“Alles ist möglich.“ Eine Art Flaschenpost über die „zweite Welle“.

Wu Ming, 19. Oktober 2020

Solange wir sagen können, „das ist das Schlimmste“, bedeutet dies, dass das Schlimmste noch kommen kann.

W. Shakespeare, König Lear

Die Trostlosigkeit der Piazza San Francesco überrascht Sie eines Abends Ende Juli, als Sie durch das Zentrum von Bologna zu Ihrer Mutter radeln, um einen Wasserhahn zu reparieren.

Der Platz vor der gotischen Fassade der Kirche ist von einem Zaun aus Absperrgittern umgeben. Es herrscht Leere, mit Ausnahme eines Fahrzeuges der Verkehrspolizei, das direkt im Zentrum geparkt ist.

Sie haben in den Zeitungen über die jüngste Maßnahme gegen die “Movida“ (1) gelesen. Sie wussten, dass der Bürgermeister unter dem Vorwand der Pandemie gegen einen ungebührlichen Treffpunkt vorgegangen war, weil die Jungen gegen die Kirchentür bummern und die jungen Leute kaltes Bier von illegalen Straßenhändlern trinken, auf dem bloßen Boden sitzend. Sie hatten davon gehört, aber Sie dachten, “piazza chiusa” sei eine Metapher, eine Art zu sagen, das ganze sei nichts anderes als ein weiterer Punkt auf der Liste der Verordnungen und Hinrichtungen, für die Virginio Merola (2) den Bolognesern in unangenehmer Erinnerung bleiben wird In diesem Fall der eines Bewohner des Palastes, der die Schuld auf die Piazza schiebt, ganz im Einklang mit den anderen Würdenträgern verschiedener Couleur und Rangordnung.

Aus Neugierde ändert man an diesem Juli Abend seine gewohnte Route und kommt an der Verbreiterung hinter dem Mercato delle Erbe vorbei, dreihundert Meter von der Piazza San Francesco entfernt. Dort, an den Tischen sitzend, vor den zehn Euro Aperitifs, versammeln sich die Stammgäste in den Lokalen, die diesen Straßenabschnitt bevölkern. Offenbar ist die Gefahr des Coronavirus umgekehrt proportional zu den Getränkepreisen, und das Virus zirkuliert mehr dort, wo man weniger ausgibt und umsonst sitzt. Nach dem letzten DPCM (3) vom 18. Oktober scheint es, dass es erst nach einer gewissen Uhrzeit grassiert.

Die Plätze sind das Herz einer Stadt, seit den Zeiten von Perikles und Platon. Sie sind das Sinnbild der Politik, der Begegnung, des Widerspruchs. Sie zu schließen bedeutet, die Idee der Staatsbürgerschaft an sich zu verachten, die Bürger a priori als unverantwortlich gegenüber sich selbst und dem Raum zu betrachten, in dem sie mit anderen zusammenleben. Im Februar schrieben wir in der zweiten Episode unseres Virus-Tagebuchs, dass die Agoraphobie, die Angst vor öffentlichen und offenen Plätzen, sich schon lange vor dem neuen Virus ausgebreitet hatte und dass der Notstand die Ideologie des Anstands, des „Herren in unserem eigenen Haus“, gestärkt hätte. Als wir von „Agoraphobie“ schrieben, dachten wir nicht, dass jemand diese Verbindung aus griechischen Begriffen wörtlich übersetzen würde. Die Piazza San Francesco ist seit mehr als zwei Monaten geschlossen, und seit einigen Tagen leben die Piazza Verdi – die im Universitätsleben schon immer ein streitbarer Ort war – und die nicht weit entfernte Piazza Aldrovandi im selben Paradoxon: Treffpunkte, an denen man sich nicht wiederfinden kann.

Doch dieser Agorazid lässt die Stadt gleichgültig. Die Räumung der drei Plätzen wird nicht im Zusammenhang mit anderen Räumungen, wie denen von XM24, Ex-Telekom, Atlantis, Bartleby, und… (4) gesehen. Am Ende des letzten Jahrhunderts löste die Drohung mit der “Schließung” der Piazza Verdi unmittelbare Reaktionen seitens der sogenannten „Revolutionäre” aus. Heute protestiert niemand, niemand plant auch nur einen Hauch von Demonstrationen (um Himmels willen, es wäre eine Versammlung).

Ein Bürgermeister verbietet Bürgern den Zugang zu öffentlichen Plätzen in der Stadt, ein Regional-Gouverneur teilt unisono mit, dass an Halloween eine „Ausgangssperre“ eingeführt wird, es ist wie in einem B-Movie-Horrorfilm. Schließlich nimmt der DPCM der Regierung diese Anregungen dankbar auf und gibt den lokalen Verwaltungen die Möglichkeit, Straßen und Plätze nach neun Uhr Abends zu sperren, weil der Coronavirus, wie bekannt sein dürfte, ein Nachtschwärmer ist.

Alles ist möglich. Denn alles wird für den edelsten aller Zwecke getan, nach dem Motto „um den Virus einzudämmen, müssen wir auf Kontingente der Freiheit verzichten“ (M. Giannini). Welche Freiheiten? Wessen Freiheiten? Auf welcher wissenschaftlichen oder zumindest empirischen Grundlage und aus welchen logischen Gründen?

Vielleicht könnten wir wirklich damit weiterkommen, wenn zumindest klar wäre, dass es nützlich ist. Wenn wir uns retten wollen, müssen wir uns maskieren (Fakt), die Plätze leeren (Fakt), Verhaltensprotokolle für Orte einführen, die von vielen Menschen frequentiert werden (Fakt)… nun, da wären wir also. Die Kranken werden aber offenbar immer kränker und kränker. Und im vorherrschenden Diskurs sind nach wie vor wir schuld, die „undisziplinierten“ und „listigen“ Italiener, die unerbittlich ein soziales Leben führen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit oder zur Schule fahren müssen und sich fit halten wollen, anstatt sich einer Krankheit hinzugeben.

Es ist dasselbe Skript, das wir von Februar bis Mai gehört haben. Wie damals ist es ein Skript, das nicht nur klassizistisch und irreführend, sondern auch absurd und tragisch zugleich ist, denn wenn nach sieben Monaten das Gesundheitssystem wieder vom Zusammenbruch bedroht ist, bedeutet dies, dass die wirksamste Maßnahme in der Zwischenzeit die der geneigten Drehung der Erdachse, d.h. der Sommer, war. Jetzt, wo die Kälte zurück ist, brauchen wir Ablenkungsstrategien. Es muss noch einmal betont werden, dass wir es sind, die nicht „tugendhaft“ genug sind, um den Fokus von der Führungsunfähigkeit dieser Monate und von den katastrophalen Ergebnissen der Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte, die jetzt immer offensichtlicher werden, abzuwenden.

Sicher ist, dass wir eine Generation ficken. Und wer weiß, ob wir in ein paar Jahren nicht mit Zinseszins dafür bezahlen werden und eine Rache entfesselt haben, angesichts der ’68 verblasst. Wenn dies geschieht, werden wir wissen, wen wir anfeuern müssen.

Es ist dieselbe Ablenkung wie bei der Klimakatastrophe: Es muss Ihr persönliches Verhalten sein, das das Problem löst, und nicht das der politisch-wirtschaftlichen Macht, die die wirkliche Wende bringen könnte. Das Mea culpa auf dem Altar des Kapitals zu rezitieren, ist das groteske Schicksal, mit dem man uns resignieren lassen möchte.

Vor etwa einem Monat verschwand die Nachricht, dass es in den industriellen Schlachthöfen Höchstwerte der Ansteckung gab, aus dem Blickfeld. Hat jemand daran gedacht, sie zu schließen und für eine Weile auf Fleisch zu verzichten? Zuvor waren die Brutstätten in den Logistikzentren gefunden worden, unter den Spediteuren, die in ganz Italien unterwegs sind. Hat jemand ihre Schließung gefordert, indem er die Bürger aufgefordert hat, die Aussetzung der Lieferung nach Hause als einen notwendigen Bärendienst zu akzeptieren? Wer arbeitet an diesen Orten? Unter welchen Bedingungen lebt und bewegt er sich? Wie ist die gesundheitliche Sicherheit in Fabriken und Büros im Allgemeinen? Und um wie viel wurden die öffentlichen Transportmittel aufgestockt, um mehr Sicherheit zu erreichen? Die Brutstätten an den Arbeitsplätzen verdienen nur ein paar Wimpernschläge, so wie im März, als es einen erbitterten Kampf gegen Läufer und Walker gab, während die Fabriken in Val Seriana voll ausgelastet waren, trotz des Phantoms, dass das technisch-wissenschaftliche Komitee – wie wir später herausfanden – sofort eine örtliche Abriegelung empfahl.

In der Zwischenzeit legt die Regierung zwar den Akkordarbeit Anteil auf 75 % fest (heute bekannt unter dem Euphemismus „intelligentes Arbeiten“), aber die Regierung verhandelt mit Arbeitgebern und Gewerkschaften über die Verlängerung der Sperrfrist, als wäre es im Mai. (5) Eine Dringlichkeitsmaßnahme genau dann, wenn klar wird, dass der Notstand lange genug dauern wird, um normal zu werden, und mit einem Gesamtplan für eine langfristige Einkommensunterstützung angegangen werden sollte. Denken Sie darüber nach, wie wir sicherstellen können, dass Arbeitnehmer nicht entlassen werden, wenn viele von ihnen ihren Arbeitsplatz oder ihren Arbeitgeber nicht mehr finden werden, weil sie mittlerweile geschlossen haben. Diejenigen, die das Land führen, sind immer zwei Schritte hinter der Pandemie zurück. Aber es ist immer unsere Schuld.

Während sie uns täglich mit dekontextualisierten und fetischisierten Zahlen und Daten ins Visier nehmen, sprechen die Massenmedien lieber über die “Movida”, die Schule und die Fußballveranstaltungen: Das heißt, über junge Menschen, die unproduktiv sind. Und gesund. Der perfekte Sündenbock: schuldig, nicht genügend opferfreudig zu sein, leben zu wollen und vor allem nicht krank zu werden.

Von allen denkbaren Dystopien haben wir die schlimmste erlebt: die Diktatur der Unfähigen. Und das heißt nicht, dass wir es nicht verdient hätten.

Die Ansteckungen in den Schulen, so begrenzt sie auch sein mögen, erhalten eine enorme Medienaufmerksamkeit, auch wenn sie nicht die erhoffte Genugtuung bringen, im Gegenteil. Daten des Bildungsministeriums, die einzigen, die bekannt sind, besagen, dass die infizierten Schülerinnen und Schüler am 10. Oktober 0,08% der Gesamtzahl ausmachten, Lehrerinnen und Lehrer 0,133% und nicht-lehrendes Personal 0,139%. Der Ort mit der höchsten Konzentration von Minderjährigen in der italienischen Gesellschaft hat also keine höhere Infektionsrate.

Es ist jedoch derjenige, dem von den Medien die größte Aufmerksamkeit geschenkt wird, gezielt getadelt, wo der Fernunterricht im Rotationsverfahren durchgeführt wird, nachdem er in „integrierte digitale Didaktik“ umbenannt wurde, um ihn organisch zu den normalen Studiengängen zu machen, wie es einige Lehrer bereits im April vorausgesagt hatten; während der „normale“ Unterricht noch nicht wirklich begonnen hat, weil einen Monat nach der Wiedereröffnung der Schulen in vielen Institutionen die Unterrichtszeiten durch die Abwesenheit vieler Lehrer beeinträchtigt werden.

Dasselbe geschieht mit dem Jugend-Sport. Vom Frühjahr bis heute waren Amateur-Kontaktsportarten zunächst verboten, dann mit den Abstandsprotokollen wieder zugelassen, dann wurden die Wettkämpfe wieder aufgenommen, dann wieder ausgesetzt und der Kontakt erneut verboten. Nur die Resignation hindert uns daran, Rechenschaft über Akkordeon-Entscheidungen wie diese zu verlangen, die jede Planung und Kontinuität verhindern, d.h. zu fragen, auf der Grundlage welcher Daten, wie viele positive Tamponierungen zwischen Jungen und Mädchen, Maßnahmen im Sport ergriffen werden, die jedoch zufällig nie die Professionalität beeinträchtigen. Wollen wir den Interessen des Großkapitals nicht schaden?

Und somit ein langes Leben für die audiovisuellen Medien (für diejenigen, die sie haben), mit denen man Schule, Geselligkeit, Spaß haben kann, alles vom eigenen Schlafzimmer aus (für diejenigen, die eins haben).

Sicher ist, dass wir eine Generation ficken. Und wer weiß, ob wir in ein paar Jahren nicht mit Zinseszins dafür bezahlen werden und eine Rache entfesselt haben, angesichts der ’68 verblasst. Wenn dies geschieht, werden wir wissen, wen wir anfeuern müssen.

Man sagt uns, wenn wir nicht zur Geißelung zurückkehren, wird es noch schlimmer als der Frühling. Wahrscheinlich ist es sogar wahr, es könnte viel schlimmer sein, denn auf uns wartet der Winter und nicht der Sommer. Und so akzeptieren wir diesen Zustand als notwendig und tun so, als wüssten wir nicht, dass der Übergang von der Notwendigkeit zur Normalisierung sehr schmal ist. Genau so funktioniert die Notstandspolitik. Nichts Neues.

Aber wir erleben eine traurigere Dystopie als der Cyberpunk, der in den 1980er und 1990er Jahren die Science-Fiction dominierte. Von allen denkbaren Dystopien haben wir die schlimmste erlebt: die Diktatur der Unfähigen. Und das heißt nicht, dass wir es nicht verdient hätten.

Fußnoten Übersetzer:

  1. Bei “Movida” handelt es sich um einen ursprünglich spanischen Begriff, der das “ausschweifende und laute” Nachtleben junger Leute in den Ausgehvierteln beschreibt
  2. Amtierender Bürgermeister von Bologna
  3. Dekret des Ministerpräsidenten in Bezug auf die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona Pandemie. Es wurden seit März 2020 mehrere DPCM erlassen
  4. Verschiedene linke Projekte und Zentren in Bologna die in den letzten Jahren von den Bullen geräumt wurden
  5. Die Aufrechterhaltung der Produktion von nicht lebenswichtigen Gütern sowie von nicht relevanten Tätigkeiten in der Pandemie stießen (und stoßen) teilweise auf den Widerstand von Belegschaften und Basisgewerkschaften, einige Infos dazu finden sich bei labournet unter https://www.labournet.de/category/internationales/italien/, desweiteren sei auf ein Interview mit einer Basisgewerkschaftlerin aus Bergamo verwiesen: https://www.marx21.de/italien-coronakrise-interview-eliana-como-streiks-gewerkschaften/