Riot Turtle
Die ersten drei Teile (1,2,3) unserer Serie “Häuserkampf in den Niederlanden” beschäftigten sich mit dem Kampf um Wohnraum in Amsterdam. Doch Ende 1980 spitzte sich ein Konflikt um ein Parkhaus in Nimwegen zu. Dort wurden 14 Häuser besetzt, die die Stadt für ein Parkhaus abreißen wollte. Nutzbarer Wohnraum in einer Stadt mit einem großem Mangel an Wohnraum. Erneut wurde die Armee eingesetzt. Für diesen Artikel haben wir auch die Untertitel für den Film ‚Pierson Unknown‘ (47 Minuten) übersetzt. Ihr findet den Film unter diesem Artikel. Sunzi Bingfa
Nachdem ich als 15-jähriger Jugendlicher die “Krönungsrevolte” am 30. April 1980 erlebt hatte, war ich regelmäßig in besetzten Häusern in Arnheim zu Gast. Arnheim lag in der Nähe der 600 Seelen Dorfes, in dem das Kinderheim war, indem ich untergebracht war. Nimwegen war auch nicht weit weg.
Die Pläne, ein weiteres Parkhaus in Nimwegen zu bauen, gab es schon seit 1969. Es gibt also aber Unverständnis in der Bevölkerung, weil die schon bestehenden Parkhäuser oft leer stehen und bezahlbarer Wohnraum für das neue Parkhaus abgerissen werden soll. Trotz einer großer Wohnungsnot mussten die ursprünglichen Bewohner von 14 Häusern in der Piersonstraat im Sommer 1980 ihre Häuser verlassen. Die Nimwegener Hausbesetzerbewegung beschloss sich für die Bewohner der Pierson Straße einzusetzen und die Bewohner nehmen diese Unterstützung an. Sobald einer der ursprünglichen Bewohner sein Haus verlassen muss, zieht ein Hausbesetzer ein, bis alle vierzehn Häuser besetzt sind. Das Einhoorn-Lagerhaus, gleich um die Ecke, wird ebenfalls besetzt.
Die Stadtverwaltung ist mittlerweile sichtlich unzufrieden mit ihrer eigenen Entscheidung und die Diskussion um das Parkhaus wird im Januar neu aufgerollt. Vergeblich, der Stadtrat erwies sich als unfähig, den umstrittenen Plan auch nur vorläufig auszusetzen.
Die Stadt Nimwegen eröffnet ein gerichtliches Verfahren gegen die Hausbesetzer. In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 1981 werden dann Barrikaden errichtet. Das Gebiet wird in „Vrijstaat de Eenhoorn“ (Freistaat-Einhorn) umbenannt, nach der leerstehenden Eenhoorn Lagerhalle, die ebenfalls für das Parkhaus weichen soll. Die Aktion läuft ähnlich ab wie ein Jahr zuvor in der Vondelstraße in Amsterdam. Eine Demonstration startet, um die Bullen wegzulocken und gleichzeitig wird die Pierson Straße von hunderten von Menschen in eine Festung verwandelt. Der Plan geht auf, die Bullen konzentrieren sich auf die Demo.
„Um die Piersonstraat, Karrengas und den Zeigelhof verbarrikadieren zu können, hielten wir eine ‘Ablenkungsdemonstration’ in der Pontanusstraat ab. Es haben höchstens fünfzig Leute teilgenommen, aber sie waren sehr laut und die Polizei hat sich sofort darauf gestürzt. Wir begannen unterdessen wie verrückt zu graben. Hunderte von Menschen, viele mit Sturmhauben oder Helmen, errichteten Barrikaden aus Steinen, Sand, Bettfedern, Balken und Kühlschränken. Wir bohrten auch Löcher, befestigten Pflöcke und spannten selbstgemachte Kabel und Stacheldraht auf. Der Bereich war hermetisch abgeriegelt. Die Bolzen sind immer noch in der Wand. Nach 40 Jahren.“
Flip Bastiaan in Februar 2021
“Radio Rataplan”, der örtlichen illegale Radiosender der Hausbesetzer, sendet jetzt vierundzwanzig Stunden am Tag. Die Bevölkerung von Nimwegen wird informiert und es ergehen Aufrufe zur Verteidigung der Barrikaden. Aus allen Teilen des Landes strömen Menschen in den “Freistaat”.
Auch in unserem Dorf war die Aktion in der Pierson Straße das Gespräch des Tages. Wir beschlossen, nach Arnheim zu fahren, um mehr Infos zu bekommen. Aber unsere Freundinnen und Freunde in den besetzten Häusern dort waren mittlerweile fast alle selbst in Nimwegen. Wir waren zu viert und beschlossen, nicht zurück ins Kinderheim zu gehen. Ein ähnliches Szenario wie am 30. April 1980. Wir nahmen stattdessen also den Zug nach Nimwegen.
Die Pierson Straße haben wir schnell gefunden. Wir begannen, bei der Verstärkung der meterhohen Barrikaden mit zu helfen. Anwohner brachten immer wieder heißen Tee und Suppe vorbei und viele stellten ihre Toiletten zu Verfügung. Es war richtig kalt, aber wir bekamen regelmäßig Feuerholz und auch Decken gespendet. Ein Imbiss in der Nachbarschaft verteilte Pommes. Das war eines der ersten Dinge, die mir aufgefallen sind. Die enorme Unterstützung durch die Anwohner.
Der Kontakt zwischen uns und den Bewohnern dieses Arbeiterviertels war wirklich schön. Ihre Häuschen, wie sie reden, ihre Lebensweise, es war eine Art Kulturschock. Es half mir, diese Menschen aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Als Punk fand ich die ganze bürgerliche Gesellschaft scheiße. Aber diese Menschen waren mir viel näher, als ich dachte.
Normalerweise schliefen wir in einem der besetzten Häuser. Tagsüber gab es gelegentlich Auseinandersetzungen mit jungen Leuten aus der Stadt. Sie bewarfen uns mit Steinen und Eiern. Oft von Faschisten angetrieben. Ein Fahrradladen z.B. verteilte Eier an diese Jugendlichen. Nach ein paar Tagen beruhigte sich die Lage, vor allem weil die Anwohner begannen, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und ihnen zu erklären, worum es in diesem Konflikt geht. Mit enorm viel Geduld. Das war für mich echt beeindruckend.
Am Freitag, den 22. Februar, fällte das Gericht dann ein Urteil. Die Stadt durfte das Gelände nun räumen. Jetzt wurden auch wir nervös. Wir kannten die Bilder der Panzer in der Vondelstraße und hatten unsere eigenen Erfahrungen in Bezug darauf was am 30. April passiert war. Die Spannung stieg, die Räumung konnte jeden Moment beginnen.
Für uns waren Rückzugsgebiete wie das ‚Einhorn‘ etwas Besonderes. Die kalten, klinischen Umgangsformen in einem Kinderheim in den 1970er und 1980er Jahren hatten uns innerlich zerstört. In diesen Freiräumen lebten wir auf. Wir haben uns wohlgefühlt, die Wärme und der menschliche Umgang miteinander waren uns sehr wichtig. Es hat uns gezeigt, dass man Dinge auch anders machen kann. Dies zu wissen, gab uns die nötige Kraft, um weiterzumachen. Obwohl wir Angst vor dem möglichen Einsatz der Armee hatten, waren wir bereit, das „Einhorn“ zu verteidigen. Inzwischen hatten alle vier von uns Helme, Sturmhauben, gute Handschuhe und warteten auf die Dinge, die kommen würden…
Das Wochenende verging wie im Flug. Es gab weitere Demonstrationen für den Erhalt des ‚Einhorns‘. Eines der ersten Dinge, die deutlich machten, dass die Räumung beginnen würde, war die Erstürmung des Studios von “Radio Rataplan”. “Rataplan” war das wichtigste Kommunikationsmittel, das wir hatten. Sowohl für die Bevölkerung von Nimwegen, als auch für die Menschen hinter den Barrikaden. Die Militärpolizei zerstörte das gesamte “Rataplan”-Studio. “Radio Rataplan” war aber auf einen solchen Überfall vorbereitet. Am nächsten Tag wurde bereits von einem anderen Standort aus gesendet.
Montag, 23. Februar 1981. Es ist halb sechs Uhr morgens und fünf Grad unter Null. Müde, angespannt und unterkühlt warten Hunderte von gewaltfreien Aktivisten darauf, dass die Polizei die Barrikaden stürmt. Hinter den Barrikaden stehen Menschen, die andere Mittel einsetzen wollen. Die drei Straßenzüge sind bereits seit einer Woche verbarrikadiert.
Ein “Außenteam” greift die Polizei an, als sie um 5 Uhr morgens das Hauptrevier in Marienburg verlassen. In der Piersonstraat werden kurz darauf 2000 Einsatzkräfte, darunter auch Soldaten, eingesetzt, um die Aktivisten auf den Barrikaden zu verjagen.
Auf den Dächern haben wir Soldaten mit gezogenen Waffen gesehen. Vor uns werden die Blockaden der „Gewaltlosen“ mit einer Gewalt-Orgie vertrieben. Überall schreien Menschen vor Schmerzen. Blut, Hubschrauber und das Dröhnen der Motoren von Leopard-Panzern. Die Bullen setzen zwei Arten von Standard Tränengas und CS-Gas ein. Menschen, die das CS-Gas einatmeten, werden innerhalb einer Minute desorientiert und müssen ständig kotzen.
Beim Anblick der ersten Leopard-Panzer fangen meine Knie an zu schlottern. Du weißt, dass es sinnlos ist, Steine gegen einen Leopard Panzer zu werfen. Weil aus Hubschraubern Pamphlete abgeworfen werden, dass die Polizei beim Einsatz von Molotow-Cocktails mit scharfer Munition schießen dürfe, ist das dann auch nicht passiert. Viele Menschen hatten aber schon vorher ein Problem mit dem Einsatz von Molotow-Cocktails. Trotzdem haben wir innerhalb der Barrikaden versucht, das ‚Einhorn‘ mit Steinen zu verteidigen. Auch eine Menge Rauchbomben wurden eingesetzt, um den Bullen die Sicht zu nehmen. Viele von uns wurden verletzt und innerhalb von 2 Stunden ist alles vorbei. Wir verlassen das Gebiet, meist kotzend aufgrund des massiven Einsatzes von Tränen – und CS-Gas. Die Bullen hatten aber auch eine Menge Verletzte.
„Ich kletterte auf eines der Häuser in der Piersonstraat und sah, wie Bereitschaftsbullen begannen, die erste Reihe von Besetzern auf den Barrikaden wegzutragen. Anscheinend fanden sie, dass es zu viel Arbeit war, denn der Rest wurde mit Knüppeln weggeprügelt. Das Geschrei und Gebrüll war schrecklich. Neben mir standen Bierkästen mit leeren Flaschen, und wütend begann ich, sie zu werfen, bis ich an die Warnung auf den Flugblättern dachte: Bei Verwendung von Molotowcocktails würden sie schießen. Es waren Scharfschützen auf den Dächern rund um die Piersonstraat.“
Flip Bastiaan in Februar 2021
Nach der Räumung gab es wochenlang Demonstrationen gegen die Räumung und Polizeigewalt. Das Parkhaus wurde schließlich nie gebaut, was für die Bewohner der Pierson Straße, die ihre Häuser verloren hatten, nur ein schwacher Trost war. Die Zusammenarbeit zwischen dem Arbeiterviertel und der Hausbesetzerbewegung bleibt etwas, was mir immer in Erinnerung bleiben wird. Nimwegen war danach einer der Städte, in denen die Hausbesetzerbewegung viele Jahre lang sehr bedeutend war.
Wir mussten aber erst einmal zurück in unser Dorf. Im Kinderheim wurde ich dieses Mal mit sechs Wochen “Privatsphärenverbot” bestraft. Eine Strafe, bei der man nicht einmal alleine auf die Toilette gehen durfte. Du durftest dich nur in den Gemeinschaftsräumen aufhalten. Ständig beaufsichtigt.
Obwohl mich diese Strafe hart getroffen hat und ich lange brauchte, um diese und ähnliche Strafen danach zu verarbeiten, konnten sie mich nicht brechen. Die Dinge, die ich im ‚Freistaat-Einhorn‘ gelernt hatte, konnte mir niemand mehr wegnehmen. Es hat mir unglaublich viel Kraft gegeben. Ich hatte beschlossen, wieder wegzulaufen, es dieses Mal gut vorzubereiten und nicht mehr zurückzugehen. Mit meinem Kopf war ich schon längst in Amsterdam und bereit für den Kampf. Aber darüber erzähl ich in der nächste Sunzi Bingfa mehr.