12.12.1980 Berlin – Der Tanz beginnt. [Häuserkampf und Klassenkampf Part 2]

Eine verhinderte Hausbesetzung in Berlin Kreuzberg, Gerüchte über eine anstehende Räumung, wenige später liegt Kreuzberg im Tränengas Nebel. Überall Barrikaden, Plünderungen, Kämpfe mit den Bullen. Am nächsten Tag Scherbendemo auf dem Kurfürstendamm, drei Tage Unruhen in der Stadt. Zu Silvester demonstrieren zehntausend Menschen vor dem Frauengefängnis in der Lehrter Straße und dem Männeruntersuchungsknast in Moabit für die Freilassung der bei den Kämpfen Inhaftierten.

Der Berliner Häuserkampf nimmt ordentlich Fahrt auf. Wir veröffentlichen zum Jahrestag der Ereignisse vorab eine Folge unserer neuen Reihe ‘Häuserkampf und Klassenkampf’ auf Sunzi Bingfa. Der Beitrag besteht aus einem Kapitel aus dem Roman “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz”, das uns vom Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde, sowie einer Chronologie der Tage, die dem Extrablatt der Radikal entnommen wurde, dass wenige Tage nach den Geschehnissen breit in der Stadt verteilt wurde. Das vollständige Extrablatt findet Ihr als PDF hier. Später erscheint noch eine umfangreiche Dokumentation des Berliner Ermittlungsausschusses, die findet ihr hier.

Begrabt mein Herz am Heinrichplatz, Kapitel Fünf / Dezember 1980

Sebastian Lotzer

Es lag kein Schnee. Das ist merkwürdigerweise immer das Erste, an das er später denken wird, wenn er sich an diesen Tag erinnert. Paul ist am späten Nachmittag zum Görlitzer Bahnhof gefahren, um sich mit Olli im Elefanten zu treffen. In den letzten Wochen hat er die Stunden nach der Schule damit verbracht, Werbeprospekte in die Briefkästen zu stecken. Sein Vater hat ihm klipp und klar erklärt, dass mehr Taschengeld nicht drin sei. Er maloche schließlich nicht nur um den Freizeitspaß seines Filius zu finanzieren. Zum Glück für Paul ist das Einwerfen der Prospekte schnell erledigt. Sechs Mietparteien pro Stockwerk und fast nur Elf- und Zwölfgeschosser. Die fünftausend Stück sind schnell verteilt.

Olli hat sowas nicht nötig, der schraubt für die anderen an deren Mopeds herum.

„Fünfzig Prozent mehr Leistung. Garantiert! Darfste dir nur nicht mit erwischen lassen. Und wenn – mich haste noch nie gesehen.“

Als Paul durch die Tür des Elefanten tritt, begrüßt ihn der Kneipenwirt mit einem dezenten Kopfnicken. Paul fühlt sich dazugehörig und freut sich darüber wie ein Schneekönig. Im Gastraum ist noch nicht viel los. Nur am Tresen hocken ein paar Stammgäste. Paul gesellt sich dazu.

„Im Prinzip verkehrt im Elefanten das gleiche Publikum wie im Slainte, nur ein bisschen älter und einen Hauch proletarischer“, denkt sich Paul.

Draußen wird es langsam dunkel und die Beleuchtung im Elefanten gibt auch nicht viel her. Die Wände des Lokals sind wie in einer gewöhnlichen Eckkneipe bis zur halben Höhe mit Holz getäfelt, das vom vielem Nikotin eine dunkelbraune Färbung bekommen hat. Ungefragt schiebt Walter Paul ein großes Bier über den Tresen. Paul macht auf lässig und bedankt sich nur mit einem Nicken. Während er sich eine Zigarette dreht, hängt er seinen Gedanken nach. Er weiß nicht so recht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Seit der Oberstufe werden seine Noten mit jedem Semester ein bisschen schlechter. Aber mit etwas Glück wird es fürs Abitur schon reichen. Seine Mutter nervt ihn zunehmend mit ihrer Fragerei, wie es denn nach der Schule weitergehen soll. Er weiß darauf einfach keine Antwort. Es ist nicht so, das seine Eltern allzu viel von ihm erwarteten. Immerhin ist er der Erste aus der Familie, der überhaupt Abi machen wird. Er selbst findet das nicht außergewöhnlich. Auf seiner Schule sind in seinem Jahrgang fast alle Mitschüler Kinder von Arbeitern oder einfachen Angestellten. Sogar zwei türkische Mädchen, mit denen er schon gemeinsam zur Grundschule gegangen ist, werden jetzt bald das Abitur machen. Mit den meisten Lehrern kommt Paul ganz gut klar. Bis auf mit dem Typen, der bei ihnen Geschichte unterrichtet. Von dem heißt es, er sei selbst im Deutschen Philologenverband noch ein Rechtsaußen. Mit dem rasselt Paul im Geschichte Leistungskurs ständig aneinander. Für seine abweichenden Meinungen gibt es dann Punktabzüge bei den Noten. Eigentlich eine Sauerei, aber scheiß drauf! Vielleicht wird er nach dem Abi erst einmal aus diesem Land abhauen. Irgendwohin in den Süden. Er kennt ein paar Leute, die fahren jedes Jahr zur Weinernte nach Südfrankreich. Sechs Wochen richtig reinhauen und es sich dann mit dem Geld in der Sonne zwei, drei Monate gut gehen lassen. Oder er investiert mehr Zeit in sein Gitarrenspiel. Bei den Mädchen macht es sich ganz gut, wenn er sich auf einer Fête seine Klampfe greift und ein bisschen was zum besten gibt. So oder so, ihm würde schon noch was einfallen.

Ein Schlag auf seine rechte Schulter reißt ihn aus seinen Gedanken.

„Was machst du denn noch hier?“

Olli grinst ihn an.

„Was soll ich hier schon machen? Ich warte, dass mein sechs-bester Freund endlich antanzt und mich hier nicht alleine vor meinem Bier verschimmeln lässt.“

Paul legt mehr Gereiztheit in seine Stimme, als er eigentlich will.

Aber Olli bleibt gelassen.

„Sechs- bester Freund. Soso. Naja, det will ick mal nu nich jehört haben. Im übrijen jibts für meene Verspätung ’ne plausible Erklärung: Am Kotti jeht die Post ab! Da hab ick ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass der werte Herr hier in die Kaschemme in Seelenruhe sein Bier trinkt.“

Paul verdreht die Augen. Immer das Gleiche. Immer, wenn sie in Kreuzberg unterwegs sind, macht Olli einen auf Droschkenkutscher. Superprollpose.

„Kannst du mir bitte in deinem normalem Deutsch erklären, was da geht die Post ab bedeutet?“

„Mensch Action, Alter! Die Bullen haben wohl ’ne Neubesetzung am Fränkelufer geräumt und jetzt wollen sie auch noch in das besetzte Haus in der Admiralstrasse. Voll krass. Am Kotti fliegen schon die Steine und die Bullen drehen völlig frei. Ich wollt mir gerade bei Annie ’ne Currywurst holen, als die wie die Verrückten mit ihren Wannen angerast gekommen sind. Springen aus ihren Wannen raus und fangen sofort an mit Tränengas um sich zu schmeißen. Dabei haben die Leute am Kotti einfach nur so rumgestanden. Haben sich die Leute aber nicht bieten lassen und zack, sind schon die ersten Klamotten geflogen. Die Wannen haben sich dann wieder verdrückt und zack, war die Commerzbank dran. Und jetzt kommt’s! Kurz darauf biegt ein Streifenwagen um die Ecke und bremst scharf vor der Commerzbank. Springen zwei Bullen raus und ziehen sofort ihre Knarre. Die haben sie doch nicht mehr alle! Mit Knarre, Alter…. wegen ’nen paar kaputten Scheiben. Ich habe dann erstmal ’nen Abgang gemacht und dachte mir, holste mal deinen Kumpel Paul aus der Kneipe ab. Weißte ja, allein machen sie dich ein, und so…“

Paul findet, das Olli sich ein bisschen als alter Hase aufspielt, aber sei es drum. Er trinkt auf die schnelle sein Bier aus. Zahlt seine Zeche bei Walter, steckt seinen Tabakbeutel ein und folgt Olli hinaus auf die Straße.

Vom Elefanten aus gehen sie auf direktem Wege zum Kotti. Als sie in die Adalbertstraße einbiegen, sehen sie das unter der Überführung des NKZ aus Baustellenmaterial eine Barrikade gebaut worden. Als sie auf den Bürgersteig ausweichen, bemerken sie mehrere türkische Frauen, die mit Kartons unter dem Arm aus dem Salamander Schuhgeschäft kommen. Auch beim benachbarten ALDI gehen Leute durch die zerschlagene Glastür ein und aus. Merkwürdigerweise sind keine Bullen zu sehen. Hinter ihnen gibt es einen lauten Knall, als ein weiterer Bauwagen auf die Straße gezogen und umgeworfen wird. Es ist eine bunte Mischung auf den Straßen unterwegs. Hausbesetzer, Studenten, Jugendliche aus dem Kiez, Leute, die gerade aus dem Kino kommen. Zwei Punkerinnen machten sich einen Spaß daraus, auf offener Straße verschieden Pomps anzuprobieren und damit eine Modenschau zu improvisieren. Es scheint, als hätten alle ihren Spaß. Als dann aus Richtung Oranienstraße fünf Wannen mit hohem Tempo herangerast kommen, ändert sich das Bild schlagartig. Vor der Barrikade in der Adalbertstraße bremsen die Fahrzeuge scharf und die Türen fliegen auf. Uniformierte springen aus den Wagen und fangen sofort an, auf alles einzuprügeln. Wer nicht schnell genug wegkommt, hat Glück, wenn er nur ein paar Schläge auf den Rücken abbekommt. Paul und Olli flüchten durch den Durchgang der Ladenzeile.

Vor dem Mieterladen in der Dresdener Straße hat sich eine Traube von Menschen gebildet, die aufgeregt miteinander diskutieren. Mitglieder der BI SO 36, türkische und deutsche Anwohner. Eine Gruppe Bullen kommt aus Richtung Oranienplatz auf die Menge zu, die teilweise auf der Fahrbahn der Sackgasse steht. Einige aus der Menge gehen mit erhobenen Händen auf die Bullen zu, werden aber sofort mit den Schilden beiseite geschoben. Ein schon etwas älterer Mann, der sich als Betreiber der naheliegenden Drogerie vorstellt, begehrt daraufhin den Einsatzleiter zu sprechen. Die Bullen lassen sich aber auf keine Diskussion und versuchen in den Mieterladen einzudringen. Viele nehmen das Vorgehen nicht einfach hin, drücken gegen die

Schilde. Sofort werden die Schlagstöcke eingesetzt. Zwei Bullen greifen sich willkürlich einen aus der Menge und schleppten ihn in Richtung NKZ. Auf die empörten Proteste wird mit weiteren Knüppelschlägen reagiert. Dann kommt ein Befehl und die Bullen verschwinden so schnell wie sie gekommen sind.

Paul und Olli stehen vor dem Babylon und beobachten die Szenerie. Paul ist wütend, aber er hat auch Angst. Olli dreht zwei Zigaretten für sie und sie beratschlagen sich.

Paul schlägt verlegen vor: „Vielleicht sollten wir noch einmal ins Slainte. Mal Luft schnappen.“

Olli schaut ihn an und legt seinen Arm um Pauls Schultern.

„Mir ist auch mulmig. Aber wir können doch jetzt nicht einfach Bier trinken gehen.“

Paul ist Olli unglaublich dankbar dafür, dass er ihn nicht alleine lässt mit seiner Angst.

„Du hast recht. Und was machen wir stattdessen?“

Bevor sie dazu kommen, eine Entscheidung zu treffen, kommen immer mehr Leute durch den Durchgang des NKZ gerannt. Panik steht in den Gesichtern geschrieben. Dann tauchen die ersten weißen Helme auf. Ein junger Mann gerät ins Stolpern, fällt zu Boden. Bevor er sich wieder aufrappeln kann, haben die ersten Bullen ihn erreicht. Mit langen Holzknüppeln schlagen sie immer und immer wieder auf ihr am Boden liegendes, wehrloses Opfer ein. Der junge Mann rollt sich wie ein Embryo zusammen und versucht seinen Kopf mit seinen Armen zu schützen. Die Bullen schlagen und schlagen weiter auf ihn. Paul kann seinen Blick nicht abwenden. Die Zeit scheint sich ins Unendliche auszudehnen, es will einfach nicht aufhören. Erst als der junge Mann sich nicht mehr bewegt, lassen die Bullen von ihm ab. Als die Bullen weiter gegangen sind, rennen Paul und Olli zu dem Verletzten. Eine kleine Blutlache hat sich auf dem Pflaster unter dem Kopf des Mannes gebildet. Paul geht in die Knie und beugt sich zu ihm herunter. Er weiß nicht, was er machen soll. Ihm stehen die Tränen in den Augen, er fühlt sich so hilflos. Immer mehr Menschen kommen angelaufen und stehen ratlos um sie herum. Wie ein überfordertes Kind streichelt Paul den linken Arm des Mannes.

„Lass mich mal ran.“

Eine weiche Stimme erlöst Paul. Eine Frau, Anfang vierzig, beugt sich nun über den Verletzten und tastet ihn vorsichtig ab.

„Hilf mir, wir müssen ihn auf die Seite drehen. Fass ihn vorsichtig an der Hüfte an und auf drei drehen wir ihn auf links.“

Sie drehen den Mann auf die Seite und die Frau prüft nun die Atmung des Mannes.

„Alles in Ordnung, er atmet noch. Aber wir brauchen ein Krankenwagen. Im Mieterladen gibt es ein Telefon. Kannst du dich bitte darum kümmern?“

Eindringlich schaut sie Paul an. Und der ist dankbar, dass er etwas tun kann. Ist dankbar, dass er weg darf. Er rennt los, Olli im Schlepptau.

Im Viertel rund um Heinrichplatz und Kottbusser Tor hängt überall Tränengas in der Luft. Die Bullen bekommen die Situation trotz weiterer eintreffender Verstärkungen einfach nicht in den Griff. Sie müssen sich an vielen Stellen zurückziehen, weil sie so massiv mit Steinen beworfen werden. Überall werden Autos und Bauwagen auf die Fahrbahnen geschoben und angezündet. Dadurch müssen die Bullen immer wieder von ihren Fahrzeugen absitzen und zu Fuß durch die Straßen hetzen. Die Kämpfe dauern nun schon mehrere Stunden und auch Olli und Paul sind völlig erschöpft. Ihre Augen brennen einfach nur noch und die Beine sind unsagbar schwer geworden. Seit der Geschichte in der Dresdener Straße sind sie nicht mehr zur Ruhe gekommen. Sie haben das Gefühl, das es an der Zeit ist, nach Hause aufzubrechen. Durch die Adalbertstraße ist vor lauter Bullen kein Durchkommen in Richtung U Bahnhof Kottbusser Tor. Daher beschließen sie, sich über den Oranienplatz in Richtung Wassertorplatz durchschlagen, um von dort aus in Richtung Einundsechzig zu gelangen. Als sie den Oranienplatz erreichen, sehen sie wie ein Trupp von fünfzig Bullen versucht eine Barrikade am Rande des Platzes zu stürmen. Eine Meute von zweihundert Leuten schlägt den Angriff der Bullen zurück. Der Rückzug der Bullen wird frenetisch gefeiert. Allerdings hält der Jubel nicht lange an. Nur fünf Minuten später stoßen aus drei Richtungen Bullenwagen auf den Oranienplatz vor. Paul sieht wie eine Wanne einen fliehenden Mann mit langen Haaren mit voller Wucht anfährt, sodass er über einen großen Betonkübel fliegt. Der Mann scheint sich nicht mehr bewegen zu können und liegt mit seinem Rücken auf dem Betonkübel. Der Fahrer der Wanne setzt einige Meter zurück und fährt dann mit voller Wucht in die Beine des Mannes, die über den Rand des Betonkübels ragen. Paul beobachtet aus fünfzig Meter Entfernung wie gelähmt das Geschehen. Er zieht sich das Halstuch herunter, das er gegen das Tränengas vor sein Gesicht gezogen hat und erbricht sich augenblicklich im Rinnstein.

Hört auf zu heulen es hat doch gerade erst angefangen.

RADIKAL EXTRABLATT 12.1280. – 15.12.80

Versuch einer Chronologie

Freitag, 12.12., ca. 17 Uhr

40-50 Bullen verhindern die begonnene Hausbesetzung Fraenkelufer 48 und nehmen 7 widerstandslose Instandbesetzer fest. Kurz darauf versammeln sich 150 Leute vor dem Haus, worauf die Bullen zurückkommen und abriegeln. Die sich inzwischen angesammelten Leute laufen zum nahegelegenen besetzten Haus Admiralstr. 20, weil das Gerücht umgeht, hier solle auch geräumt werden.

Kurz darauf tauchen Bullen auf, die Leute prügelnd in Richtung Kottbusser Tor treiben. Hierbei werden Leute festgenommen.

Am Kottbusser Tor sammeln sich sechs Wannen, fahren auf den Bürgersteigen knapp an Passanten vorbei, wodurch sie provozieren, daß die ersten Steine gegen eine Wanne und gegen die Commerzbank fliegen. Ein Bulli pflanzt sich vor die Commerzbank auf. Zwei Bullen springen raus und laufen mit gezogener Knarre auf die 300 Leute zu, die sich inzwischen vor Aldi gesammelt haben. Der so alleingelassene Bulli wird kurzerhand umgekippt. Gleich darauf kriegen die Bullen Verstärkung. Es kommt zu weiteren Prügeleien, wobei auch unbeteiligte Passanten verletzt werden.

Steine fliegen gegen etliche Scheiben von Geschäften und Banken. Die Situation spitzt sich zu, die Auseinandersetzungen weiten sich auf die Umgebung Oranienstraße, Adalbertstraße und Dresdener Straße aus, wobei es weiter, auch unter Tränengaseinsätzen, zu brutalen Polizeiübergriffen kommt. Die ersten Plünderungen beginnen (Aldi, Schuhgeschäft), Barrikaden werden errichtet, um die Bullen hinter sich zu lassen (an der Adalbert-, Naunyn-, Oranienstraße und am Oranienplatz).

Gefangene werden auch nach der Festnahme brutal mißhandelt. Verhandlungen zwischen einem Mitglied der BI SO 36 und dem Einsatzleiter der Polizei über den Abzug der Bullen scheitern.

Etwa 100 Leute versammeln sich im total überfüllten Mieterladen Dresdener Straße, um über die weitere Vorgehensweise zu beraten.

Immer mehr Bullenwagen tauchen vor dem Mieterladen auf und provozieren so eine weitere Eskalation, indem sie versuchen, einen angeblichen Steinewerfer aus dem Laden zu holen (gegen 0.30 Uhr). Nachdem ihr Versuch gescheitert ist, führen sie einen völlig Unbeteiligten vor dem Laden ab. Forderungen der BI an die Bullen, den Verhafteten freizulassen, werden nicht erfüllt.

Statt der Vereinbarung, daß die Bullen bis 1.45 Uhr sämtliche Kräfte abziehen, kommt es zu schwersten Konfrontationen am Oranienplatz, als Einsatztruppen in die diskutierenden Menschenmengen hineinrasen, knüppeln und mit Steinen empfangen werden.

Dieses Täuschungsmanöver der Bullen hat schließlich Barrikadenbau und Steinhagel zur Folge. Die Brutalität der Bullen erreicht gegen 1.45 Uhr ihren Höhepunkt: Zwei Bullenwagen rasen zwischen Barrikade und Ampel am Oranienplatz voll in die Menschenmenge, dabei gibt es viele Verletzte, unter anderem ein 26-jähriger, dem beide Beine gebrochen und ein Oberschenkel zerquetscht werden.

Kurze Zeit später wird ein einzelner Zivilbulle in der Oranienstraße entwaffnet und mit einem Tritt und kräftiger Ohrfeige weggejagt.

Zwischen 2.15 Uhr und 4.40 Uhr: Um diese Zeit, wird wieder unter großem Tränengaseinsatz, nach mehreren vergeblichen Versuchen, mit Räumfahrzeugen mit der Beseitigung der Barrikaden begonnen. Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es über 60 Verhaftete und zu viele Verletzte, deren Zahl noch nicht abzuschätzen ist.

Samstag, 13.12.

Um 16.00 Uhr ist ein Treffen im Spektrum angesetzt, um über die Ereignisse am Freitag und über die weitere Vorgehensweise zur Freilassung der Gefangen zu beraten. Es wird ein Ultimatum gesetzt: Um 20.00 Uhr müssen die Festgenommenen rausgelassen sein. Ab dann rufen ständig Leute im Spektrum an, um zu erfahren, ob das Ultimatum erfüllt ist. Falls nicht, sollen dezentrale Aktionen laufen. Dies haben die Bullen anscheinend mitgekriegt, so daß plötzlich zwischen 21.00 und 22.00 das Specki-Telefon lahmgelegt ist.

Die Forderungen werden nicht erfüllt. Viele Gruppen strömen aus in alle Teile der Stadt. (Die Ergebnisse und Erfolge waren genauestens in der Montagsausgabe der „BZ“ zu lesen.)

Gegen 21.00 Uhr: Man kommt zum Entschluss: Demo aufm Kudamm ! Was dort mit etwa hundert Leuten anfängt, wächst unter dem Motto „Hin und her, wir werden immer mehr!“ auf über tausend Leute an. Der Verkehr liegt lahm.

Bullenwannen sammeln sich und versuchen immer wieder „das Chaos“ in den Griff zu kriegen. Mit Sprüchen wie: „Eins, zwei, drei, lasst die Leute frei!“ marschieren die Demonstranten zur TU-Mensa, um sich durch Leute aus der Veranstaltung „Rock against Junk“ zu verstärken. Wenige konnte man erreichen, die Demonstranten laufen zurück zum Kudamm. Nun geht es wieder den Kudamm rauf und runter, zwischendurch fliegen Steine gegen die „Deutsche Bank“ und ein paar Bullen, die die seit Jahren leerstehende (…) „Chinesische Botschaft“ bewachen.

Die Bullen sind jetzt ab 1.30 Uhr nicht mehr in der Lage, die Demo zu überblicken, den Ku’damm zu räumen; so müssen sie ohnmächtig mit ansehen, wie die Scheiben zwischen Kranzler-Eck und Olivaer Platz klirren. Parallel kommt es in allen Teilen der Stadt zu dezentralen Aktionen (Bukow, Südstern etc.).

Bilanz der Nacht: 8 Festgenommene am Südstern und 6 am Ku’damm, kaum Verletzte.

Montag, 15.12.80

Um 19.00 Uhr treffen sich etliche hundert Leute an der Gedächtniskirche, die an der bekannten, aber nicht angemeldeten Demo teilnehmen wollen. Forderung: Freilassung aller seit Freitag eingeknasteten Instandbesetzer und deren Sympathisanten. Schon kurz darauf versuchen die Bullen durch heftige Prügeleien die Demo „im Keim zu ersticken“ (Zitat der Bullen), was ihnen aber nicht gelingt.

Nach dem altbewährten Konzept (Samstag !) geht’s wieder den Kudamm rauf und runter. Die mehrmalige Aufforderung, die Demo aufzulösen, wird nur mit der Antwort „Laßt die Leute raus, dann ist die Demo aus!“ abgewürgt. Kempinski’s neue Scheiben verlocken zu ersten Steinwürfen, worauf einige Leute zum „Aufhören“ auffordern.

Längere Zeit, nachdem die Bullen in Richtung Westen eine Kette gebildet hatten, versuchen sie durch Knüppel- und Tränengaseinsatz die Menge auseinanderzutreiben. Durch das Auseinanderlaufen der Demonstranten in die Seitenstraßen kommt es zu einer Kesselbildung. Die Bullen lassen weder Leute rein noch raus, selbst der Verletztenabtransport wird verhindert.

Der Kessel wird gegen 22.00 Uhr geöffnet, als die Polizei merkt, daß sich die Leute drinnen auch nach einiger Zeit nicht provozieren lassen und ruhig bleiben.

Die Vereinten Demonstranten stürmen in Richtung Kreuzberg. Gefolgt von Grün und Blau gehen die Kräfte langsam zu ende. Um der Bullenhetze zu entkommen, werden in der Bülowstr. ein paar Bauwagen umgestürzt und zu Straßenbarrikaden umfunktioniert. Um die Bullen zu irritieren biegen die Leute in die Potsdamer Str. Richtung Kleistpark. Kurz vor 23.00 Uhr sind es nur noch um die 300 Demonstranten, die weiter, über den Mehringhof bis nach Kreuzberg gejagt werden.

Die kleinsten „Versammlungen“ (5 Leute gelten schon als provozierende Ansammlung) werden unter Knüppeleinsätzen aufgelöst.

Gegen 24.00 Uhr befinden sich in ganz Kreuzberg immer wieder Einsatzwagen, Wasserwerfer und Panzerspähwagen. Kreuzberg ist generalstabsmäßig unter Kontrolle gebracht !

Bilanz dieses Abends: auf der einen Seite ein renovierter Kudamm auf der anderen Seite über 23 Festnahmen, massenhaft Verletzte, darunter einer, der durch einen Schädelbasisbruch auf einem Auge erblindete. …