Übersetzte Texte von Franco “Bifo” Berardi waren ja schon mehrmals sowohl auf Sunzi Bingfa als auch in den Pandemie Kriegstagebüchern von Sebastian Lotzer zu lesen. Das folgende Interview ist vielleicht die stringenste Intervention von “Bifo” in dieser Epoche der Welt am Abgrund. Das Interview wurde von Página12 geführt, eine Übersetzung ins Italienische findet sich bei den Genoss*innen von info aut. Unsere Übersetzung erfolgte aus dem Spanischen. Sunzi Bingfa
Página12: Mit dem Coronavirus rückt die Philosophie in den Mittelpunkt. Was ist Ihre Aufgabe in dieser Pandemie?
Berardi: Es ist seit Tausenden von Jahren dasselbe: das kollektive Denken zu verstehen, zu begreifen, zu ordnen. Der Philosoph versucht, das, was wir in der gemeinsamen Erfahrung wahrnehmen, in Konzepte umzuwandeln, die es uns ermöglichen, den Weg zu illuminieren. Es ist eigentlich sehr einfach, aber unter Umständen wird die Angelegenheit problematisch. Wenn das, was wir von der Realität verstehen, impliziert, dass es keinen ethischen, politischen oder wissenschaftlichen Ausweg aus einer Situation gibt, wenn die philosophische Vorstellungskraft sich keinen anderen Ausweg als die Barbarei, keinen anderen Horizont als die Auslöschung vorstellen kann, wird die Arbeit sehr schwer.
Wir müssen erkennen und erzählen, was uns vom Standpunkt des Verstehens aus unvermeidlich erscheint, aber gleichzeitig immer daran denken, dass vielleicht das Unvorhergesehene die Ebenen des Unvermeidlichen unterläuft.
Das ist der Auftrag der Philosophie: sich das Unvorhersehbare vorzustellen, es zu produzieren, zu provozieren, zu organisieren.
Ich glaube, dass wir im kommenden Jahr den endgültigen Zusammenbruch der Weltwirtschaftsordnung erleben werden, der die Tür zu einer im Wesentlichen chaotischen politischen und militärischen Hölle öffnen könnte. Das Chaos ist der wahre Herrscher der Pandemie-Ära. Ein Chaos, das der Kapitalismus nicht bezwingen kann. Es gibt in naher Zukunft keine sichtbare politische Alternative. Es gibt Aufstände. Es wird sie geben. Aber eine vereinheitlichende politische Strategie kann man sich nicht vorstellen.
In Jenseits des Zusammenbruchs entwirfst du zwei Szenarien: „Was von der kapitalistischen Macht übrig bleibt, wird versuchen, ein System der techno-totalitären Kontrolle durchzusetzen. Aber die Alternative ist jetzt da: eine Gesellschaft, die frei ist von den Zwängen der Akkumulation und des Wirtschaftswachstums. Wie könnte eine Alternative aufgebaut werden?
Die derzeitigen Folgen der Pandemie und der Abriegelungsmaßnahmen sind sehr widersprüchlich. In der wirtschaftlichen Sphäre, der Sphäre der Macht, gibt es divergierende, ja sogar gegensätzliche Tendenzen.
Auf der einen Seite erleben wir den Zusammenbruch der strukturellen Knotenpunkte der Wirtschaft. Der Zusammenbruch der Nachfrage, des Konsums, eine langfristige Deflation, die die Krise der Produktion und der Arbeitslosigkeit nährt, in einer Spirale, die wir als Depression definieren können, aber es ist mehr als eine wirtschaftliche Depression.
Es ist das Ende des kapitalistischen Modells, die Explosion vieler Konzepte und Strukturen, die Gesellschaften zusammenhalten. Gleichzeitig sind wir Zeugen der enormen Stärkung des Plattform-Kapitalismus und der digitalen Unternehmen als Gesamtheit.
Der Zusammenhang zwischen dem Finanzsystem und dem Zusammenbruch der Produktivwirtschaft scheint unverständlich: Die Wall Street bestätigt ihren positiven, fast triumphalen Trend. Gibt es eine riesige Wirtschaftsblase, die in naher Zukunft platzen könnte, oder bedeutet dies im Gegenteil, dass die finanzielle Abstraktion völlig unabhängig von der Realität der Realwirtschaft geworden ist?
Ich glaube, dass wir im kommenden Jahr den endgültigen Zusammenbruch der Weltwirtschaftsordnung erleben werden, der die Tür zu einer im Wesentlichen chaotischen politischen und militärischen Hölle öffnen könnte. Das Chaos ist der wahre Herrscher der Pandemie-Ära. Ein Chaos, das der Kapitalismus nicht bezwingen kann. Es gibt in naher Zukunft keine sichtbare politische Alternative. Es gibt Aufstände. Es wird sie geben. Aber eine vereinheitlichende politische Strategie kann man sich nicht vorstellen.
Du hast geschrieben, dass die Idee der Gleichheit”, „die in den letzten 40 Jahren in der politischen Vorstellung zerstört wurde“, an Bedeutung gewinnen könnte. Steht diese Aussage nicht im Gegensatz zu dem, was hier und jetzt geschieht? Das Virus hat Armut, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit noch weiter vertieft.
In der chaotischen Situation, die sich entfalten kann, werden sich autonome Gemeinschaften, egalitäre Überlebensexperimente ausbreiten. Natürlich gibt es heute den Versuch der Wirtschaft, der Mafia und der neoliberalen Kräfte, einen möglichst großen Teil des sozialen Reichtums, der materiellen und monetären Ressourcen zu übernehmen.
Aber das wird nichts stabilisieren.
Alle Stabilisierungsmaßnahmen, die von den politischen Regierungskräften in Europa wie auch anderswo versucht werden, können langfristig nichts stabilisieren.
Wachstum wird weder morgen noch jemals wiederkehren. Die Ökosphäre der Erde wird es nicht zulassen; sie lässt es ganz real nicht zu.
Die Nachfrage wird nicht steigen, nicht nur, weil die Löhne sinken, sondern auch, weil die durch das Virus hervorgerufene Krise nicht nur wirtschaftlicher Natur ist. Es ist im Wesentlichen psychisch, mental: Es ist eine Krise der Zukunftshoffnungen.
In dieser Situation müssen wir uns Formen des post-ökonomischen autonomen Lebens, der Selbstproduktion des Notwendigen, der bewaffneten Selbstverteidigung gegen die Macht, der globalen computergestützten Koordination vorstellen.
Was bedeutet deiner Meinung nach diese Pandemie für die globale geopolitische Ordnung?
Chaos tritt an die Stelle des Kommandos. Es existiert objektiv nicht mehr. Es herrscht Chaos, wenn die Ereignisse, die unsere Existenz betreffen, zu komplex, zu schnell, zu intensiv für eine emotionale und bewusste Verarbeitung sind. Der Virus, unsichtbar und unkontrollierbar, hat das Chaos auf ein bestimmtes Niveau gebracht.
Ich kann nicht vorhersehen, an welchen Punkten der Zusammenbruch die spürbarsten Auswirkungen haben wird.
Was mir sehr wahrscheinlich erscheint, ist ein Bürgerkriegsprozess in den Vereinigten Staaten. Nach einem Artikel, der vor einigen Tagen in den Dallas News veröffentlicht wurde, wird es keinen Bürgerkrieg geben, sondern eine chaotische Situation des permanenten Terrors. Amerikanische Bürger kaufen weiterhin Schusswaffen, obwohl es bereits mehr als eine Waffe für jeden Bürger, einschließlich Kinder und Großeltern, gibt. Trump ist kein vorübergehender Wahnsinn gewesen. Er ist der Ausdruck der weißen Seele eines Landes, das durch Völkermord, Deportation und Massensklaverei geboren wurde und gedeiht. Die globalen Auswirkungen des Zerfalls der Vereinigten Staaten sind nicht vorhersehbar.
Wenn ein Impfstoff auftaucht, glaubst du dass sich die Menschheit wieder beruhigt und der ökologische Schaden sich wieder verstärkt, oder wird die Beziehung zur Umwelt neu überdacht? Besteht die Gefahr, dass das Leben in einem permanenten Zustand von Pandemien stattfindet?
Natürlich gibt es sie. Corona war bisher nur eines der Viren, die sich ansteckend vermehren können. Ich kann nicht näher auf die Möglichkeit eines wirksamen Impfstoffs eingehen, weil ich kein Biologe bin, aber ich glaube nicht, dass die Erfahrung mit dem Coronavirus mit dem Impfstoff enden wird. Die Pandemie 2020 war erst der Beginn einer Ära globaler Katastrophen auf biologischer, ökologischer und militärischer Ebene. Auch die Auswirkungen der Pandemie auf die Umwelt sind widersprüchlich. Einerseits ist der Verbrauch fossiler Energieträger zurückgegangen, die industrielle und städtische Umweltverschmutzung wurde blockiert. Auf der anderen Seite zwingt die wirtschaftliche Situation die Gesellschaft dazu, sich mit unmittelbaren Problemen auseinanderzusetzen und langfristige Lösungen aufzuschieben.
Und es gibt keine Nachhaltigkeit auf der Ebene der Umweltkrise, während sich die Auswirkungen der globalen Erwärmung bereits entfalten. Gleichzeitig können wir uns aber auch die Schaffung von autonomen Gemeinschaftsnetzen vorstellen (und vorschlagen), die nicht vom Prinzip des Profits und der Akkumulation abhängen. Gemeinschaften des genügsamen Überlebens.
Die Macht des Politikers ist Wahnsinn, Rache, Wut gegen die Ohnmacht. Wenn die Politik in der Moderne Ausdruck des Willens war, so ist sie heute tot, weil der menschliche Wille seine Wirksamkeit gegenüber dem realen Prozess verloren hat.
Maristella Svampa, eine argentinische Soziologin, postuliert, dass die Metapher des unsichtbaren Feindes im politischen Diskurs die Umweltdimension des Virus verdeckt. Stimmst du dem zu?
Ich stimme zu. Covid-19 ist ein besonderer Ausnahmezustand des Zusammenbruchs der Umweltbedingungen. Die politischen Eliten scheinen mir der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, was sie sagen, scheint mir nicht sehr wichtig zu sein. Die Politik als Ganzes ist machtlos. Was tun „gute“ Politiker (wie Conte in Italien)? Sie wenden die obligatorische Hygiene Disziplin an, sie beugen sich der wissenschaftlichen Entscheidung, die an die Stelle der politischen Entscheidung tritt. Was tun die schlechten (Bolsonaro, Trump…)? Sie lehnen die wissenschaftliche Entscheidung ab und bekräftigen die Autonomie der Politik. Aber Politik ist zu einem Spiel ohne Grund, ohne Wissen geworden. Die Macht des Politikers ist Wahnsinn, Rache, Wut gegen die Ohnmacht. Wenn die Politik in der Moderne Ausdruck des Willens war, so ist sie heute tot, weil der menschliche Wille seine Wirksamkeit gegenüber dem realen Prozess verloren hat.
Wie stellst du dir die Beziehungen nach der Pandemie vor? – Wie sehen sie jetzt aus?
Die Pandemie markiert einen anthropologischen Zusammenbruch von abgründiger Tiefe. Denken wir an den menschlichsten Akt von allen: den Kuss, die Annäherung der Lippen, das allmähliche und süße Streicheln der Zunge im Mund eines anderen Menschen. Dieser Akt ist zum gefährlichsten und unsozialsten Akt geworden, den man sich vorstellen kann. Welche Auswirkungen wird diese Neuerung auf das kollektive Unbewusste haben? Eine phobische Sensibilisierung für den Körper und die Haut des anderen. Eine Epidemie der Einsamkeit und damit der Depression. Auf gesellschaftlicher Ebene bedeutet Entfremdung das Ende aller Solidarität. Auf der Ebene des Unbewussten ist sie gleichbedeutend mit der Atombombe. Wir müssen Affektivität, Begehren, Berührungen, Sex neu erfinden, aber… haben wir die psychische Kraft dazu? Das glaube ich nicht. Aber ich wiederhole es mit Nachdruck: Wir stehen an einer Schwelle, wir können nicht wissen, wie wir aus der Ohnmacht, in der das Unbewusste gefangen ist, herauskommen werden.
Agamben hat über die Beschränkung der Freiheit geschrieben, „die im Namen eines Wunsches nach Sicherheit akzeptiert wird, der von eben jenen Regierungen hervorgerufen wird, die jetzt eingreifen, um sie zu befriedigen. Was denkst du in Bezug auf die staatliche Kontrolle mit der Pandemie als Hintergrund?
Zunehmend wird der Staat mit den großen Computer-Kontrollagenturen identifiziert, die riesige Datenmengen erfassen. Er existiert nicht mehr als politische, territoriale Einheit. Er existiert immer noch in den Köpfen der Souveränisten der Rechten und Linken. Es gibt keine Politik, sie hat ihre ganze Macht verloren; es gibt den Staat als Organisation des kollektiven Willens nicht, es gibt keine Demokratie. Das sind alles Worte, die ihre Bedeutung verloren haben. Der Staat ist das Ensemble aus obligatorischer Disziplin im Gesundheitswesen, technisch-finanziellem Automatismus und der gewaltsamen Organisation der Repression gegen Arbeiterbewegungen. Der Ort der Macht ist nicht der Staat, eine moderne Realität, die mit dem Ende der Moderne zu Ende gegangen ist. Der Ort der Macht ist der Kapitalismus in seiner semiotischen, psychischen, militärischen, finanziellen Form: die großen Unternehmen der Herrschaft über den menschlichen Geist und die soziale Aktivität.
In den Ländern Lateinamerikas schwingt die Dichotomie, die sich in den europäischen philosophischen Texten (Kapitalismus-Kommunismus) abzeichnet, nicht in gleicher Weise mit. Hier denken wir eher in einem gegenwärtigen Zustand. Wie siehst du die Pandemie im Hinblick auf zwei Szenarien mit strukturellen Unterschieden wie Lateinamerika und Europa?
In Lateinamerika hat es eine besondere Kraft gegeben, einen neo-souveränen Diskurs der Linken, das, was wir nach der Version von Laclau, Jorge Alemán und anderen als linken Populismus bezeichnen könnten. Die Lullianische Erfahrung, die kirchneristische Erfahrung, die Erfahrung von Evo in Bolivien und der Chavismus sind allesamt Experimente mit der Souveränität des Volkes, der Demokratie, mit sozialen Versuchen. Sie waren wertvoll, vielleicht mehr oder weniger erfolgreich. Aber am Ende sind sie alle gescheitert, weil die Komplexität der kapitalistischen Globalisierung keinen Handlungsspielraum auf nationaler Ebene lässt und die Gewalt der Reaktion provoziert.
Die Pandemie ist ein Beweis dafür, dass es unmöglich ist, auf nationaler Ebene zu handeln. Natürlich kann es ein rationales Management der Pandemie geben, wie das Argentiniens, und einen unverantwortlichen und völkermörderischen Weg wie den Brasiliens. Aber am Ende verursacht die Pandemie eine globale Apokalypse, die keine vernünftige Politik verhindern kann. Sie markiert auch das endgültige Scheitern aller Souveränitäts-Hypothesen, der Linken wie der Rechten.
Was hälst du von den „Anti-Quarantäne“-Bewegungen? Ist die Idee der Freiheit von der extremen Rechten kooptiert worden?
Das Wort „Freiheit“ ist ein Missverständnis der modernen Philosophie und des politischen Denkens. Diejenigen, die im Zeitalter des techno-finanziellen Automatismus von Freiheit sprechen, wissen nicht, wovon sie sprechen. Der Feind der Freiheit ist nicht der politische Tyrann, sondern die mathematischen Verknüpfungen der Finanzen und die digitalen Verknüpfungen des zwangsweisen Zusammenschaltens.
Es gibt eine ontologische Freiheit, die bedeutet, dass Gott entschieden hat, die Richtung des menschlichen Lebens nicht zu bestimmen, und somit den Menschen den freien Willen überlässt. Aber die Frage, aus welchen Organismen sie sich zusammensetzen, bestimmt zutiefst die Möglichkeit der Tätigkeit der Organismen. Und soziale Angelegenheiten, die Wirtschaft, Krankheiten und die Verbreitung von Viren sind wahre Freiheitskiller.
Die Moderne ist in der Lage gewesen, einen wahren Freiheitsraum zu erfinden: Die Macht der modernen Politik (von Machiavelli bis Lenin) bestand in der Fähigkeit, strategisch zu wählen und taktisch so zu handeln, dass sie nicht die gesamte Realität, sondern relevante Räume der sozialen, technischen, ja sogar medizinischen Realität gestaltet hat. Das Ende der Moderne markiert auch das Ende dieser marginalen Freiheit: Die Schaffung von techno-finanziellen Automatismen hat die politische Macht des Willens zerstört; sie hat die Demokratie getötet. Das Wort Freiheit bedeutet heute nur die Freiheit, diejenigen auszubeuten, die sich nicht verteidigen können, andere zu Sklaven zu machen, Afrikaner zu töten, die überleben wollen, indem sie nach Europa einwandern. Freiheit ist heute ein mörderisches Wort. Nur Gleichheit ist ein Wort, das etwas Menschliches unter den Menschen wiederherstellen kann.
„Ich glaube, dass die gegenwärtige Pandemie den endgültigen Abschluss der modernen Ära der Expansion und den Eintritt in die Ära der Auslöschung markiert“, hast du geschrieben. Hast du dich jemals gefragt, wie viel Zeit wir noch haben? Ist das Aussterben unvermeidlich?
Zunächst einmal bin ich kein Wahrsager. Wenn ich sage, dass wir in das Zeitalter des Aussterbens eintreten, dann meine ich damit, dass am zukünftigen Horizont die bloße lineare Schlussfolgerung der bestehenden Trends (Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, globale Erwärmung, Verringerung des Lebensraums, Vervielfachung der Militärausgaben, Verbreitung von Kriegen, psychotische Epidemie) keine andere realistische Perspektive impliziert als das Aussterben der menschlichen Zivilisation (das sich bereits manifestiert) und der menschlichen Spezies (das immer wahrscheinlicher erscheint). Aber ich bin davon überzeugt, dass das Unvermeidliche oft nicht realisiert wird, weil das Unvorhersehbare die Tendenz hat, sich durchzusetzen.
Eines der vielen Dinge, die das Virus verändert, ist, wie Tod und Trauer erlebt werden. In “Jenseits des Zusammenbruchs” beziehst du dich auf die Rückkehr des Todes auf den Schauplatz des philosophischen Diskurses. Wie lässt sich dieser Wandel interpretieren?
Der Tod ist in der imaginären Szenerie der Moderne entfernt, geleugnet, ausgelöscht worden. Der Kapitalismus war der erfolgreichste Versuch, Unsterblichkeit zu erlangen. Die Akkumulation von Kapital ist unsterblich. Das menschliche Leben wird mit seinem abstrakten Produkt identifiziert und schafft es, in der Abstraktion unsterblich zu werden. Folglich lehnen wir die Idee unserer individuellen Sterblichkeit ab, denn wir betrachten das Leben als Privateigentum, das nicht beendet werden kann. Die systematische Zerstörung der Umwelt ist der Beweis dafür, dass wir nicht an die Sterblichkeit glauben: Es ist egal, ob wir die Natur töten, denn nur so können wir die Akkumulation von Kapital, unsere Ewigkeit verwirklichen. Aber die Pandemie zwingt uns zu erkennen, dass es den Tod gibt, dass er das Schicksal eines jeden Lebewesens ist. Die Abstraktion hat ihre Macht verloren, Geld kann im Angesicht des Todes nichts mehr ausrichten. Das Problem ist, dass wir nicht (nur) über das Individuum sprechen, sondern über die Auslöschung der menschlichen Spezies als Horizont unserer Epoche.
„Wenn die Pandemie schließlich abklingt (vorausgesetzt, sie verschwindet), könnte eine neue psychologische Identifizierung sich durchgesetzt haben: Online ist gleich Krankheit“, hast du geschrieben. Kannst du dies näher erläutern, und welchen Platz wird der Körper dann noch einnehmen?
Etwas sehr Interessantes konnte verifiziert werden: Nach einer langen Zeitspanne, in der die körperliche Beziehung durch eine Online-Beziehung ersetzt wurde, konnte eine psychische Identifikation der Online-Dimension mit Krankheit verifiziert werden, mit einer Periode der Einsamkeit und Angst. Wie wird diese Oszillation aufgelöst werden? Mit einer Epidemie von selbstmörderischem Autismus oder mit einer Explosion des befreienden Begehrens? Wir wissen es nicht, aber wir können über die Alternativen nachdenken, die uns an dieser Schwelle stehend vorgeschlagen werden.