todeskult eine globale Wüste errichtet.

Und nun will er dass wir endgültig verzweifeln, wahnsinnig werden, alleine in der Wüste, ohne Orientierung, ohne Hoffnung. Wir sollen weiter auf die Anweisungen aus den Lautsprechern achten und ihnen folgen, nur das würde uns das nackte Überleben ermöglichen. Wir sollen Masken tragen, wenn es angeordnet wird und nicht wenn wir es für sinnvoll halten. Wir sollen andere Menschen meiden, wenn es angeordnet wird, wir sollen unsere Kinder im Nachbarzimmer nicht trösten, wenn sie weinen, weil sie hochinfektiös sind, wir sollen alle ständig unsere QR Codes mit uns tragen, um Räume betreten zu dürfen oder auch nicht. Wir sollen uns darauf einstellen, dass das alles nicht aufhören wird, die nächste Seuche wartet um die Ecke und nur die Hüter wissen, was zu tun ist, wenn es soweit ist. Wir sollen dankbar sein für die Ablenkungsmaschinerie die man uns großzügig für ein geringes Entgelt zur Verfügung stellt. Wir sollen alle Denunzianten werden, wer missachtet die allgemeinen Gebote, die zu unser aller Sicherheit ausgesprochen werden. Wir sollen laut quiecken und mit den Fingern auf jeden zeigen, der sich der allgemeinen Fürsorge entzieht. Wir sollen unser Vaterland wieder lieben und ehren und bereit sein für seine Werte zu sterben, an Tagen wie diesen. Wir sollen freudig frieren und uns an den Parklets erfreuen, die in den verkehrsberuhigten Zonen aufgestellt wurden. Wir sollen vergessen wer wir sind weil eine eigene Identität nur Aneignung bedeutet. Wir sollen unser Leben als Gefangener lieben und unsere Hüter wertschätzen. Ohne Zweifel haben wir nicht einmal diese Wüste verdient. So wie man Kinderseelen mit schwarzer Pädagogik bricht, bis sie alle ihre Träume begraben in einem Meer aus Tränen, so sollen wir uns endlich einrichten in dieser Wüste, die sie geschaffen haben.

Aber was nun, wenn Marcello Tarì Recht hat. Wenn es nur darauf ankommt, wie wir uns entschieden, welche Wahl wir treffen, an diesem Ort, an dem wir uns wiederfinden, unabhängig davon, was unser Anteil daran ist, ob es vielleicht sogar unvermeidlich war, dass wir uns in dieser Situation wiederfinden. Ich sagte es schon an anderer Stelle, ich glaube, wir sind geschichtlich gesehen das erste Mal seit über 100 Jahren frei, vielleicht sogar freier als vor 100 Jahren. Frei darin, unsere Wahl zu treffen. Die Welt ist eine Wüste geworden, aber die Wüste bietet auch Chancen. Die militärisch weit unterlegenen Beduinen begannen ihre Aufstand gegen das Osmanische Reich in der Wüste mit Taktiken der Guerilla, sie überfielen entlegene Militärposten, sabotierten die Wasserversorgung und die strategisch bedeutsame Eisenbahnverbindung zwischen Damaskus und Medina, bevor sie Akaba einzunehmen in der Lage waren. Die Wüste ist der Ort, wo wir alleine und isoliert verzweifeln, oder der Ort, wo wir anfangen, unsere Kräfte zu organisieren, weitab von den Basen und Aufklärungseinheiten unserer Gegner.

Sechzig:Well, I was there and I saw what you did – I saw it with my own two eyes – So you can wipe off that grin, I know where you’ve been – It’s all been a pack of lies.” Wir leben in turbulenten Zeiten. Haben wir uns alle nicht insgeheim danach gesehnt? Endlich nicht mehr das nächste sinnlose Treffen, die nächste symbolische Aktion. Die nächste bedeutungslose Ablenkung. Die nächste oberflächliche Begegnung. Die falschen Freunde, die unaufrichtigen Genossen, die hohlen Parolen. Endlich all das hinter sich lassen, in the desert you can’t remember your name, wir hören von Anderen, die aufrichtig suchen, die einen Bruch wollen, die etwas erleben wollen, woran sich zu erinnern lohnt. Wir sind hier nur wenige, aber wir sind nicht alleine. Jeden Tag verlieren weltweit Hunderttausende ihre Existenzgrundlagen, werden ihre Lebensräume zerstört. Es gibt ein allgemeines Bewusstsein von dem Ende der Welt, wie wir sie kennen, es gibt ein allgemeines Bewusstsein davon, wer dafür verantwortlich ist. Es wird nicht aufhören, bis wir es beenden. Die Verantwortung dafür kann uns niemand abnehmen. Wir treffen die Entscheidungen in diesen schwierigen Stunden, wir haben eine Wahl. Es gibt keinen Luxus für alle. Es gibt keinen Ferienlagerkommunismus. Wer Luxus will, muss korrupt werden oder Gucci leerräumen. Wer Kommunismus will, oder wie immer man das nennen will, was uns die Bestie vom Halse schafft, muss seine Bequemlichkeiten ablegen. Vor allem seine bequemen Denkmuster. Überall auf der Welt revoltieren die Menschen, wohl keine dieser Revolten hat mit Tribunalen über die Berechtigung zur Teilnahme an den Aufständen begonnen. Redet mit den Jugendlichen, die zu Halloween Randale machen, hört den Leuten zu, die von fast 3 Jahren Ausnahmezustand die Schnauze voll haben, organisiert euch endlich mit euren Arbeitskollegen und Nachbarn und hört auf ständig zu Versammlungen und Demonstrationen aufzurufen zu denen nur ihr selber kommt, aber eben nicht eure Nachbarn und Kollegen. Wir müssen uns diese Gestalten und ihre todbringende Verwertungsmaschinerie vom Hals schaffen. Mit allen Mitteln. Die Reife der Zeit ist gekommen. „Nichts ist so geeignet, unser Denken nach allen Richtungen mit einem Schlage von den beengenden Fesseln der Schablonen zu befreien, wie eine revolutionäre Periode.“ – Rosa Luxemburg

Das ‘Post Covid Riot Prime Manifest’ ist eine Trilogie, die ursprünglich in 12 Teilen auf ‘non copyriot’ veröffentlicht wurde. Der erste Teil der Trilogie findet sich hier, der zweite Teil der Trilogie hier. Sunzi Bingfa

Post Covid Riot Prime Manifest Trilogie von Doc McCoy 2021 – 2022 Komplett als PDF:

Online lesen (PDF): postcovidtrilogie

Print-Version (PDF): postcovidtrilogie-print

Fußnoten

  1. Manifest der Jugend. Im Juni 2022 in Frankreich veröffentlicht (https://tousdehors.net/Avoir-vingt-ans-en-2022), die deutsche Übersetzung auf Sunzi Bingfa https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2022/07/02/manifest-der-jugend-frankreich-2022/
    1. Sandesh Prasad: Sri Lanka – Rückblick auf einen Aufstand. In französisch auf Tous Dehors (https://tousdehors.net/Retour-sur-un-ete-d-insurrection-au-Sri-Lanka) , deutsch auf Sunzi Bingfa https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2022/09/19/sri-lanka-rueckblick-auf-einen-aufstand/#more-2525
    2. Doc McCoy: Post Covid Riot Prime Manifest – Next Level. Unter anderem auf Untergrund Blättle https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/politik/theorie/post-covid-riot-prime-manifest-7068.html
    3. Es existiert im deutschsprachigen Raum praktisch keine materialistische Analyse auf der Höhe der Zeit, einer der ganz wenigen verbliebenen revolutionären Marxisten, Achim Szepanski, hat aber kürzlich “Energiepreise und Spekulation” veröffentlicht.https://non.copyriot.com/energiepreise-und-spekulation/
    4. Leider gibt es die alte website mit den Texten des Unsichtbaren Komitees und Tiqqun in verschiedenen Sprachen nicht mehr, der “Kommende Aufstand” findet sich aber als pdf noch hier http://www.trend.infopartisan.net/trd1210/insurrection.pdf
    5. Siehe dazu “Von der Scherbentheorie zu einem bewussten Nihilismus” von “Les Camarades Imaginaires” , entweder gespiegelter linksunten post https://linksunten.indymedia.org/node/70629/index.html oder der Text als pdf hier http://lesci.blogsport.eu/files/2012/11/b_nihil.pdf
    6. DÉCOLONISER LES IMAGINAIRES DE LA RÉVOLTE von Rakia Mako in Lundi Matin #352 https://lundi.am/Decoloniser-les-imaginaires-de-la-revolte , auf deutsch “Die Vorstellungswelten der Revolte dekolonialisieren” in Sunzi Bingfa #41
    7. Idris Robinson: Postskriptum: Über den Schmerz https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2022/06/26/postskriptum-ueber-den-schmerz/#more-2402
    8. Franco ‘Bifo’ Berardi: Geronto Faschismus; auf deutsch in der Sunzi Bingfa #41 https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2022/10/17/geronto-faschismus/
    9. Der Turm und die Kellergewölbe’ aus ‘Il Rovescio’, deutsch in der Sunzi Bingfa #35 https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2022/04/04/der-turm-und-die-kellergewoelbe/
    10. N’ayons pas peur des ruines; Paris Luttes Infos 16 octobre 2022 https://paris-luttes.info/n-ayons-pas-peur-des-ruines-16180?lang=fr, auf deutsch “Wir haben keine Angst vor Ruinen” in der Sunzi Bingfa #42

    1. Auf deutsch in der Sunzi Bingfa #35 https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2022/04/04/brief-an-die-freunde-der-wueste/