Ghassan Salhab
So ziemlich das erste, was das libanesische Regime tat, nachdem die verheerende Explosion im Hafen von Beirut die halbe Stadt verwüstet hatte, und während noch viele Menschen unter Trümmern verschüttet vermisst wurden, war den militärischen Ausnahmezustand auszurufen. Nicht um die Rettungsarbeiten zu bündeln und zu organisieren, nein, zu durchsichtig war das Manöver. Im Wissen um die eigene Verantwortung, das Verbrechen des Nichthandelns (ein Bericht über die Situation im Hafen hatte schon Wochen dem gesamten Kabinett vorgelegen), ein weiteres Verbrechen der korrupten Elite an den Menschen der geschundenen Stadt, ging es ausschließlich um den Machterhalt. In diesem Spiel waren die folgenden Rücktrittserklärungen nur ein durchsichtiges Manöver, um diese Absicht zu verschleiern. Aber niemand glaubt ihnen mehr. Tagelange Proteste und Straßenschlachten, Ministerien wurden gestürmt und besetzt und auch wenn dieser Anlauf, so wie die Revolte im letzten Herbst, dass Regime nicht von der geschichtlichen Bühne fegen konnte, so sind doch seine Tage gezählt. So steht es geschrieben. Sūnzǐ Bīngfǎ
“Die Wahrheit ist wie Wasser, das die Form der Vase annimmt, die es enthält.”
Ibn Khaldun
Ordnung und Unordnung, diese beiden Gefahren, die die Welt ständig bedrohen, mit den Worten von Paul Valéry. Der Traum jedes Regimes, jedes Nationalstaates ist es, diese beiden Pole, die jeder menschlichen Organisation unabhängig von ihrem Ausmaß eigen sind, in die Hände zu bekommen und sie zu stimulieren, zu provozieren, schüren zu können, wenn es Unordnung stiften muss (und das muss es häufig), um den direkten und konsequenten Rückgriff auf die öffentliche Ordnung und deren Aufrechterhaltung zu rechtfertigen, solange es „notwendig“ ist.
Und in diesen Zeiten von Krisen aller Art, wiederholt, aufeinanderfolgend, überlagert, ist dieses katastrophale Spiel der Mächte, innerhalb und außerhalb des offiziellen Regimes, aktueller denn je. Muss immer noch daran erinnert werden, wer der Urheber für diese Krisen ist? Das am 4. August begangene Verbrechen ist in gewisser Weise der Höhepunkt dieser unerbittlichen Logik. Zum Teufel mit der Gesundheit, der Ernährung oder der sofortigen Umsiedlung der Opfer… von Generation zu Generation sind die Menschen schließlich gewohnt, über die Runden zu kommen. Sicherheit und nochmals Sicherheit als einzige Antwort, natürlich nicht im primären, elementaren Sinne des Wortes, der Bevölkerung, im Dienste der Lebenden, um es deutlicher zu sagen, sondern des einzigen Regimes, des absolutistischen Oktopus, seinem Machtsystem, ganz zu schweigen von den Liegenschaften und dem unternehmerischen Aas, das bereits am Werk ist.
Ausgerechnet das stinkende, verfaulte „Wir oder das Chaos“. Sie sind sich jedoch sehr wohl bewusst, dass immer weniger von uns getäuscht werden können, dass immer mehr von uns wissen, dass sie das Chaos selbst sind, dass sie es verkörpern, aber es ist ihnen egal, sie können, wissen sie, nur durch eine Bedrohung, sei sie physisch, psychisch oder wirtschaftlich, funktionsfähig bleiben. Dieses Kriegsrecht, das sie uns auferlegen wollen, diese Diktatur, die sich nicht wagt, ihren Namen auszusprechen, ist kurz gesagt der Ausdruck ihrer allmächtigen Ohnmacht. Und es gibt nichts Gefährlicheres als die Ohnmacht derer, die alles zu verlieren haben. Wenn sie in die Enge getrieben werden, sind sie bereit, noch Schlimmeres zu tun. Dieser Selbstzerstörung scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein.
Es stimmt, dass dieser militärische Ausnahmezustand offiziell für fünfzehn Tage verhängt wird, „begrenzt“ auf die Hauptstadt, aber das ist schon fünfzehn Tage zu lang, und wie jedes Dekret kann er verlängert werden. Und mit mir die Flut. Es wird ihnen nicht an Vorwänden fehlen, wobei die Ausbrüche des Coronavirus dabei helfen. Sie sind Gesetz, Ordnung und der Heilige Geist, während wir warten!
So komplex die politische Textur dieses Territoriums auch ist, es gibt genug, um den Weg für einen quasi-permanenten „Ausnahmezustand“ zu ebnen. Sicherlich ein libanesischer Ausnahmezustand mit seinen unvermeidlichen Verwirrungen und großen Unterschieden und seinem berühmten Dreizack: die Armee, der Widerstand und das Volk. Letzteres, natürlich als Letztes, wird mehr denn je klar aufgefordert, im richtigen Tempo zu marschieren. Jegliche Form des Protests, des Widerstandes, ist nun geächtet. Jeder Protestierende ist heute ein Staatsfeind.
Ghassan Salhab ist ein libanesischer Filmemacher, dessen Werk seit Jahrzehnten um seine geliebte Stadt Beirut kreist. Von ihm stammt auch der Beitrag “Stand der Dinge”, den wir in der letzten Ausgabe veröffentlicht haben und der ebenso wie dieser Beitrag aus Lundi Matin übersetzt wurde