Joshua Clover
Endlich liegt dieser wohl wichtigste Text seit “Der kommende Aufstand” des “Unsichtbaren Komitees” auch in Deutsch vor. Wir hatten ja schon in der Nullnummer der Sunzi Bingfa eine Ankündigung und freuen uns Euch in dieser Ausgabe auszugsweise das neunte Kapitel des Buches präsentieren zu können. Eigentlich war geplant die Herausgabe des Buches mit einer Reihe von Veranstaltungen in verschiedenen Städten zu begleiten, leider ist dies zur Zeit aus den bekannten Gründen nicht durchführbar. Wir hoffen, dass es bald möglich sein wird, diese dringend notwendigen Diskussionsprozesse nachzuholen, um wieder theoretischen und damit auch praktischen Boden unter den Füßen zu bekommen. Wir danken an dieser Stelle den Menschen, die sich um die deutsche Ausgabe von Riot.Strike.Riot verdient gemacht haben und danken besonders den beiden Herausgebern Karl-Heinz Dellwo und Achim Szepanski dafür, dass sie uns diesen Auszug zur Verfügung gestellt haben. Ihr könnt das Buch natürlich in Eurem linken Buchladen erwerben oder hier direkt bestellen. Wir haben die ursprünglichen Fußnoten (d.A. und d.Ü.) beibehalten, sie aber an das Ende des Textauszuges gesetzt. Sunzi Bingfa
RIOT JETZT: DER PLATZ, DIE STRASSE, DIE KOMMUNE – KAPITEL 9
Riots, Blockaden, Barrikaden, Besetzungen. Die Kommune. Das ist es, was wir in den nächsten fünf, fünfzehn, vierzig Jahren erleben werden. Die Liste ist nicht neu. Sie ist bei einigen wenigen Gruppen, die sich mit dem Ende der Programmatik identifizieren, zu einer Art gesundem Menschenverstand geworden. Es geht hier nicht darum, die Elemente einfach zu wiederholen oder zu erklären, warum sie jetzt wahrscheinlich effektiver sind als sie es zu einem früheren Zeitpunkt waren, was mit Sicherheit der Fall ist.
Das Argument dieses Buches ist jedoch nicht, dass Zirkulationskämpfe der korrekte Ansatz zur »Blockierung des Kapitals« sind (oder wie auch immer manche es ausdrücken möchten), um es in die Knie zu zwingen. Zirkulation ist Wert in Bewegung in Richtung seiner Realisierung; sie ist zugleich ein Regime der sozialen Organisation innerhalb des Kapitals, das in einem Wechselverhältnis mit der Produktion steht, dessen Ungleichgewicht als Krise erscheint. Wir haben versucht, darzulegen, was die theoretischen und historischen Grundlagen von »unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen« sind, warum unter diesen Umständen weitere Zirkulationskämpfe unvermeidlich sind und wie ein umfassenderes Verständnis dieses konzeptionellen Rahmens sowie der materiellen Geschichte zwischen Sein und Sollen vermitteln könnte. Dazu ist es notwendig, sich mit den Grenzen der jüngsten Welle von Kämpfen auseinanderzusetzen und gleichzeitig zu versuchen, sozusagen den praktischen Kern herauszuarbeiten, aus dem die kommenden Kämpfe mit Sicherheit aufblühen werden.
Der Platz und die Klassenallianz
Die klassische griechische Agora ist sowohl Marktplatz als auch öffentliche Versammlung. Ein Doppelcharakter, der bis in die erste Ära der Riots hinein immer geisterhafter fortbesteht. Die Rückkehr des Riot Prime auf den städtischen Platz erinnert zwangsläufig an die Kämpfe auf dem Marktplatz aus der ersten Ära der Riots und an den sozialen Anspruch dieser Kämpfe, die auf dem Terrain der Ökonomie geführt wurden. Wie sollte es anders gewesen sein? Zugleich zeigt sich die Unmöglichkeit einer solchen Rückkehr.
Da die verschiedenartigen Wiederholungen der »Bewegung der Plätze«, an der sich die globalen Kämpfe 2010/11 ausrichteten, in der Agora entstehen, stellen sie in vielerlei Hinsicht auch eine klare Demonstration der Argumentation dieses Buches dar. Sie finden direkt am exemplarischen Ort der Zirkulation statt. Dass Surplus-Bevölkerungen ihre Basis bilden, ist offensichtlich. Man denke nur an den Ausbruch des Arabischen Frühlings durch die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, der einer wachsenden Masse von TunesierInnen angehörte, die in die informelle Ökonomie gedrängt und dann von der Polizei unaufhörlich schikaniert wurden. Ein solcher Niederschlag hängt von der Außergewöhnlichkeit dieser Episode, ihrem Paroxysmus der Verelendung ab.
Aber sie hängt gleichzeitig von der paradigmatischen Beschaffenheit der Situation Bouazizis ab, als einem unter vielen, überflüssig geworden durch politökonomische Transformationen, nicht absorbierbar und zukunftslos in den öffentlichen Räumen der Städte angehäuft. Und doch ist die Tatsache, dass der Riot Prime auf dem modernen Platz der Stadt erscheint, ein Signal für dessen Beschränkung auf den Bereich der Politik. Dies ist mehr oder weniger das transzendentale Problem des Jahres 2011. Verwirklichter Kapitalismus beruht auf der Trennung von Politischem und Ökonomischem, der Souveränität des Volkes, die unabhängig von den vermeintlich technokratischen Problemen der Ressourcenschöpfung und -verteilung konzeptualisiert ist. Diese Trennung drückt sich auch in der Distanz zwischen den führenden Riot-Forschern aus, auf die wir bereits früher gestoßen sind: auf der einen Seite Badious Politik der Idee, auf der anderen Seite der mechanische Ökonomismus des New England Complex Systems Institutes und anderer.
Die Bevölkerung des Riot Prime, so könnten wir heute erkennen, erreicht eine historische Ordnung nicht durch eine gemeinsame Idee, nicht durch die tödlichen Fluktuationen der Nahrungsmittelpreise, sondern entsprechend einer tieferliegenden politökonomischen Einheit, einer materiellen gesellschaftlichen Reorganisierung, die ihr eine gemeinsame Reihe von Problemen und eine gemeinsame Arena bietet, in der sie sich ihnen stellen kann. Die Fallstricke des Politischen sind vielfältig. Das Erfordernis einer gewaltsamen Repression des Occupy-Camps und der damit einhergehenden Empörung, um sich weiter auszudehnen zu können, entspricht einer allgemeinen Ausrichtung auf den Staat und seine Institutionen.
Ein weiterer Fallstrick zeigt sich im langen Riot der griechischen Krise: Der seit 2008 ununterbrochene Antikristos von AntagonistInnen und Polizei geht dem Occupy-Camp auf dem Athener Syntagma-Platz und den wiederholten Angriffen auf das Parlamentsgebäude voraus und ist dessen Voraussetzung. Das wohl erschütterndste Beispiel für die Fallstricke des Politischen ist die Entdeckung, dass die scheinbar öffentlichen Staatsstreiche des Arabischen Frühlings formalistische Revolutionen von verheerender Unvollständigkeit nach sich ziehen. Das Volk will den Sturz des Regimes. »Aber dieser Antagonismus ist in Wirklichkeit endlos, kreisförmig«, wie einige bemerkt haben. »Nichts kann diese Zirkularität deutlicher machen als der Abgang von Mohammed Mursi, 30 Monate nach dem Sturz Hosni Mubaraks, ein Jahr und eine Woche nach seiner eigenen Wahl. Es stellt sich heraus, dass es nicht der Sturz des Regimes war, den das Volk wollte, es war nicht Demokratie in irgendeinem abstrakten Sinne«. (217) Trotz der von verschiedenen Philosophen unternommenen Rehabilitierungsprojekte bleibt die Demokratie das Gegenteil einer Verabsolutierung.
»Wenn wir mit dem Staat beginnen, enden wir mit dem Staat«, bemerkt Kristin Ross und argumentiert, dass das Narrativ über die Entstehung der Pariser Kommune als eine Konfrontation zwischen einer Bevölkerung und ihrer Regierung unser Verständnis des Ereignisses auf einen Wettstreit um die Kontrolle über einen Staat, der der Staat bleibt, beschränke. (218) Dies stellt eine Grenze sowohl für die Theorie als auch für die Praxis dar, nicht zuletzt für unser Verständnis aller Wege, auf denen sich der moderne Staat aus den Strukturen des Kapitals entwickelt und diese benötigt.
Dieser ungebrochene demokratische Drang sollte nirgendwo stärker präsent sein als in den USA, wo die Beratschlagung zum Selbstzweck wird. Die praktischen Ziele von Occupy Wall Street (OWS) sind schnell zusammengefasst. Ursprünglich erklärte die Bewegung (etwas unglaubwürdig) ihre Absicht, die Börse zu blockieren, um das virtualisierte Rauschen des finanziellen Kapitals zu unterbrechen. Rasch auf den Platz gedrängt, den sie berühmt machen sollte, von Barrikaden und Polizei eingeschlossen, strömte sie periodisch in die Straßen oder auf die Brooklyn Bridge. Ihr anderer erklärter Zweck war es, eine einzige Forderung gegen die Finanzoligarchie zu entwickeln, von der man annahm, dass sie die Finanzkrise verursacht habe, sowie gegen die Sparpolitik, die wiederum verantwortlich gemacht wurde.
Es wurde schnell klar, wenn auch stillschweigend, dass jede spezifische Forderung die fragile Versammlung zu zerbrechen drohte. Und so sollte das OWS-Camp zu »seiner eigenen Forderung« werden, gleichzeitig ein Ruf nach Anerkennung des gelebten Elends der Sparsamkeit und ein vorgestelltes Vorabbild der zukünftigen Selbstverwaltung. Es ist bezeichnend, dass die berühmteste Neuerung von OWS das »menschliche Mikrofon« bleiben sollte, also eine Form der Kommunikation.
Occupy Oakland sollte generische Ähnlichkeiten mit OWS und ebenfalls keinen Mangel an Beratschlagungen aufweisen. Die Unterschiede sind jedoch aufschlussreicher. Als militantestes der Camps verkörperte es die Idee des Riots als Modalität, nicht nur, weil es sich regelmäßig in die Straßen der Stadt ergoss und in Straßenkämpfe mündete. Angesichts der extremen Konzentration von Reichtum, von Gentrifizierung und zunehmender Ungleichheit, die Oakland und der Bay Area eigentümlich (aber nicht einzigartig) sind, konnte die regelmäßige Zerstörung von Eigentum durch Occupy Oakland als eine Art Preissetzung verstanden werden: ein Versuch, die steigenden Eigentumswerte zu drücken, indem bürgerliche Standards der Bewohnbarkeit untergraben werden. Gleichzeitig zielte die Bewegung direkt auf die Ökonomie. Zweimal schlossen die BesetzerInnen den riesigen Hafen von Oakland (beide Male in unbequemer Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft der Land- und LagerarbeiterInnen), einmal im Rahmen eines versuchten Generalstreiks – dem ersten in den Vereinigten Staaten seit 1946. Es ist wenig überraschend, dass sich Occupy Oakland neben diesen klassischen Zirkulationskämpfen auf eine Gemeinschaftsküche konzentrierte, was die zentrale Bedeutung der Surplus-Bevölkerung für das Camp signalisiert. Trotz ihrer Rolle innerhalb des nationalen Netzes von Occupy-Camps im Herbst 2011 sollte die Bildung von Occupy Oakland auch im Lichte anderer Entwicklungen registriert werden. Eine davon ist der »doppelte Riot« – ein verkannter Gemeinplatz auf einer systemischer Ebene.
Die Form dieses doppelten Riots ist klar zu erkennen. Ein Riot entsteht dadurch, dass Jugendliche entdecken, dass die Wege, die einst eine minimal sichere, formale Integration in die Ökonomie versprachen, nun versperrt sind. Der andere entsteht durch rassifizierte Surplus-Bevölkerungen und deren gewaltsame staatliche Verwaltung. Auf der einen Seite die BesitzerInnen leerer Schuldscheine, auf der anderen die BesitzerInnen von gar nichts.
In Frankreich greifen die Riots von 2005 von Banlieue auf Banlieue über, insbesondere solche mit stark informalisierter und migrantischer Bevölkerung, nachdem Zyed Benna und Bouna Traoré auf der Flucht vor der Polizei ums Leben gekommen waren; 2006 reagierten die sogenannten CPE-Riots, während derer es auch zu Universitätsbesetzungen kam, auf Versuche des Staates, die Jugendarbeitsmärkte umzustrukturieren. Das Muster wiederholt sich im Vereinigten Königreich in umgekehrter Reihenfolge: zuerst die Studierendenkämpfe von 2010, einschließlich der Besetzung der Universitäten und der Einnahme des Tory-Hauptquartiers, dann die Tottenham-Riots von 2011 nach der Ermordung von Mark Duggan durch die Polizei. In Oakland folgen die Unruhen zu Beginn des Jahres 2009 auf den Polizeimord an Oscar Grant; 2009/10 kommt es zu einer Reihe von Universitätsbesetzungen, die zu militarisierter Repression in ganz Kalifornien (und im ganzen Land) führen, deren Zentrum jedoch im benachbarten Berkeley liegt.
Die Form dieses doppelten Riots ist klar zu erkennen. Ein Riot entsteht dadurch, dass Jugendliche entdecken, dass die Wege, die einst eine minimal sichere, formale Integration in die Ökonomie versprachen, nun versperrt sind. Der andere entsteht durch rassifizierte Surplus-Bevölkerungen und deren gewaltsame staatliche Verwaltung. Auf der einen Seite die BesitzerInnen leerer Schuldscheine, auf der anderen die BesitzerInnen von gar nichts. Sofern diese gegenwärtige Kopplung überhaupt bemerkt wird, wird meist behauptet, dass die beiden Seiten in Opposition zueinander stünden, wobei die Ablehnung der einen das relative Privileg der anderen verrate. Dies ist selbst ein einseitiges Verständnis der Krise und ihrer Bevölkerungen, der Modi und Zeitlichkeiten, durch die sich Ausgrenzung entfaltet. Die Aufgabe besteht nicht darin, neue soziologische Kategorien zu entdecken, die die veralteten Klassifikationen einer früheren Epoche ablösen und eine verdinglichte Gruppe von AkteurInnen durch eine andere ersetzen. Vielmehr geht es darum, die wirkliche Bewegung voranzubringen, innerhalb derer sich diese sozialen Kategorien entwickeln, verändern und sich intern und im Verhältnis zu anderen sozialen Kräften weiterentwickeln.
Das Occupy Camp in Oakland, das sich selbst kurz als »Oakland Commune« bezeichnete, könnte als ein unmöglicher Versuch verstanden werden, die beiden Seiten des doppelten Riots zu synthetisieren – und somit als eine lebendige Instanz des zunehmend gemeinsamen Terrains des Kampfes dieser Bevölkerungen, ihrer unvollendeten Bewegung aufeinander zu. Die Zusammensetzung des Lagers war seine Stärke und Schwäche, die Grundlage seiner Militanz und die Bedingung seines nicht tragfähigen Klassenbündnisses zwischen Ausgeschlossenen und Gekündigten. Die Zusammensetzung des Camps erfasst »einen zentralen, in zeitgenössische Manifestationen der Zeltstadt eingebetteten Widerspruch (…) zwischen der Verelendung des Flüchtlingslagers und dem Aktivismus des politischen Lagers«, wie Sasha X es nennt. (219)
Diese Beschreibung verfehlt jedoch die anhaltende Subsumtion »des politischen Lagers« unter die politökonomischen Bedingungen. Es wäre ebenso zutreffend, Occupy Oakland als einen Fall unvollständiger Proletarisierung zu beschreiben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es noch nicht ganz möglich, den doppelten Riot in einem einzigen Lager zu vereinheitlichen. Dies manifestiert sich am deutlichsten im Widerspruch zwischen Ideologie und Praxis. Der vorherrschende Occupy-Diskurs – »Wir sind die 99 Prozent« und verdienen daher einen entsprechenden Anteil an gesellschaftlichem Reichtum und Klassenmacht – ist nicht in der Lage, diejenigen zu repräsentieren, deren Leben bereits jenseits der Versprechungen institutioneller Verbesserungen und einer Politik der Umverteilung liegt. In dieser Formulierung wird die materielle Beziehung zwischen der Occupy-Bewegung und dem »Planeten der Slums« kaum anerkannt, auch wenn es auf diesem Planeten zunehmend Orte wie Oakland gibt.
Gleichzeitig stehen jedoch die Formen des Kampfes in Oakland (Riot, Generalstreik, Hafenschließung) in einem klareren Zusammenhang mit der Politik der Surplus-Bevölkerungen, einer Politik ohne Programm. Eine solche Politik, die zur Verabsolutierung tendiert, sollte nicht unwidersprochen bleiben. Diejenigen, die noch in der Lage waren, aus ihren sozialen Verhältnissen heraus ein Bild der Umverteilung und Wiederherstellung eines früheren Moments des sozialen Gleichgewichts zu entwerfen (das immer der Verteilung des »langen Booms« und einem nostalgischen Keynesianismus ähnelt), waren oft bereit, diese Sichtweise durch passive und aktive Zusammenarbeit mit der Polizei durchzusetzen. Das sollte sich als ein Hindernis erweisen, das der Polizei selbst gleichkommt. Trotz alledem war das Camp in Oakland einzigartig. Sicherlich hob es sich von der nationalen Landkarte der Occupy-Camps ab: überall schwarze Blöcke und böses Blut, Teile davon, engagiert in einer qualitativ anderen Politik, traten dem Staat der Austerität eher als AntagonistInnen denn als verratene PartnerInnen gegenüber, eine Gesellschaft der Feinde, für die der Kampf gegen die Polizei weniger eine Zielsetzung als eine unvermeidliche Positionsbestimmung war. Dies ist ein stetiges internationales Narrativ, ein roter Faden, der sich von den Riots in den Banlieues bis zu allen Tränengaspartys von morgen zieht.
Die fortdauernde Allianz oder Nichtunterscheidung zwischen Camps mit Surplus Bevölkerungen und anderen politischen Zusammenhängen, die sich nicht für eine Partnerschaft mit dem Staat eignen, ist ein grundlegendes Charakteristikum des Riot Prime – und eines, das sich mit der zunehmenden Produktion der Nicht-Produktion und globalen politischen Volatilität mit Sicherheit ausweiten und intensivieren wird.
Die Straße und der Riss
Die Logik der Zirkulationskämpfe hat sich nirgendwo spektakulärer gezeigt als am 24. und 25. November 2014, als sich die Riots nach einem Moment unerträglicher Gewalt – der tödlichen staatlichen Verwaltung rassifizierter Bevölkerungen – von einem Vorort von St. Louis aus auf eine Stadt nach der anderen ausbreiteten, und zwar in der Art und Weise, wie die Unruhen im Zeitalter des Riot Prime begannen: nicht aus dem Nichts, sondern von überall her. Der Ort dieses Riots ist die Straße. Die Straße, auf der Michael Brown ermordet wurde, die Straße, in der sich die Menschen versammelten, um auf die Nachricht zu warten, dass sein Mörder nicht angeklagt werden würde, die Straße, in der man sich anschließend traf. Die Straße, in der die gegen die Polizei gerichtete Gewalt der Aufständischen den Raum für die Plünderung von Einkaufsläden frei machte und ein Ausweichen in Richtung anderer Ziele ermöglichte. Und schließlich die Blockade der Autobahnen im kontinentalen Maßstab, die eine Anschlussstelle des Fernstraßennetzes nach der anderen dichtmachten – der gebauten Verkehrslandschaft, die einst das größte öffentliche Bauprojekt der Geschichte war. Doch lässt sich dies nicht einfach auf Spektakel, auf Symbolisierung reduzieren. Die Blockade des Verkehrs, die Unterbrechung der Zirkulation als unmittelbares und konkretes Projekt, bezeugte den unstillbaren Wunsch, das Ganze zum Stillstand zu bringen. Die Autobahnen und Durchgangsstraßen waren das Nächstliegende des Ganzen, der antihumanen Totalisierung und Verdinglichung der Welt.
Die sich gleichenden Szenen aus dem ganzen Land vermitteln ein unheimliches Gefühl von Koordinierung, von Organisierung ohne Organisation. Die Riots sollten nicht nur durch die Straflosigkeit eines Polizeibeamten, sondern durch eine ganze Reihe staatlicher Tötungen von Personen durch die Polizei, Glieder einer endlosen Kette, zur nationalen Ausdehnung getrieben werden. Noch bemerkenswerter und vielsagender als die räumliche Ausbreitung dieser Unruhen ist jedoch ihre ursprüngliche Dauer. Darin liegt die wahre Neuheit von Ferguson. Nachdem Michael Brown von Darren Wilson erschossen worden war, begannen die örtlichen Riots beinahe sofort und dauerten mehr als zwei Wochen an. Die Vermessung von Riots ist eine ungenaue Wissenschaft; dennoch scheint diese Sequenz jeden der bereits diskutierten, ähnlich gelagerten Fälle von Detroit, Newark und Chicago bis heute überdauert zu haben. Jeder, der in Ferguson gewesen ist, wird erkennen, wie außergewöhnlich diese Tatsache ist. Eine kleine eingemeindete Stadt nördlich von St. Louis, deren Einwohnerzahl bei etwa 20.000 liegt, nach einem Höchststand von 30.000 um 1970 herum, bevor die Deindustrialisierung ihren Lauf nahm. Es gibt dort kaum genug Dinge, um sie zwei Wochen lang verbrennen zu können. Es gibt keinen Platz, der besetzt werden könnte, aber die Komplizenschaft zwischen Straße und Platz besteht weiterhin. Auf dem Einkaufsstreifen der West Florissant Avenue, dem Epizentrum der Unruhen, brannten die Menschen den QuikTrip-Markt nieder und nutzten das Gelände als ihren Platz, bis es vom Staat abgeriegelt wurde.
Die ethnische Transformation der Stadt ist auffallend, auch wenn sie einem immer allgemeiner werdenden Trend entspricht: Die Zusammensetzung der Bevölkerung im Jahr 1990, zu etwa drei Vierteln weiß und zu einem Viertel schwarz, hat sich bis 2010 fast umgekehrt. Die traditionelle US-amerikanische Struktur des sogenannten »white flight« (des Wegzugs weißer BewohnerInnen aus Gegenden, die mehr und mehr von ethnischen Minderheiten bewohnt werden), die einst die Innenstädte zu Gebieten der Surplus-Bevölkerung machte, hat sich verwandelt und dem europäischen und globalen Modell der Banlieues und Bidonvilles angeglichen, die Surplus-Bevölkerungen in Ringen um die Städte herum konzentrieren. Phil A. Neel legt klar dar, wie diese demografischen Verschiebungen und die Geografie der »sozial schwachen« Landschaft die Bedingungen für den »suburbanen Riot« schaffen, dessen locus classicus der dezentrale und forderungslose Riot von Los Angeles im Jahr 1992 ist.(220) Neel findet eine zusätzliche Koordinate zur Erklärung der Schwierigkeit, den Riot einzudämmen: das Fehlen einer vermittelnden Klasse schwarzer FührerInnen, die sich im Namen der Community für Ordnung aussprechen. Dies ist eine aufschlussreiche Äußerung über etwas, das in Wahrheit eine viel größere strukturelle Verschiebung ist.
Es handelt sich um eine fast universelle Konvention des Riot Prime, der Rebellion, des Aufstands, kurz nach dem Ausbruch einen substanziellen oder scheinbaren Sieg zu erleben und sich dann in zwei Lager zu spalten, die jeweils unterschiedlichen Impulsen folgen. Diese sind mal offen gegensätzlich, mal überlappen sie sich und gehen ineinander über. Der erste Impuls geht in Richtung Populismus, ein Versuch, die Reihen zu füllen, indem öffentliche Sympathien mobilisiert werden, wobei die Berichterstattung in den Medien und andere diskursive Apparate zum eigenen Vorteil genutzt werden. Er drängt unweigerlich in Richtung einer Politik der Seriosität und grundsätzlich in Richtung der moralischen Überzeugung des passiven zivilen Ungehorsams und der Gewaltlosigkeit im Allgemeinen. Er beabsichtigt, eine politische Kraft zu entwickeln, Meinungen zu beeinflussen und Konzessionen zu erringen. Schließlich wird er unweigerlich in den Wahlkampf hineingezogen werden, als ein Punkt im Forderungskatalog oder ein Ausschuss der Parteipolitik. Wenn diese politische Fraktion anfänglich aufgefordert wird, die Unordnung des Riots zu rechtfertigen, greift sie die berühmte Formulierung von Martin Luther King Jr. auf: »Ein Riot ist die Sprache der Ungehörten«.
Zu diesen praktischen Erwägungen gehören Plünderungen, die Kontrolle des Raums, die Aushöhlung der Macht der Polizei, die Unzugänglichmachung eines Gebiets für Eindringlinge und die Zerstörung von Eigentum, das verstanden wird als Ausdruck des Ausschlusses der RandaliererInnen von der Welt, die sie immer vor sich sehen und die sie nicht betreten dürfen. Diese Spaltung ist so alt wie der Riot selbst und verläuft nicht immer trennscharf. Es gibt praktische Aspekte diskursiver Handlungen, und umgekehrt ist das zerbrochene Fenster oder der abgebrannte Laden zwangsläufig eine Art Kommunikation.
Das ist ebenso einleuchtend wie sympathisch; man muss taub sein, um bei einem Aufstand die Wehklagen der Verelendeten nicht zu hören. Aber es bleibt eine ungeprüfte Symptomatik, die voraussetzt, dass der einleitende Schrei des Riots in Wahrheit eine noch nicht entschlüsselte Bedeutung jenseits seiner selbst haben muss, und darüber hinaus, dass diese Bedeutungsgebung sein Hauptaspekt ist – andere bedauerliche Aspekte, die man in den Nachrichten sieht, werden im universellen humanistischen Appell verleugnet, das Leiden der anderen anzuerkennen und sogar die Auswüchse seines Ausdrucks zu verzeihen. Innerhalb dieses Verständnisses wird sogar der forderungslose Riot dahingehend umcodiert, selbst eine Forderung zu sein, etwas, das von der gegenwärtigen Ordnung befriedigt werden könnte, wenn es nur verstanden werden würde. Die Aushandlung wird zur überhistorischen Wahrheit. Der zweite Impuls findet im Riot etwas jenseits oder vor der Kommunikation statt. Er wendet sich weniger einem Gemeinwesen zu als vielmehr dem Praktischen, wendet sich sowohl im niedrigen als auch im hohen Sinne dem Materiellen zu.
Zu diesen praktischen Erwägungen gehören Plünderungen, die Kontrolle des Raums, die Aushöhlung der Macht der Polizei, die Unzugänglichmachung eines Gebiets für Eindringlinge und die Zerstörung von Eigentum, das verstanden wird als Ausdruck des Ausschlusses der RandaliererInnen von der Welt, die sie immer vor sich sehen und die sie nicht betreten dürfen. Diese Spaltung ist so alt wie der Riot selbst und verläuft nicht immer trennscharf. Es gibt praktische Aspekte diskursiver Handlungen, und umgekehrt ist das zerbrochene Fenster oder der abgebrannte Laden zwangsläufig eine Art Kommunikation.
Nichtsdestotrotz ist der Riss offensichtlich, wird von den Teilnehmern sozial gelebt und wiederholt sich gewiss weitgehend. Dies sollte sich auch in Ferguson bewahrheiten, wo in jeder Nacht der Riots sowohl friedliche Demonstrationen stattfanden, die weitgehend den Vorschriften der Polizei folgten, als auch weniger ordnungsgemäße Aktionen, zu denen Brandstiftungen und der Beschuss von Polizeibeamten gehörten. Während die Fraktionen in den ersten Tagen zusammenarbeiteten oder sich vielleicht noch nicht vollständig ausgebildet hatten, kam es zunehmend zu Streitigkeiten, insbesondere nachdem eine große Anzahl nationaler Geistlicher in Ferguson eintraf, um zu bekräftigen, was sie für die Lehren von Dr. King hielten. Aber gerade hier rückt eine historische Verschiebung in das Blickfeld, die von grundlegender Bedeutung ist. Seit der Bürgerrechtsbewegung (und davor der »ersten Generation« der feministischen Bewegung) konnte die Seite der rechtlichen Rahmenbedingungen, der moralischen Zureden und der Politik der Seriosität die Debatte nach jedem Riot ziemlich schnell hegemonial werden. Dies war nicht zuletzt deshalb der Fall, weil dieser Ansatz echte, wenn auch begrenzte Vorteile bieten konnte.
Solche Ergebnisse scheinen jedoch nicht länger plausibel zu sein. Der Erfolg der diskursiven Strategie setzt ein gewisses Maß an gesellschaftlichem Reichtum voraus, eine geringe Arbeitslosigkeit sowie eine zu bewahrende Kontinuität der Profite, selbst wenn dies dem Kapital entsprechende Opfer abverlangt.Man könnte sich vielleicht Forderungen in der Gegenwart vorstellen, die im Fall ihrer Erfüllung die Lebensumstände der Ausgeschlossenen substanziell verändern würden. Aber das Anwachsen der Reihen der Ausgeschlossenen und die Unfähigkeit, solchen Forderungen nachzukommen, sind ein und dieselbe Tatsache – die beiden Gesichter der Krise. Genauso wie die USA keine Akkumulation auf globaler Ebene mehr erreichen können und daher das Welt-System durch Zwang statt durch Konsens ordnen müssen, so kann der Staat nicht mehr die Art von Konzessionen machen, welche die Bürgerrechtsbewegung errungen hat, kann den sozialen Frieden nicht mehr erkaufen. Es gibt nur noch die Peitsche und kein Zuckerbrot mehr. Die Riots nach der Ermordung von Freddie Gray, 2015 in Baltimore, deren Dauer und Intensität mit dem Einsatz der Nationalgarde und einem neuntägigen Ausnahmezustand beantwortet wurden, bestätigen diese Situation nur noch. Aus diesem Grund kann der Riss nicht mehr so einfach überbrückt werden. Die anhaltenden Riots und ihr Zorn sind zweifellos ein Maß für den sozialen Druck, der sich um rassistisch motivierte Polizeigewalt und um die immanente Gewalt bei der Verwaltung von Surplus-Bevölkerungen im Allgemeinen aufbaut. Sie sind auch ein Maß für die nachlassenden Appelle zur Mäßigung und optimistischen Nachgiebigkeit. Ein solcher Ansatz hat immer noch ein gewisses Charisma, wie die anhaltende Institutionalisierung der Aufstände von Ferguson und Baltimore im Rahmen der Einhegung der Nichtregierungsorganisationen beweist.
Gleichzeitig wird es immer schwieriger, das Argument, die bodenlose Gewalt und Unterdrückung sei strukturell bedingt und könne weder praktisch noch theoretisch durch Verteilungsgerechtigkeit gelöst werden, zu widerlegen. Vorbehaltlich unvorhergesehener Veränderungen in der zugrunde liegenden sozialen Organisation, wird der Riss sich weiter vertiefen und länger geöffnet bleiben. So zeigt sich der Drang zur Verabsolutierung auf praktischer Ebene. Wenn wir jeden solchen Fall als einen Riss von zunehmender Dauer verstehen, nimmt auch die Anzahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt offenen Risse zu. Es ist absehbar, dass es einer kaskadenförmigen Reihe von ihnen – anfänglich, aber nicht ausschließlich an rassifizierten Kämpfen orientiert – gelingen wird, ihren eigenen Bestand zu wahren und gleichzeitig andere Kämpfe hervorzubringen, um die beste Gelegenheit gegen die sich ausbreitende Unordnung zu nutzen: eine Unordnung, die nicht länger zum Riot zu gehören scheint, sondern zum Staat, zu dem, was zuvor selbst eine gewaltsame Ordnung gewesen ist. Gegen diese große Unordnung gilt es, eine notwendige Selbstorganisation zu finden, eine neue Tonart des Überlebens. Man muss dies nicht für sehr wahrscheinlich halten, um es für wahrscheinlicher zu halten als ein erneuertes sozialistisches Programm, selbst wenn dieses die neuen Insignien einer vermeintlich neuen Ökonomie trägt.
Kommune und Katastrophe
Wenn der Platz und die Straße die beiden Hauptschauplätze des Riot Prime gewesen sind, so öffnen sich beide zur Kommune hin. Die Kommune ist jedoch kein Ort in diesem Sinne, keine »territoriale Agglomeration«, wie Kropotkin es ausdrückte. (221) Ihre Geschichte besteht darin, sich dieser Bestimmung zu entziehen, auch wenn einzelne Instanzen dazu neigen, die Namen der Schauplätze zu übernehmen. Man könnte sagen, dass es sich vielmehr um eine soziale Beziehung, eine politische Form, ein Ereignis handelt. Man hat ihr alle diese Namen gegeben. Wir haben bereits behauptet, dass es sich auch um eine Taktik handelt, nachvollziehbar in der Entwicklung von Tillys Repertoire des kollektiven Handelns, die in diesem Buch dargestellt wird. Dies mag eine merkwürdige Haltung zu einem so nachhaltigen und aufwendigen Unterfangen wie der Kommune sein. Ein letzter Umweg ist also nötig, um einer solchen Behauptung einen Sinn zu geben und sie mit etwas anderem zusammen zu erfassen. Bruno Bosteels, der die Kommune aus dem allumfassenden Pariser Vorbild herausgelöst hat, liefert einen entscheidenden Einblick. In seiner Studie über das, was der Historiker Adolfo Gilly die Kommune von Morelos nannte (Höhepunkt 1914/15), räumt er ein: »Auf der Ebene organisatorischer Erscheinungsformen wird dem Anarchismus vorgeworfen, spontane Aufstände und Angriffe im Rahmen seiner Ideologie der direkten Aktion zu begünstigen, wohingegen nur ein sozialistisches Klassenbewußtsein, das auf die Ergreifung der Staatsmacht abzielt, einer dauerhaften politischen Bewegung die notwendige Organisation verleihen könnte« (222)
Genau diese Antinomie, mit ihrer bereits ideologischen Verknüpfung von politischer Identifikation und Aktionsformen, wird von der Kommune aufgelöst: »Es gibt jedoch eine politische Form, in der Anarchisten und Sozialisten – selbst in Mexiko – eine gemeinsame Basis zu finden scheinen: die Form der Kommune«. (223) Diese Vielseitigkeit der Kommune wird von Marx am Beispiel von Paris festgestellt, woraus er eine eindeutigere Lehre abstrahiert: »Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«. (224)
Wenn man Morelos statt Paris als Fallstudie nimmt, ist diese Schlussfolgerung zweideutig angesichts des einstweiligen Fortbestands von BäuerInnen und ArbeiterInnen, von Agrarreformen neben antikapitalistischen Kämpfen in den sich rasch industrialisierenden Zuckerfabriken (eine Zweideutigkeit, die sich für Bosteels durch die gesamte verborgene Geschichte der »mexikanischen Kommune« bis hin zum zapatistischen Aufstand von 1994 und zur Kommune von Oaxaca 2006 zieht). Das heißt, aus dieser Perspektive scheint es überhaupt nicht klar zu sein, dass das kompositionelle Geheimnis der Kommune eine singuläre »ArbeiterInnenregierung« ist, ebenso wenig wie die Gemeinschaftlichkeit verschiedener sozialer Fraktionen. Und genau das ist der Punkt. Innerhalb der Transformationen der Gegenwart ist die Form der Kommune undenkbar ohne die Modulation von der traditionellen ArbeiterInnenklasse zu einem erweiterten Proletariat. Das heißt, nicht an den produktiven ArbeiterInnen, sondern an der heterogenen Bevölkerung orientiert, an denen, die ohne Reserven sind. Wie beim Riot können in der Kommune zwar ArbeiterInnen mitwirken, aber nicht unbedingt als ArbeiterInnen. Ross argumentiert, dass die Kommune zum Teil durch die Fülle ihrer Beziehungen definiert wird: »Was die Kommune als politisches und soziales Medium bot, das die Fabrik nicht bot, war ein breiteres soziales Spektrum – eines, das Frauen, Kinder, die Bauernschaft, Alte und Arbeitslose einschloss. Sie umfasste nicht nur den Bereich der Produktion, sondern sowohl Produktion als auch Konsumtion«. (225)
Dies ist zunächst eine seltsame Behauptung, denn es ist der Kapitalismus selbst, der auf den ineinandergreifenden Kreisläufen von Produktion und Konsumtion beruht, eine Kopplung, die uns zu den beiden Urformen des modernen sozialen Kampfes geführt hat: Streik und Riot, Lohn- und Preisfestsetzung. Die Implikation muss sein, dass die Kommune die Produktion und den Konsum von Bedürfnissen (und Vergnügungen! – »kommunaler Luxus«, wie Ross es nennt) jenseits der Maßstäbe des Kapitals ermöglicht. Das heißt, jenseits von Lohn und Preis. So ist es in der Theorie. Ein Kommunismus der Gegenwart, der sich nicht mehr mit der Herrschaft der ArbeiterInnen über Produktion und Verteilung im sozialistischen Modus zusammenführen lässt, ist als Bruch des Index zwischen individuellem Arbeitseinsatz und dem Zugang zu den Notwendigkeiten zu verstehen – den beiden sozialen Aktivitäten, die jeweils durch Lohn und Preis geregelt werden. Er kann Produktion und Konsumtion im allgemeinen Sinne erhalten, aber er hebt die Vermittlungen auf, die die Produktion an den Konsum binden. Erst dann sind die strukturellen Zwänge des Werts und seiner Formen, die die sozialen Beziehungen organisieren, gebrochen. Aber im Schatten des abstrakten Lichts des Ideals lauert bereits eine praktische und konkrete Ahnung der Erkenntnis, dass die Kommune jenseits von kapitalistischer Produktion und kapitalistischem Konsum steht. Wenn wir uns also an dieser späten Stelle der materiellen Geschichte zuwenden, dann deshalb, weil wir von nirgendwo sonst aus aufgebrochen sind. Weder die Kommune von Paris noch die von Morelos kann unabhängig von den sozialen Katastrophen – den Umstürzen – verstanden werden, die ihnen vorausgingen. (226)
Die Kommune erscheint jenseits von Lohn und Preis, weil diese Kämpfe in keinem praktischen Sinn mehr möglich sind, weil die menschliche Reproduktion in diesem Moment weder am Arbeitsplatz noch auf dem Markt zu finden ist. In dem Maße, in dem die Kommune eine historische Öffnung darstellt, ist sie auch eine Schließung, und diese Schließung ist untrennbar mit ihrer wirkenden Existenz verbunden. Marx erinnert uns daran: »Die große soziale Maßregel der Kommune war ihr eignes arbeitendes Dasein«. (227)
Die Kommune hat also einen Fortbestand mit dem Riot. Sie setzt die Unmöglichkeit der Lohnfestsetzung als Mittel zur Sicherung jeglicher Art von Emanzipation voraus. Sie wird wahrscheinlich, so wie viele Kämpfe in der ersten Ära der Riots, von denjenigen initiiert wurden, für die die Frage der Reproduktion über den Lohn hinaus schon lange gestellt war – und die gesellschaftlich als Träger dieser Krise geformt wurden. »Die Frauen gingen zuerst vor«, erinnert uns Lissagaray an die Pariser Kommune: »Die Frauen vom 18. März waren durch die Belagerung gestählt – sie hatten eine doppelte Portion des Elends zu tragen gehabt – und warteten nicht auf ihre Männer«. (228) Diese geschlechtsspezifische Belagerung namens Gender hat bis heute nicht aufgehört.
Gleichzeitig bricht die Kommune aber auch mit der Basis des Riots, der Preisfestsetzung, weil die Vorsorge für den Lebensunterhalt bei einem solchen Vorgehen nicht mehr gewährleistet ist. Sie geht also gleichermaßen über Streik und Riot hinaus. In einer solchen Situation erweist sich die Kommune nicht als »Ereignis«, sondern als eine Taktik der sozialen Reproduktion. Es ist entscheidend, die Kommune zunächst als eine Taktik zu verstehen, als eine Praxis, die es theoretisch zu reflektieren gilt.
Was, jenseits von Streik und Riot, die Probleme und Möglichkeiten der Reproduktion von denen der Produktion und der Konsumtion unterscheidet, ist Folgendes: Die Kommune ist eine Taktik, die auch eine Lebensform ist. Die kommenden Kommunen werden sich dort entwickeln, wo sich sowohl die Produktions- als auch die Zirkulationskämpfe erschöpft haben. Die kommenden Kommunen werden wahrscheinlich zunächst nicht in ummauerten Städten oder in zurückgezogenen Gemeinden entstehen, sondern in offenen Städten, in denen diejenigen, die von der formellen Ökonomie ausgeschlossen und in die Zirkulation geworfen werden, nun über das Versagen des Marktes bei der Deckung ihrer Bedürfnisse wachen. Das Glacis um die Thierssche Stadtbefestigung ist jetzt der Boulevard Periphérique; Surplus-Bevölkerungen sammeln sich heute auf den Ringstraßen um Lima, Dhaka und Daressalam. Aber nicht nur dort. Alles zerfällt, Zentrum und Peripherie können es nicht zusammenhalten. Durch die Nacht kreisend, werden wir vom Feuer verzehrt. (229)
Vielleicht kann sich die »lange Krise« des Kapitals umkehren; es ist eine gefährliche Wette auf beiden Seiten. In der andauernden Krise jedoch erscheint die Reproduktion des Kapitals durch den Kreislauf von Produktion und Zirkulation – Lohn und Markt – zunehmend weniger als Möglichkeit, sondern als Grenze der proletarischen Reproduktion. Ein erloschener und doch brennender Kreislauf, in den der Riot spät zurückkehrt. Und doch erscheint er vorzeitig, immer zu viel und zu wenig zugleich. Die Kommune ist nichts anderes als der Name für den Versuch, diese Grenze zu überwinden, eine eigentümliche Katastrophe, die noch bevorsteht.
Fußnoten:
217 Research and Destroy: »The Wreck of the Plaza«, zuerst erschienen am 14. Juni, 2014 unter dem vielsagenden Titel »Plaza-Riot-Commune«, https://researchanddestroy.wordpress.com/2014/06/14/ the-wreck-of-the-plaza. (unsere Übers.)
218 Kristin Ross: Communal Luxury: The Political Imaginary of the Paris Commune, London: Verso, 2015, 14. (unsere Übers.)
219 Sasha X: Occupy Nothing: Utopia, History, and the Common Abject, Mediations 28: 1, Herbst 2014, 62. (unsere Übers.)
220 Phil A. Neel: »New Ghettos Burning«, 17. August 2014, http://www.ultra-com.org/project/newghettos-burning. (unsere Übers.)
221 Kropotkin zitiert nach Ross: Communal Luxury, 123 f. (unsere Übers.)
222 Bruno Bosteels: The Mexican Commune, Communism in the Twenty-First Century, Band 2, hrsg. von Shannon Brincat, Santa Barbara: Praeger, 2014, 168. (unsere Übers.)
223 Ebd.
224 Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, 342.
225 Ross: Communal Luxury, 112. (unsere Übers.)
226 Für eine Überblick der Morelos Commune vorausgehenden politökonomischen Bedingungen siehe Paul Hart: Bitter Harvest: The Social Transformation of Morelos, Mexico, and the Origins of the Zapatista Revolution, 1840–1910, Albuquerque: University of New Mexico, 2005, 149, 191 f. (unsere Übers.)
227 Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, 347.