Rostock Lichtenhagen – Die Tage die alles veränderten

Am 22. August 1992 begann das Pogrom von Rostock Lichtenhagen, das vier Tage dauerte und auf dessen Höhepunkt nur durch Zufälle einer Gruppe von einhundert Menschen, die meisten von ihnen ehemaligen DDR Vertragsarbeitern aus Vietnam, die Flucht aus einem brennenden Hochhaus gelang.

  • Bereits am 23.8. waren etliche organisierte Nazis, darunter viele Führungskader, aus Westdeutschland in Rostock eingetroffen und beteiligten sich an den Angriffen auf die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST). Aber auch antifaschistische Zusammenhängen waren vor allem aus Berlin und Hamburg angereist um die zahlenmäßig überschaubaren antifaschistischen Rostocker Gruppen zu unterstützen. Am späten Abend gelang es einer größeren Gruppe von Antifas aus der Rostocker Innenstadt fast bis zum Ort des Pogroms vorzustoßen, sie wurde dann aber von den Bullen gestoppt, wobei mehrere Dutzend Antifaschisten festgenommen wurden.

Nachdem die Bewohner der ZAST am 24.8. evakuiert worden war, richteten sich die Angriffe von mehreren tausend Menschen gegen das daneben liegende Wohnheim für die vietnamesischen Vertragsarbeiter. Die Bullen unternahmen wenig, ihre eh sehr überschaubaren Kräfte wurden teilweise weit entfernt vom Brennpunkt der Krawalle eingesetzt. Am 24.8. waren mittlerweile einige hundert Leute vor allem aus Hamburg und Berlin eingetroffen, darunter viele Genoss*innen mit Erfahrungen aus militanten Auseinandersetzungen. Es gelang jedoch den ganzen Abend über nicht, zu einer einem gemeinsamen Handeln zu kommen. Im zentralen Treffpunkt, im Jugendzentrum in der Rostocker Innenstadt, gingen Gruppen rein und andere wieder raus, ständig tagten Plenas, die aber nur wenige Zusammenhänge repräsentierten, die Rostocker waren völlig übermüdet und überfordert, ständig tauchten neue Gerüchte auf, teilweise auch völlig unzutreffende wie das die Nazis vorhätten das Jugendzentrum in der Rostocker Innenstadt anzugreifen, was viele, im Zusammenhang mit fehlenden Ortskenntnissen, dazu brachte, nicht nach Lichtenhagen aufzubrechen. So fuhren immer wieder nur kleine Konvois nach Lichtenhagen, waren aber angesichts von tausenden von Rassisten und Nazis nicht handlungsfähig. Zusammenfassend muss man konstatieren, dass es an diesem Abend bei besserer Koordination vielleicht möglich gewesen wäre, bis zu dem später in Brand gesetzten Wohnheim vorzustoßen. Die Entschlossenheit, dies trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit zu wagen, war bei vielen Genoss*innen vorhanden. So aber kam es nur zu einer symbolischen bundesweiten Demonstration am Wochenende nach dem Pogrom, um die es auch noch viele Konflikte gab, weil die vorbereitenden Gruppen in erster Linie daran interessiert waren, eine “autonome Strafexpedition” in Rostock Lichtenhagen zu verhindern. Der Vorbereitungskreis ging soweit, intern anzukündigen, dass man militante Aktionen in Lichtenhagen mit Gewalt unterbinden würde.

Die Tage von Rostock sorgten im Ausland dafür, dass die Fratze des “hässlichen Deutschen” wieder überdeutlich wahrgenommen wurde, ein Bild, das später unter anderen mit den medial inszenierten “Lichterketten”, bei denen Hunderttausende das “bessere Deutschland” repräsentieren sollten, wieder versucht wurde zu korrigieren. Es folgten die Mordanschläge von Mölln und Solingen, die weitgehende Abschaffung des Asylrechts, und eine linksradikale Grundsatzdebatte über das Verhältnis zum mörderischen deutschen Sonderweg.

Wir erinnern am Jahrestag des Beginns des Pogroms von Rostock Lichtenhagen mit einem Buchauszug aus “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” von Sebastian Lotzer, in dem seine subjektiven Erinnerungen an das Geschehen aufgeschrieben hat , sowie der fünf Jahre nach dem Pogrom entstandene “Blick zurück im Zorn” aus dem Antifa Infoblatt (AIB). Außerdem mit dem 2012 stattgefundenen Gespräch “Es waren nicht die bleiernen Jahre” mit mehreren Leuten aus Berlin und Rostock, die 1992 vor Ort waren (ebenfalls Antifa Infoblatt), sowie der grundsätzlichen Diskussion “Von der aufgezwungenen Selbstverteidigung zur Gegenmacht” aus dem “Telegraph”, ein Gespräch, dass sich auch im empfehlenswerten Buch “30 Jahre Antifa in Ostdeutschland” wiederfindet. Sunzi Bingfa

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