Für eine Untersuchung der Autonomia

Sergio Bologna

Folgendes Interview führte Patrick Cuninghame (2) mit Sergio Bologna (1 und 3) 1975 in Mexiko City. Es erschien 2000 auf ‘Left History’, übersetzt hat es Bernd Hüttner vom Archiv der sozialen Bewegung Bremen. Die Anmerkungen gekennzeichnet mit d.Ü. stammen von ihm. Wir haben den Text auf copyriot.com gefunden und leicht bearbeitet und setzen damit unsere lose Reihe zu den antagonistischen Bewegungen in Italien der 70er fort. Wir veröffentlichen diesen Text auch vor dem Hintergrund der jüngsten Festnahmen in Frankreich, bei denen 10 Genoss*innen aus den Kämpfen in dem Italien der 70er festgesetzt wurden, mit dem Ziel sie nach Italien auszuliefern. Siehe dazu auch diese beiden Berichte: Eins und Zwei. Im Original finden sich in den Fußnoten auch Verlinkungen, die wir aber weggelassen haben, da die verlinkten Quellen teilweise nicht mehr existieren. Sunzi Bingfa

Vorwort der deutschen Übersetzung

Sergio Bologna hat sich als einer der führenden Intellektuellen des italienischen Operaismus (4), eine sympathisierende, jedoch auch kritische Distanz zu den sozialen Bewegungen bewahrt, die die ‘Autonomia’ der 1970er Jahre gebildet haben: die autonomen ArbeiterInnen, die selbstorganisierten StudentInnen, die radikalen Feministinnen und die gegenkulturelle Jugend. Sein Essay über die „1977er Bewegung“ (5), „Der Stamm der Maulwürfe“ (6) stellt eine der vollständigsten Untersuchungen der sozialen, politischen und ökonomischen Ursprünge und der Zusammensetzung einer der wichtigsten politischen und sozialen Massenbewegungen Italiens dar, der Bewegungen, die die Wurzel des heutigen weitläufigen Netzwerks der centri sociali (teilweise besetzten Sozialzentren) und der Freien Radios ist.

Der Begriff „Autonomia“ ist in sich zweideutig, da er sich auf zwei zwar verbundene, aber doch verschiedene Phänomene bezieht: Einerseits Autonomia Operaia (AO, Arbeiterautonomie, auch Autonomia Organizzata, Organisierte Autonomie genannt), die, wie der Name schon andeutet, ein direkter Nachkomme der operaistischen Tradition war, wie sie vor allem von der in den frühen 1960er Jahren halbjährlich erscheinenden Zeitschrift Quaderni Rossi (QR) (7) begründet wurde. Die Quaderni Rossi waren der Versuch verschiedener PCI und PSI Intellektueller (8), durch eine Reinterpretation von Marxens Arbeiteruntersuchung, seiner Theorie der Klassenzusammensetzung und der der Selbstverwertung des Massenarbeiters (vgl. Anmerkung 24) die autonome Arbeiterklassenmilitanz während des Wirtschaftswunders und der massenhaften internen Migration aus dem (italienischen) Süden nach Norden ab Mitte der 1950er Jahre zu erklären/theoretisieren. Der italienische Operaismus begann als eine politische und intellektuelle Bewegung, die die Theorie der Arbeiterzentralität der PCI aufrechterhielt, aber auch der orthodoxen marxistischen Sichtweise der Arbeiterklasse als Opfer der Verhältnisse und dem ineffektiven Reformismus der Historischen Linken kritisch gegenüber stand. Aus dieser Initiative entstand 1969, über die Zwischenstationen Classe Operaia (eine aktivistischere Variante von QR), Potere Operaio Veneto Emiliana (9) (POV-E, eine regionale Gruppe und gleichnamige Zeitung, die sich vor allem Fabrikkämpfen in Nordostitalien widmete) und durch verschiedene lokale Fabrik Initiativen, besonders in der Chemiefabrik Porto Maghera, die italienweite politische Organisation Potere Operaio (PO, Arbeitermacht). PO trug sehr dazu bei, auf das Bündnis zwischen der libertären Studentenbewegung von 1968 und der weitverbreiteten autonomen Arbeiterbewegung des „Heißen Herbstes“ von 1969 zu drängen. PO löste sich 1973 auf – unter Druck gesetzt durch das Wiederaufleben des Feminismus, das zu einer Krise der Militanz und zum Rückzug vieler weiblicher Aktivistinnen aus den maskulinistischen Post-1968er marxistischen Gruppen, wie PO, Lotta Continuia (LC) (10) und Avanguardia Operaia.

Die durch die Ölkrise ausgelösten Entlassungen und Umstrukturierungen 1973 ermöglichten es der PCI und den Gewerkschaften, wieder die Kontrolle über die großen Fabriken des Industrie-Dreiecks des Nordens zurückzugewinnen und so das Gewicht der Gruppen in den Fabriken zu untergraben, die für die PO von Bedeutung waren. Zu gleicher Zeit zeigte der Höhepunkt der autonomen Fabrikmilitanz, der wilde Streik bei und die Besetzung der Fabrik Mirafiori von FIAT in Turin im März 1973, die Entbehrlichkeit der PO, waren doch wenige der „fazzoletti rosso“ (so wurden die Aktivisten wegen ihrer roten Halstücher, die zur Vermummung während der Umzüge in den Fabriken, und bei Angriffen auf Vorarbeiter, Manager und Streikbrecher benutzt wurden, genannt) Aktivisten der neuen Linken.

Autonomia Operaia entstand in den 1970er Jahren als ein wenig strukturiertes Netzwerk lokaler Fabrik- und sozialer Kollektive, das von freien Radiostationen wie Radio Onda Rossa in Rom und Radio Sherwood in Padua sowie Zeitschriften wie Rosso in Mailand, Senza Tregua (Ohne Respekt) in Rom oder Primo Maggio (Erster Mai) in Turin zusammengehalten wurde. Auch hier waren es vorrangig männliche Intellektuelle, wie Toni Negri und Oreste Scalzone, die die Entstehung des neuen sozialen Subjektes aus den Kämpfen der frühen 1970er Jahre diskutierten: Der „operaio sociale“ (gesellschaftliche Arbeiter, vgl. Anmerkung 24) der in den offenen Räumen der (gesamten) „gesellschaftlichen“ Fabrik angesiedelt ist, während der „operaio massa“ (Massenarbeiter) auf die Kämpfe in der (produzierenden industriellen) Fabrik beschränkt war. Die Beziehungen zur feministischen Bewegung blieben weiterhin verkrampft und autonome (11) Frauenkollektive kritisierten die Aufrechterhaltung einiger diskreditierter politischer Praktiken der Gruppen, besonders die machohafte Neigung zum Gebrauch von (teilweise bewaffneter) Gewalt. Zur selben Zeit wurde diesen autonomen Frauen vorgeworfen, sie seien eher altmodische marxistische Revolutionärinnen als Feministinnen des „Selbsterfahrungs-Feminismus“ und damit vom Mainstream der Frauenbewegung isoliert (12).

Der Versuch von AO die gegenkulturelle und post-politische „1977er Bewegung“ zu organisieren und zu hegemonisieren traf ebenso auf beträchtlichen Widerstand. Die Entführung und Ermordung von Aldo Moro im Jahre 1978, dem großen Staatsmann der Democrazia Christiana und Chefunterhändler mit der PCI in deren gemeinsamem Projekt des „Historischen Kompromisses“ (13) durch die „Brigate Rosse“ (BR) legitimierte drakonische staatliche Repression, die einen allgemeinen „riflusso“ (Rückfluss/-zug (ins Privatleben, AdÜ)) vom politischen Aktivismus hervorrief. Das wiederum veranlasste die radikalen Teile von AO, nach einer Intensivierung des Klassenkampfes durch bewaffneten Kampf und Industriesabotage zu verlangen. Dies wiederum erlaubte es dem Staat, eigenmächtig und willkürlich die BR mit der AO gleichzusetzen, was am 7. April 1979 zur massenhaften Festnahme der verwundbaren Intellektuellen der AO führte; ungeachtet ihrer bitteren Kritik am „anachronistischen, kontraproduktiven und militaristischen“ Versuch der BR, den Staat zu stürzen und die Macht zu ergreifen. Die nachfolgende Hexenjagd auf autonomistische Intellektuelle und AktivistInnen, begleitet und unterstützt von der PCI nahestehenden Stadtverwaltungen und JournalistInnen, führte zu mehreren Wellen von Massenfestnahmen, einer möglichen Untersuchungshaftdauer von bis zu fünf Jahren bei Anklagen wegen Terrorismus und zum Exil des Kerns der Intellektuellen und AktivistInnen (14).

Autonomia Operaia, der Versuch einer revolutionären, neo-leninistischen, avantgardistischen Struktur innerhalb der breiten Sozialrevolte wurde 1983 zerstört, obwohl das sie wesentlich tragende „unterirdische“ Netzwerk lokaler Gruppen und Individuen den finsteren Winter der 1980er Jahre überlebt hatte. In den 1990er Jahren nimmt sie an der Festigung des Netzwerkes der centri sociali (besetzte soziale Zentren) teil.

Umgekehrt und verwirrenderweise steht die Autonomia auch in Verbindung mit der „diffusen“ und „kreativen“ Autonomia („autonomia diffusa“), der „Autonomie des Sozialen“, wie sie von der Masse vor allem gegenkultureller Jugendlicher, StudentInnen, arbeitsloser und prekarisierter junger Leute, radikaler Feministinnen, Schwulen und Lesben, StrassenkünstlerInnen gebildet wird und jenen desillusionierter ehemaligen Mitgliedern der Neuen Linken, gebildet wird, die dem dogmatischen Marxismus zunehmend kritisch gegenüberstehen und cani sciolti (herumstreunende Hunde) genannt werden.

Die Jugend- und AkademikerInnenarbeitslosigkeit erreichte Mitte der 1970er Jahre einen ersten krisenhaften Höhepunkt. Viele junge Leute vermieden es sogar, nach Arbeit zu suchen und ließen damit die große Verweigerung (innerhalb der Fabrik z.B., AdÜ) im Stich. Sie flohen zunehmend aus dem erstickenden Autoritarismus der traditionellen italienischen Kernfamilie um kollektiv zu leben, oft in besetzten Häusern und Wohnungen. Sie überlebten teilweise durch ‘lavori neri’ (den wachsenden postfordistischen Sektor unsicherer, kurzer, niedrig bezahlter, deregulierter Jobs und durch Schwarzarbeit) und teilweise durch massenhafte Diebstähle in Supermärkten und Restaurants, aber auch durch die Erzwingung von freiem Eintritt zu Kinos und Konzerten durch (offensives) Schwarzfahren in den öffentlichen Buslinien. Dies war das (soziale) Meer, in dem der Fisch AO schwamm, aber es war nicht unbedingt die ideale Umwelt.

Die respektlosen Stadtindianer der 77er Bewegung verspotteten nicht nur erbarmungslos die institutionalisierte Linke, sie machten sich auch über die exzessive Ernsthaftigkeit und Überheblichkeit der revolutionären Linken lustig, schon ihre bloße Vorstellung von Politik und politischer Arbeit führte einige von ihnen dazu, über eine „postpolitische Politik“(15) nachzudenken. Es ist jedoch wichtig, die von einigen Teilen der Presse und von den Universitäten herbei fantasierte imaginäre Trennung zwischen friedlichen ‘creativi’ und gewalttätigen ‘autonomi’ zu entmystifizieren. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Methoden und Ziele scheint es eine bemerkenswerte Interaktion zwischen diesen beiden Typen der Autonomia gegeben zu haben, vor allem in der 1977er Bewegung: Ein weiterer Beweis, dass die Trennung zwischen kulturellen und politischen Sozialbewegungen, wie sie von Soziologen wie Melucci (16) behauptet wird, möglicherweise eher formell als real ist.

In diesem Interview umreißt Bologna eine operaistische Methodologie zur Untersuchung der Geschichte und Klassenzusammensetzung der autonomen Arbeiterbewegung in Italien, gegründet auf den Querverbindungen zwischen politischen Eliten, Intellektuellen und Massenbewegung, zwischen Spontaneität und der Organisation von Mikrosystemen des Kampfes während dreier Generationen politischer Basis Militanter von den 1950er bis zu den 1980er Jahren.

Das Interview

Cuninghame: Wie kann die Geschichte der italienischen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre analysiert werden?

Bologna: Indem wir die selbe Methodologie verwenden, die wir auch benutzt haben, um die historischen Phänomene der europäischen Parteien und Bewegungen der 1920er und 1930er Jahre zu untersuchen. Wir haben stets versucht, klar zwischen der Geschichte des Verhaltens der politischen Eliten (egal ob ideologisch oder organisatorisch) und dem der spontanen Bewegungen, also dem was reale Klassenzusammensetzung der Massen, einer Gruppe, einer Nachbarschaft oder in einer Fabrik war, zu unterscheiden. Wir haben versucht, die Beziehungen zwischen beiden Dingen zu verstehen, immer im Bewusstsein, dass es zwei völlig verschiedene Ebenen sind. Wir sollten die selbe Methode auf unsere eigene Geschichte anwenden. Wir sollten versuchen zu verstehen, bis zu welchem Grad wir, als Intellektuelle und Militante, eine politische Elite repräsentierten; eine Schicht deren Geschichte wesentlich mit der der Bewegungen verbunden ist, aber nicht die der Bewegungen ist.

Manchmal interpretieren wir und manchmal antizipieren wir. Manchmal haben wir eine größere Fähigkeit auf neue Perspektiven hinzuweisen oder der Bewegung eine Identität zu geben. Aber die meiste Zeit waren wir diejenigen, die einen Input erhalten haben. Am Anfang gab es eine Fähigkeit, eine Graswurzel-Kreativität, und deswegen eine Fähigkeit zur Selbstorganisation, ein Bewusstsein, und über allem ein Wissen, ein politisches Know-How, das die Systeme des Kampfes und die Organisationsmöglichkeiten in Gang brachte; all das gab uns den Input. Mit anderen Worten, eine Reihe von Aspekten der Realität strömte auf uns ein und wir reflektierten sie. Gleichzeitig gab es eine Reihe von subjektiven Verhaltensweisen, von zeitgenössischen Kulturen, von Spannungen, von Projekten, die wir späterhin versuchten ex post zu ideologisieren oder in ein breiteres Programm, ein grösseres Bild oder sogar ein Netzwerk einzuordnen. Nun, ich denke die grundlegende Methode ist die, immer diese beiden Pole strikt auseinanderzuhalten und zu versuchen, die Dialektik in dem Sinne zu identifizieren, dass sie zwei verschiedene Pole sind. Die reale Geschichte ist ein wenig die des wiederholten (Zusammen-) Treffen und der Trennungen dieser Pole.

Cuninghame: Der zwischen der Elite und den Massen?

Bologna: Nein nein, nicht der Massen, das ist sehr wichtig. Wir nehmen nicht in Anspruch, es sei möglich ist, über die Bewegung als ein undeutliches Phänomen zu sprechen. Zum Beispiel waren die ersten autonomen, unabhängigen selbstorganisierten „wilden“ Streiks, vielleicht in einer einzelnen Abteilung bei FIAT, Pirelli oder Innocenti (17) oder in einer der großen Fabriken der frühen 1960er Jahre keine der Massen. Eher waren sie das Ergebnis einer hochkultivierten politischen Geschichte, von Arbeiterkadern und Militanten, die über das Erbe einer bestimmten politischen Kultur der Arbeitergruppen hinausgegangen waren. Und deshalb konnten sie erfolgreich Systeme des Kampfes, wenn sie auch sehr partiell, sehr lokal waren, entwickeln, die aber schon politisch reife Organismen waren. Deshalb, wenn wir uns mit der Massenbewegung in Kontakt setzen, eröffnen wir in Wirklichkeit eine Beziehung mit Organismen, die schon politisch reif sind. Das änderte die Sichtweise grundlegend, die die politische Elite als aktives und die Massenbewegung als ein passives Subjekt ansieht.

Die politische Elite, eine mit Wissen ausgestattete Schicht, und andererseits die Massenbewegung, eine Schicht, die nur (ihre) Wünsche, Verlangen, Spannungen und so weiter hat. In Wirklichkeit ist die Beziehung dialektisch: Es gibt die Massenbewegung, die schon mit großem Wissen ausgestattet ist, die schon über ein ziemlich fortgeschrittenes System politischen Wissens, politischen Know-Hows verfügt, die in der Lage ist, Kampfformen zu entwickeln, die offensichtlich mit den Gewerkschaften, mit der Partei brechen – und die uns den Beginn dieses Austauschs zwischen Intelligenz und Militanten anbieten kann.

In diesem Sinne ist der beste Lehrer, Geschehnisse auf diese Weise zu interpretieren Danilo Montaldi (18). Das grundlegende Konzept dieser Forschungsmethode ist die These „Spontanität existiert nicht“. Was wir „Spontanität“ nennen, ist in Wirklichkeit die Bildung von Mikrosystemen des Kampfes, die bereits politisch sehr reif sind, da sie von einer Generation von Militanten bestimmt wurden, die aus der resistenzia kamen. Oder sie waren Arbeitermilitante, die schon Gewerkschaftsaktivisten gewesen waren, die individuell und allmählich in aller Stille mit den Gewerkschaften gebrochen und ihre eigene Autonomie entwickelt hatten. Aber sie sind lebendige Menschen, sie sind eine Generation, und deshalb, vielleicht, auch eine Art politischer Elite, eine die sehr reif ist.

Die ersten comitati di base (CDB, Basisausschüsse) bei Pirelli wurden von ehemaligen gewerkschaftlichen Vertrauensmännern der CGIL (19) und ehemaligen lokalen Führern der PCI gebildet. Montaldi veröffentlichte dieses wunderbare Buch Militanti Politici di Base (20), in dem er die Geschichte und die Theorie dieser Schicht beschreibt, dieser Generation revolutionärer Militanter, die beinahe alle Arbeiter oder mit ländlichen (Arbeits-) Kämpfen verbunden waren. Sie hatten eine solch tiefgründige politische Kultur, solch eine weitreichende Fähigkeit sich zu organisieren, Kampfformen zu entwickeln, die, so Montaldi – und das ist der Teil, wo er Recht hat – der wirkliche Sauerteig, der wirkliche Antrieb zu den Kämpfen sind, die vor und während den Quaderni Rossi (21) stattfanden.

Die Quaderni Rossi waren der Versuch, diese Dinge zu verstehen und sie zu theoretisieren. Jedoch waren innerhalb von Quaderni Rossi nur ein paar Leute, besonders Romano Alquati, in der Lage, diese Dinge zu verstehen, während die anderen nach meiner Meinung völlig abseits standen. Sie warfen nicht einmal dieses Problem auf.

Cuninghame: Und Panzieri?

Bologna: Panzieri stand dazwischen, würde ich sagen. Es war vor allem Alquati, der die These vertrat, es gebe an der Basis dieser Bewegung ein anspruchsvolles System politischen Bewußtseins. Vom bisher Gesagten ausgehend können wir auch die autonomia analysieren. Was heisst das? Das heisst, wir müssen Toni Negris oder Oreste Scalzones Gruppe oder die römische Autonomia (d.h. alle die Teile der Bewegung, die als Autonomia Organizzata bekannt sind), als die politische Elite ansehen, die sich mit einer realen Bewegung kreuzte. Deshalb sollten wir beim schwierigen Unterfangen des Schreibens der Geschichte dieser realen Bewegung die Elite klar von der realen Bewegung unterscheiden, auch weil das selbe Problem mit der Bewegung der 1950er und 1960er Jahre auftritt, in der es dieses Netzwerk an Basismilitanten, an politischen BasisaktivistInnen gab, mit einem großen politischen Know-How. Fast alle waren ProletarierInnen, keiner und keine war ein/e Intellektuelle/r, sie waren alle Teil von Fabrik- oder kleinbäuerlichen Kämpfen. Wir müssen untersuchen, welche Zusammensetzung (sozial, intellektuell, politisch) die 1977er Bewegung (22) hatte, das ist nicht sehr einfach, da sie offensichtlich eine Synthese und die gleichzeitige Transzendenz dreier Generationen von Bewegungen war.

Die erste Generation dieser Bewegungen war die schon vorher erwähnte, von den 1950ern bis zur Mitte der 1960er Jahre. Diese Generation wurde durch den Typus der autonomen Arbeiterkämpfe geprägt, der von den Quaderni Rossi und Classe Operaia (23) (Arbeiterklasse) untersucht wurde. Ab 1966/67 zeigte sich eine zweite Generation, die der „1968er“. Sie kam nicht, wie noch die erste, aus einer kommunistischen Tradition oder Geschichte. 1967/68 entstand die Generation der Neuen Linken, sie bestand aus Militanten die die Sprache des Antagonismus, der Revolution teilweise von uns gelernt hatten. Und hier wurde unsere Rolle wirklich wichtig. Unsere Rolle war während der ersten Phase nicht wichtig gewesen, als wir den Typus der Arbeiterkämpfe, der Mitte der 1960er bis Mitte der 1960er Jahre stattfand, untersuchten. Wir wurden erst wichtig in den Bewegungen von 1968, die nicht von ArbeiterInnen, sondern von StudentInnen getragen wurden. Da spielte die politische Elite eine vorantreibende („avantgardistische“) Rolle.

Die Synthese all dieser Dinge geschah 1969, als die operaistische politische Elite eine Strategie in die 1968er Bewegung einbrachte, die erfolgreich sein sollte, während andere anti-autoritäre Eliten eindrucksvoll besiegt und marginalisiert wurden. Es war 1969 als sich die gesamte Bewegung vor den Toren von FIAT befand, dass wir wirklich gewonnen hatten. Der Sieg der operaistischen Tendenz zwang die gesamte Studentenbewegung dazu, sich mit den Arbeiterkämpfen zu beschäftigen. Der Operaismus war viel weiter entwickelt, intellektuell stärker und er hatte ein größeres politisches Know-How, weil er von den Arbeiterkämpfen wusste und die anderen Strömungen nicht. Er führte einen erfolgreichen Dialog mit den kämpfenden ArbeiterInnen und der Geschichte der Arbeiterkämpfe, während die anderen dies nicht taten. Zu diesem Zeitpunkt trat zur Arbeiterbewegung, die von den alten politischen Militanten mobilisiert worden war, ein zweite Generation von Arbeitern hinzu. So wurden verschiedene politische Generationen von Arbeitern in den Fabriken geformt.

Cuninghame: Waren sie die sog. „Massenarbeiter“ (24)?

Bologna: Sie waren die Massenarbeiter von 1968 bis 1973 oder womöglich gar bis 1980. Sie sind auch diejenigen, die bis heute Widerstand leisten, weil die Geschichte dieser wirklichen Arbeiterautonomie, der comitati di base, der Arbeiter von 1968, existiert bis heute, zum Beispiel bei Alfa Romeo in Mailand. Die Führer des heutigen CDB von Alfa Romeo gibt es schon seit 1969/70. Sie verfügen über eine Geschichte von Kämpfen von 20 oder 25 Jahren, sie wurden fünf oder sechs mal entlassen und wurden wieder eingestellt. Sie sind eine politische Klasse – von Arbeitern, nicht von Intellektuellen. Sie sind tatsächlich politische Führer mit allen Wirkungen und aller Entschlossenheit.

Cuninghame: Was ist der Unterschied zwischen der Intelligenz und Arbeiter(inne)n, die sich selbst geschult haben?

Bologna: Die Intelligenz musste in diesem Falle immer eine Form der Vermittlung suchen. Später änderte sich die Lage. Wir sprechen gerade immer noch über einen Zeitraum, in dem der gemeinsame Nenner die Beziehung zwischen der Arbeiterbewegung und der Bewegung der Arbeiterautonomie war. Was nach dem Zyklus der großen Arbeiterkämpfe von 1969 bis 1973 geschah, war sehr interessant. „1968“ hatte in Italien eine mentale Revolution in verschiedenen Schichten in Gang gesetzt, auf dem Gebiet verschiedener professioneller Aufgaben und Berufe. Durch die Kämpfe in den Krankenhäusern gab es einen vollständigen Umschwung in der Medizin und so weiter – teilweise auch bei KünstlerInnen und Intellektuellen. Zu diesem Zeitpunkt wurde ein großer Teil der Bourgeosie, oder um es besser zu sagen, der liberalen Berufe wie Richter und Anwalt in die Bewegung mit einbezogen, sie wurden zum Beispiel „demokratische Richter“ (25).

Auf diese Weise breitete sich die Intelligenz aus und wurde eine weit gestreute „diffuse Intelligenz“, die gegenüber der Arbeiterklasse nicht als eine politische, leninistische Intelligentsia handelte – dies ist sehr wichtig zu verstehen. Stattdessen handelte sie als neue Intelligenz innerhalb der Berufe. Ein Arzt konnte eine Versammlung, ein Basiskomitee von ÄrztInnen ansetzen und eine alternative Medizin schaffen, Kämpfe gegen die Hierarchie in der Medizin, gegen die pharmazeutischen Fabriken und die Pharma-Medizin, gegen die hierarchische Beziehung zwischen Arzt und Patient beginnen. So begann dieser lange Marsch innerhalb der medizinischen Institutionen, der, nach meiner Auffassung, einer der interessantesten Aspekte der italienischen Revolution war und von Basaglia (26), Maccacaro und Terziamboli zustande gebracht wurde. Wir kennen viele große WissenschaftlerInnen, die einige Ansichten über das Leben in den italienischen Krankenhäusern und die italienische Medizin vollkommen verändert haben, mindestens in/für einen gewissen Zeitraum. Dasselbe geschah unter den RichterInnen, unter AnwältInnen, auch, aber eher weniger unter KünstlerInnen und auch sehr wenig unter den SchriftstellerInnen, von ein paar Ausnahmen wie Balestrini (27) abgesehen. Dies war eine Erscheinung von größter Bedeutung!

Die Publikation, die dieses Phänomen der Intellektuellen aller Disziplinen, die ihr technisches Wissen nutzten, um die Grundeinstellung der kapitalistischen Wissenschaften und Technologie zu verändern, am besten repräsentierte war die Zeitschrift Sapere (Wissen), herausgegeben von Maccacaro. Ich war der einzige Vertreter des klassischen Operaismus, der an diesem Magazin teilnahm. Jedoch konnten wir die inhaltliche Linie der Zeitschrift erfolgreich beeinflussen, da wir unsere eigene besondere Vision in Fragen der Technologie, der Wissenschaft hatten, die sehr viel klarer, sehr viel systematischer war. Sapere war die erste Zeitschrift, die eine Debatte auf wissenschaftlicher Basis über Ökologie und Umweltschutz eröffnete, die völlig verschieden von der der ÖkologistInnen der 1980er Jahre war, weil unsere grundlegende These war, dass „Ökologie“ vor allem mit der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft beginnt. Aus diesem Grund begannen wir mit dem Thema „Gifte in der Fabrik und am Arbeitsplatz“.

Einer der Protagonisten dieser Debatte innerhalb der Zeitschrift und der italienischen Bewegung war Luigi Marra, ein Techniker bei Montedison (28) in Castellanza, der ein Kader war – und die außergewöhnlichste Persönlichkeit in der realen Autonomie im Italien der letzten 20 Jahre. Er ist ein Labortechniker, der bei einer Explosion am Arbeitsplatz beide Unterarme verlor und seitdem sein ganzes Lebens dem Kampf gegen Gift und anderer Gefahren innerhalb der Fabrik gewidmet hat. Er hat ein riesiges Wissen über diese Themen angesammelt, wobei ihm viele Wissenschaftlern, Physikern, Biologen und Ärzten geholfen haben.

1976 explodierte die Fabrik ICMESA in Seveso und verseuchte ein weite Gebiete mit großen Mengen von Dioxin, einer hochgiftigen Substanz. Das war der erste größere ökologische Unfall, der Bhopal und Tschernobyl vorwegnahm. Es war das erste Mal, dass die öffentliche Meinung sich der Möglichkeit einer Umweltkatastrophe bewusst wurde. Keiner der von den Vereinten Nationen oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gesandten Wissenschaftler erkannte, dass Dioxin das Problem war. In der ersten Woche stocherten sie nur im Nebel herum. Die Arbeiter waren diejenigen, die Dioxin als das Problem entdeckten, besonders diejenigen, die von Luigi Marra organisiert worden waren. Sie kannten den chemischen Prozess und die möglichen Unfälle, die daraus resultieren konnten und befragten die Arbeiter von ICMESA, die nicht reden wollten, die Angst hatten. Sie rekonstruierten, zusammen mit den Arbeitern von ICMESA, den gesamten Produktionszyklus, indem sie alles berichteten, was passiert war: Wofür war dieses Ventil und wie hatte es reagiert? Am Ende bekamen sie heraus, dass die einzige Substanz, die bei dem Unfall entstanden sein konnte, Dioxin war. Das war ein Beispiel für ihre sehr großen technischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten. Das war unser ökologischer Kampf, er war nicht so wie dieser Mist von den Grünen (29)!

Und so kommen wir jetzt zu den Jahren 1976-77. Die 1977er Bewegung war etwas ganz anderes. Sie war eine neue und interessante Bewegung, da sie erstens nicht wirklich Wurzeln in vorhergehenden Bewegungen hatte, oder falls sie sie hatte, auf eine vielschichtige Art und Weise. Sie hatten eindeutig eine andere soziale Basis, die sich von der der Bewegungen von 1968 und 1973 unterschied. Ihre soziale Zusammensetzung basierte auf einer Jugend, die mit den politischen Eliten, inklusive den Eliten von 1968, also auch mit den Gruppen wie Lotta Continua und selbst der Autonomia Organizzata gebrochen hatte oder sie zurückwies. Sie hatte nicht nur mit der traditionellen kommunistischen Bewegung gebrochen sondern auch mit (den Folgen von, AdÜ) 1968. Sie brach völlig mit der Vision des Kommunismus, während letztlich auch der Operaismus von sich dachte, er sei der Vertreter des „wahren Kommunismus“. Die 77er Bewegung wollte absolut nicht der „echte Kommunismus“ sein.

Cuninghame: Hatte sie noch eine Absicht, „die Macht zu übernehmen“?

Bologna: Nein, absolut nicht. Sie hatten keine Absicht, die Macht zu übernehmen. In diesem Sinne war sie die am meisten anti-leninistische Bewegung, die möglich war. Sie hatte jedoch ein sehr starkes kollektives Wissen. Sie hatten eine Menge Zeitschriften wie Il Sapere gelesen und sie waren schon eine Generation, in der technisch-wissenschaftliches Denken und Computer(-nutzung) eine wichtige Rolle spielten. Die technisch-wissenschaftliche Elite spielte in der 77er Bewegung eine größere Rolle als die politische.

Welche Beziehung hatte nun die Autonomia, speziell die Gruppe um Negri oder selbst Primo Maggio (30) zu dieser Bewegung, verglichen mit all den anderen marxistisch-leninistischen, ,maoistischen politischen Eliten oder Gruppen wie Lotta Continua? Warum waren wir einzigen, die mit der 77er Bewegung in Dialog treten konnten? Vielleicht weil wir darin erfolgreich waren, zu verstehen, was die tiefere Natur dieser Bewegung war? Wir waren deshalb erfolgreich, weil wir es besser als die anderen verstanden, dass diese Bewegung alle Regeln gebrochen hatte und weil wir selbst nie besonders an Regeln gehangen hatten, konnten wir die Bewegung besser interpretieren als andere, sie verstehen und sie besser akzeptieren als andere.

Cuninghame: Hattest du die Beziehung eines Leitenden zu dieser Bewegung?

Bologna: Wahrscheinlich versuchte jemand eine solche zu haben. Sicher versuchte dies die Autonomia Organizzata, und in Rom waren sie dabei vielleicht manchmal sogar erfolgreich. Erfolg hatten sie mit Sicherheit in Padua. Rom und Padua waren die einzigen beiden Städte, in denen die Autonomia Organizzata und die Bewegung unzertrennlich waren. Im allgemeinen aber würde ich sagen, war sie als Bewegung etwas ganz anderes. Abgesehen von Rom und Padua repräsentierte die Autonomia Organizzata eher den Versuch zu interpretieren, eine Identität zu formen oder Ausblicke zu eröffnen als die anderen. Primo Maggio war nicht einmal eine politische Elite. Vielmehr hatten wir uns unserer Rolle als einer politischen Elite verweigert, statt dessen begaben wir uns in die Rolle dieser technisch-wissenschaftlichen Intelligenz, die sich innerhalb der Berufssparten herausbildete. Wir wollten innerhalb der Geschichtswissenschaft nachforschen und nachgraben, um Geschichte auf eine neue Art zu schreiben. Wenn man Primo Maggio liest, ist es keine politische Zeitschrift. Das bedeutet, es ist eine Zeitschrift, die eine Transformation der historischen Methodologie erreichen will, auch eine Transformation der Sprache der Geschichtsschreibung, die ja eine gewaltige Bedeutung für die politische Sprache hat.

Cuninghame: Hat der Postmodernismus für die Analyse der Autonomia eine Bedeutung?

Bologna: Sicherlich hatte die 77er Bewegung und mehrere der mit der Autonomia verbundenen Intellektuellen besonders Foucault mit großer Leidenschaft gelesen. Sie identifizierten sich manchmal mehr mit Foucault als mit Marx oder Lenin und das ist offensichtlich von Bedeutung. Eine Diskussion wurde eröffnet.

Schließlich ist der grundlegend zu klärende Punkt oder die zu stellende Frage: Was war die Autonomia? Was verstehen wir darunter? Kann sie definiert werden? Es besteht immer die Gefahr, die Autonomia als politische Elite, als eine neue Art des politischen Denkens oder als die Beschreibung einer Massenbewegung oder etwas anderes zu verstehen. Sie sehen, das ist nicht leicht. Wo können wir anfangen? Ich glaube zuerst muss genau beschrieben, müssen die Unterschiede, besonders die zwischen den verschiedenen Ebenen artikuliert werden. Als ein Ergebnis haben wir manchmal die autonomia als alle drei der genannten Beschreibungen verstanden. Deshalb müssen wir voraussetzen, dass dieses Wort „Autonomie“ gleichzeitig sehr komplex und höchst vieldeutig ist. Es ist wichtig, aus dieser Mehrdeutigkeit nicht etwa noch größere Widersprüchlichkeiten herauszulesen. Man sollte im Gedächtnis behalten, dass das Denken der Autonomia Organizzata und im Besonderen das von Toni Negri in der Tat ein Denksystem ist, das in einem gewissen Sinne Mehrdeutigkeit theoretisch bearbeitet: Genau die zwischen politischen Eliten, Ideologie und Bewegung.

Dies ist der Versuch, den Leninismus abzulehnen, und im Wesentlichen zu sagen, dass die heutigen politischen Formen dynamische politische Formen sind, die sich öffnen und schließen, die nicht statisch sind. Offensichtlich war es eine Art des Verbergens der Dialektik zwischen politischer Elite und Bewegung. Folglich muss man sehr vorsichtig mit dieser Art von Beschreibung sein, da man sonst in der Klemme steckt. Ein weitere Gefahr ist, das „Calogero-Theorem“ (31) gedankenlos zu übernehmen. Calogero überbewertet und übertrieb die Rolle der Autonomia Organizzata indem er die historische Beziehung umkippte und behauptete: „Die autonomia ist verantwortlich für dies alles“. Die Geschichte zeigt genau das Gegenteil: All dies erklärt die Autonomia Organizzata und nicht umgekehrt. Wenn wir nicht auf diese Unterscheidung achten, reproduzieren wir ausdrücklich, wenn auch unbewusst, das Calogero-Theorem.

Anmerkungen

(1) Dieses Interview wurde im Juni 1995 in Mexico City geführt. Ich danke Eligio Calderon für die Mithilfe und Steve Wright und George Caffentzis für ihre Kommentare.

(2) Wir danken den KollegInnen von Left History und Patrick Cuninghame für die bereitwillige und freundliche Erlaubnis der Übersetzung und des Nachdruck. Übersetzung durch Bernd Hüttner vom Archiv der sozialen Bewegungen Bremen, Anmerkungen des Übersetzers sind mit AdÜ gekennzeichnet.

(3) Bologna war 1964 bei Quaderni Rossi und Cronache Operaia engagiert, bevor er mit Mario Tronti, Toni Negri und Romano Alquati Classe Operaia gründete. Als Angestellter bei Olivetti nahm er an den ersten Versuchen teil, die white collar Arbeiter in der elektronischen Datenverarbeitung gewerkschaftlich zu organisieren. 1966 begann er an der Universität von Turin zu lehren und wird Mitarbeiter von

Quaderni Piacentini.

Ende 1968 gibt er die ersten beiden Nummern von Linea di Massa heraus. Mit Negri, Oreste Scalzone, Franco Piperno, Mario Dalmavia und anderen gründet er am 1. Mai 1969 La Classe. Im Herbst 1969 wurde Potere Operaio (PO, Arbeitermacht) gegründet: Bologna, Negri und Piperno bildeten das erste nationale Sekretariat. 1970 trat Bologna eine Professur für Geschichte der Arbeiterbewegung an der Universität Padua an und arbeitet nun an derselben Fakultät wie Negri und Luciano Ferrari Bravo. Im November verließ er PO wegen Differenzen über die grundsätzliche Ausrichtung der Politik der Organisation. 1972 gab er mit Negri die ersten vier Bände der „Marxistischen Materialien“ im Verlag Feltrinelli heraus. Er gründete 1973 Primo Maggio, eine Zeitschrift militanter Historiker. Während der 1970er Jahre arbeitet er für Sapere, eine Forschungszeitschrift, die radikale Wissenschaftler ebenso mit einbezieht wie militante Arbeiter, und für die drei Tageszeitungen der italienischen neuen Linken Lotta Continua, Il Quotidiano dei Lavoratori und Il Manifesto. 1978/79 unterstützt er die Politik der Rückkehr zur „Arbeiterzentralität“, zur Untersuchung der großen Fabriken, und vor allem der der Probleme der ArbeiterInnen in der Transportindustrie (eine Spezialisierung, die er bis heute weiterverfolgt). Während der 1980er Jahre lehrte er an der Universität Bremen, wo sich eine einzigartige Gruppe von marxistischen, vom italienischen Operaismus beeinflusster Sozialwissenschaftlern zusammengefunden hatte. Sein Aufsatz „Geschichte des Massenarbeiters“ wurde 1992 in Common Sense veröffentlicht, als er mit Feruccio Gambino die Zeitschrift Altre Ragioni gründet. Während der 1990er Jahre schrieb er viel über den „selbständigen“/“autonomen Arbeiter“. Diesen versteht er als neues soziales Subjekt dieser Ära und als theoretische Alternative zum „immateriellen Arbeiter“ von Negri.

Biographische Details entnommen aus Bologna: „Workerist Publications and Bios“ (Bios und operaistische Publikationen, AdÜ), in Italy: Autonomia, Post-political Politics, Heft 3/3 von Semiotext(e), S. 178-181. (Weitere Informationen zur Biographie, u.a. zum Verlust seiner Lehrerlaubnis, in Angelika Ebbinghaus, Karl Heinz Roth: Gratulation. Sergio Bologna zum 65. Geburtstag, in 1999, Heft 1/2002, S. 229-230.

Ein wichtiger Text von Bologna ist Theorie und Geschichte des Massenarbeiters (Teil I bis III) in 1999, H. 2/89, S. 10-26, 1/90, S. 107-125 und 2/90, S. 60-77.

Desweiteren liegt auf deutsch in der Reihenfolge des Erscheinens u.a. vor: Zus. mit Francesco Ciafaloni, Paolo Bolzani: Die Techniker als Produzenten und als Produkt. Berlin, 1972, zus. mit Massimo Cacciari: Zusammensetzung der Arbeiterklasse und Organisationsfrage, Berlin 1973; Zur Analyse der Modernisierungsprozesse: Einführung in die Lektüre von Antonio Gramsci’s „Americanismo e Fordismo“, Hamburg 1989 (Arbeitspapiere der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Nr. 5); Klassenzusammensetzung im Europa der neunziger Jahre und Probleme einer aktiven geschichtswissenschaftlichen Politik, Hamburg 1992 (Arbeitspapiere der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhundert, Nr. 8); Die Zeitschrift „Primo Maggio“ der siebziger Jahre. Ein Beitrag zur Geschichte des Operaismus, in Karsten Linne, Thomas Wohlleben (Hrsg.): Patient Geschichte. Für Karl Heinz Roth, Frankfurt/Main 1993; zus. mit Cesare Bermani, Brunello Mantelli, Proletarier der „Achse“. Sozialgeschichte der italienischen Fremdarbeit in NS-Deutschland 1937 bis 1943, Berlin 1997, AdÜ).

(4) Cuninghame verwendet das anglizierte „operaism“ und „operaist“, die wörtliche Übersetzung von „operaismo“ wäre jedoch „Arbeiterismus“ (engl. workerism). In der deutschsprachen Rezeption wird durchgängig ebenso verfahren, da der eingedeutschte italienische Begriff spezielle Zuschreibungen mitschwingen lässt. Einführende Literatur zum Operaismus ist Bernd Hüttner, Die Wiederkehr der Proletarität. Neuer klassenanalytischer Ansatz oder ökonomistische Fata Morgana? in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 21 (März 1995). Grundlegend Frombeloff (Hg.): … und es begann die Zeit der Autonomie. Politische Texte von Karl Heinz Roth, Hamburg 1993 (mit vielen weiteren Nachweisen) und Detlef Hartmann: Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt, Berlin 1988, zuerst Tübingen 1981.

Einführende aktuelle Titel des Neo-/Post-Operaismus sind Das Argument Heft 235, Immaterielle Arbeit, Hamburg 2000, die Bücher Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin 1998 sowie Michael Hardt/ Antonio Negri: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin 1997.

Von Negri liegt u.a. vor: Zyklus und Krise bei Marx, Berlin 1972, Krise des Planstaats, Kommunismus und revolutionäre Organisation, Berlin 1973, Staat in der Krise, Berlin 1977, Massenautonomie gegen Historischen Kompromiß, München 1977, Sabotage, München 1979. Vor kurzem ist mit Steve Wright: Storming Heaven. Class Composition and Struggle in Italian Autonomist Marxism (London www.plutobooks.com 2002) eine grundlegende Studie erschienen.

Hingewiesen sei noch auf W. Rieland: Organisation und Autonomie. Die Erneuerung der italienischen Arbeiterbewegung, Frankfurt 1977 und Robert Lumley: States of Enmergency. Cultures of Revolt in Italy from 1968 to 1978, London/New York 1990.

Die Geschichte Italiens aus linksliberaler Sicht erzählt Friederike Hausmann in Kleine Geschichte Italiens von 1945 bis Berlusconi, Berlin 2002.

Die am historischen Operaismus orientierte deutsche Lesart wird heute in einer eher undogmatischen Lesart vertreten von der Redaktionsgruppe „Materialien für einen neuen Antiimperialismus“ und in einer eher dogmatischen von der Gruppe „wildcat“. Weitere auf deutsch erschienene Literatur siehe weiter unten. 7

Die sehr gute Studie „Operaismus. Politisches Denken im Wandel“ von Ingrid Bierbrauer u.a. zur deutschsprachigen Operaismus-Rezeption in den 1970er und 1980er Jahre rund um die Zeitschriften Autonomie (erschienen 1975 bis 1979) und AUTONOMIE (Neue Folge) (1979 bis 1985) ist als Diplomarbeit (1987) leider unveröffentlicht. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, irgendwann zumindest eine Geschichte der deutschsprachigen operaistischen Periodika vorlegen zu können, vgl. IWK 4/2000, S. 537/538).

Absolut unbekannt ist Theodor Sander: Von der Theorie der Arbeitersubjektivität zur antiproletarischen Propaganda. Die Transformation des italienischen Operaismus als Ausdruck kultureller Modernisierung, in L. Knapp/I. Tömmel (Hrsg): Italien an der Wende zum 21. Jahrhundert, Osnabrück 1999, S. 67-86, der eine lesenswerte Unterscheidung in einen gemässigten (mit u.a. Tronti und Rieser), einen rationalen (mit u.a. Bologna und Revelli) und einen harten Operaismus (mit u.a. Negri, Piperno oder Scalzone) vornimmt. AdÜ).

(5) Erklärung in Anmerkung 22.

(6) Vgl. Sergio Bologna: Der Stamm der Maulwürfe, in Mai-Gruppe/Theoriefraktion (Hrsg.): Wissenschaft kaputt, Münster 1980, S. 251-301.

(7) Siehe auch Anmerkung 21. Texte der QR finden sich in Claudio Pozzoli (Hg): Spätkapitalismus und Klassenkampf. Eine Auswahl aus den Quaderni Rossi, Frankfurt 1972 und in Arbeiteruntersuchung und kapitalistische Organisation der Produktion, München 1972 (AdÜ).

(8) PCI, Partito Comunista Italiano, PSI, Partito Socialista Italiano, sozialdemokratische Partei.

(9) Noch vor der Gründung von POV-E Mitte der 60er Jahre hatten Toni Negri und andere Operaisten die lokale zeitung der PSI Progresso Veneto „unterwandert“. Negri war damals noch Stadtrat der PSI in Padua. Gleichzeitig begann Negris Gruppe in der PSI, Flugblätter unter dem Namen Potere Operaio in den örtlichen Fabriken zu verteilen. Negri verlässt die PSI aus Protest gegen die erste Mitte-Links Koalition zwischen PSI und Christdemokraten (DC) 1964

(10) Lotta Continua war die größte der neo-leninistischen Gruppen die 1968/69 auftauchte, sie war moderater als die operaistische Potere Operaio, und konzentrierte sich auf Fabrikkämpfe bei FIAT in Turin, antifaschistische Aktivitäten und breiter angelegte soziale Kämpfe, wie die Kampagne für auto riduzione (Selbstverringerung der Preise von Straßenbahntickets und der Mieten) der frühen 1970er Jahre. Im Unterschied zu den anderen Gruppen organisierte LC auch umfassend im weniger industrialisierten und -urbanisierten Süditailien – obwohl eines ihrer Hauptmotti war „Nehmen wir uns die Stadt (zurück)“. 1972 wurde LC verdächtigt, hinter der Ermordung von Kommissar Calabresi zu stecken, dem obersten Polizeioffizier Mailands, der von vielen für den Mord an dem Anarchisten Pinelli verantwortlich gemacht wurde. Pinelli wurde fälschlicherweise des Bombenattentats auf der Piazza Fontana in Mailand 1969 beschuldigt und aus dem fünften Stock des Mailänder Polizeipräsidium geworfen. LCs historisch bedeutsamer Führer, Adriano Sofri, und zwei seiner (damaligen) Mitarbeiter wurden 1987 festgenommen und der Ermordung beschuldigt – eine Anschuldigung, die vor allem auf den Aussagen eines ehemaligen LC-Mitglieds basierte, der sich mittlerweile der Polizei als (Kron-) Zeuge zur Verfügung gestellt hatte. Die Beweise waren so fadenscheinig und zusammengebraut, dass der Vorgang in der italienischen Presse sogar mit der Affäre Dreyfus verglichen wurde. Im August 1999 wurde er mit dem Freispruch der Angeklagten abgeschlossen.

(Nach anderen, aktuellen Informationen sitzt Sofri noch immer im Gefängnis, vgl. die anlässlich seines 60. Geburtstages erschienen Artikel in SZ 30.7. 2002, S. 14 und in FAZ, 1.8. 2002 oder www.sofri.org, AdÜ). 1976 rief LC die Neue Linke dazu auf, der PCI bei den Parlamentswahlen aus taktischen Gründen die Stimme zu geben, eine Aufforderung, die der PCI half, erstmals in ihrer Geschichte die DC als die größte Partei im Parlament fast zu überrunden. Bedauerlicherweise wurde dies von der PCI nicht entsprechend gewürdigt. Sie enthielt sich bei wichtigen Abstimmungen im Parlament der Stimme – oder stimmten sogar für höchst repressive Gesetze, die ex-LC-Militante ins Gefängnis brachten und dazu beitrugen die autonomen sozialen Bewegungen zu zerschlagen. LC löste sich bei ihrem Abschlusskongress in Rimini Ende 1976 auf, als die meisten weiblichen Militanten unter Protest den Saal verließen: Grund war der Angriff des Ordnungsdienstes ihrer eigenen Organisation auf einen Frauen Aufmarsch in Rom im Jahr vorher. Trotzdem erschien die gleichnamige Tageszeitung unabhängig noch bis zu den frühen 1980er Jahre. Viele der LC-Militanten wurden Teil der autonomia und der 1977er Bewegung, während etliche ihrer „Marschälle“ einen militaristischen Kurs einschlugen und halfen, Prima Linea (Frontlinie) zu bilden, eine der bedeutenden bewaffneten Gruppen der 1970er.

(Zum „Fall Sofri“ vgl. Carlo Ginzburg: Der Richter und der Historiker, Berlin 1991. Von Lotta Continua sind auf deutsch erschienen u.a. Für eine organisierte politische Bewegung, Berlin 1972 sowie Nehmen wir uns die Stadt – Klassenanalyse, Organisationspapier, Kampfprogramm. Beiträge der Lotta Continua zur Totalisierung der Kämpfe. München 1972, AdÜ).

(11) Der Begriff „autonom“ bezieht sich hier auf Gruppen, die sich autonom (unabhängig) organisieren und sich als Teil der breiteren Autonomie verstehen, aber eine Distanz zu den „autonomi“ der Organisierten Autonomie wahren.

(12) Der u.a. auf Separation und weiblichem Essentalismus beruhte. Ein wichtiger Text dieser feministischen Strömung, die auch in Deutschland rezipiert wurde ist Libreria delle donne di Milano: Wie weibliche Freiheit entsteht. Eine neue politische Praxis; Berlin 2001, zuerst 1988 (AdÜ).

(13) Aus dem Putsch gegen Allendes gewählte sozialistische Regierung in Chile zog die PCI-Führung die Schlussfolgerung, dass der parlamentarische Weg zum Sozialismus verschlossen sei. Enrico Berlinguer, der Parteivorsitzende der PCI, dachte sich die Strategie des Historischen Kompromisses als ein Mittel um mehr Unterstützung unter den ceti medi (Angehörigen der Mittelklassen) zu erreichen und als Teil eines mehr reformistischen, sozialdemokratischen Programms. Die schweren politischen und ökonomischen Krisen Mitte der 1970er Jahre veranlassten PCI und DC, eine gemeinsame Strategie zur Restabilisierung des italienischen Staates und zur Organisierung eines sozialen Konsenses für ökonomische Austeritätsmaßnahmen zu vereinbaren. Der Historische Kompromiss führte die PCI von der Position der „gutmütigen“ Neutraliät 1968 zu der des offenen Konfliktes mit den radikalen sozialen Bewegungen 1977.

(14) Unter anderem von Negri, der 1983 nach Paris flüchtete, vgl. Anmerkung 31 (AdÜ).

(15) Vgl. die Einleitung zu „Autonomia: Post-political Politics“ Sonderheft von Semiotext(e), Jg. 3, Heft 3 (1980).

(16) Vgl. Alberto Melucci: Challenging Codes: Collective action in the Information Age, Cambridge (UK) 1996, vor allem Kapitel 14.

(17) Der italienische Ableger von British Leyland.

(18) Der Begründer der italienischen oral history, seine Studie über die Fabrik-Basismilitanten der 1950er und 1960er Jahre, Militanti Politici di Basi (Turin 1971, Verlag Einaudi, AdÜ) ist ein Klassiker der italienischen Soziologie. Im November 1994 wurde eine Konferenz über sein Werk abgehalten und 1995 eine Anthologie veröffentlicht. Eine neuere Veröffentlichung ist Danilo Montaldi e la Cultura di Sinistra del Secondo Dopoguerra (Neapel 1998).

(19) Die größte der drei italienischen Gewerkschaftszusammenschlüsse, sie stand den KommunistInnen (PCI) und den SozialistInnen (PSI) nahe. Die CISL war mit den Christdemokraten (DC) verbunden, während die UIL, die gelbe Gewerkschaft, mit den republikanischen und den liberalen Parteien verbündet war, und wegen der tangentopoli-Korruptionsskandale der frühen 1990er untergegangen ist.

(20) übersetzt ungefähr „Politische Basismilitante“ (AdÜ).

(21) Ein marxistisches soziologisches Journal der frühen 1960er Jahre, das von Panzieri und Alquati gegründet wurde und sich vornahm, mit Hilfe der Marx´schen Arbeiteruntersuchung die Klassenzusammensetzung der neuen Welle an Fabrikmilitanz zu untersuchen, die auf die Revolte der Piazza Statuo in Turin 1962 folgte. Viele derjenigen führenden Intellektuellen, die an der auch von der PCI vertretenen Arbeiterzentralität festhielten, aber auch dem orthodoxen Marxismus und der Historischen Linken kritisch gegenüberstanden, wurden in seine Herausgabe verwickelt. (Von Alquati liegt vor: Klassenanalyse als Klassenkampf. Arbeiteruntersuchungen bei FIAT und Olivetti, Frankfurt 1974. Die Revolte auf der Turiner Piazza Statuto im Juli 1962 ist die erste große Arbeiterrevolte nach dem Wiederaufbau. Erstmals tritt dort ein (neuer) Typ von Arbeiter auf, mit dem niemand gerechnet hatte, AdÜ)

(22) Eine Bewegung hauptsächlich aus StudentInnen und jugendlichen Arbeitslosen, die grosse Auswirkungen auf die italienische Politik, Gesellschaft und Kultur während des ganzen Jahres 1977 hatte, bevor sie vom Regime des Historischen Kompromisses unterdrückt wurde. Sie repräsentiert die intensivste Periode an Aktivitäten der Autonomia als einer sozialen Bewegung (im weiteren Sinne). (Die 1977er Bewegung ist wohl am ehesten mit der im gleichen Zeitraum beginnenden westdeutschen Alternativbewegung vergleichbar. Sie war aber radikaler und einer weit stärkeren Verfolgung ausgesetzt, AdÜ).

(23) Classe Operaia war das politisch radikalere Resultat einer (Ab-)Spaltung der Quaderni Rossi 1962, die vor allen von Tronti, Alquati und Negri und denjenigen, die ein mehr eingreifende („interventionistische“) Rolle der Zeitschrift in den Fabrikkämpfen favorisierten. Aus dieser Gruppe entstand in den späten 1960er Jahren die operaistische Organisation Potero Operaio. Der Grund der Trennung war, dass Panzieri, wie auch die Gewerkschaften und die institutionalisierte Linke, den Aufruhr auf der Piazza Statuto in Turin im Juli 1962 als Werk von „Faschisten“ und „Provokateuren“ denunziert hatte.

(24) Das Konzept des „Massenarbeiters“ wurde von Operaisten entwickelt und beschreibt die neue Klassenzusammensetzung in den Fabriken des italienischen Nordens ab der Mitte der 1950er Jahre, in denen hauptsächlich junge, frisch „eingewanderte“, un- und halbausgebildete Fliessbandarbeiter aus Süditalien arbeiteten, die sich nicht mit den Gewerkschaften oder der PCOI identifizierten und die das Rückgrat der autonomen Arbeitskämpfe des „Heissen Herbstes“ 1969 werden sollten. Sie unterschieden sich von der vorhergehenden Generation ausgebildeter operaio artigiani („Handwerker-Arbeiter“), die aus Norditalien kamen und die Hauptstütze der Gewerkschaften und der PCI bildeten. Eine Weiterentwicklung des Konzepts des Massenarbeiters unternahm Toni Negri in den 1970er Jahren. Der operaio sociale (gesellschaftliche Arbeiter) war der Versuch, das „neue soziale Subjekt“ der Post-1968-Sozialbewegung theoretisch zu umschreiben: Dieses war StudentIn, ArbeiterIn; arbeitslos (und Feministin) – und das alles oft gleichzeitig. Der operaio sociale bleibt aber eine umstrittenerere und weniger theoretisch ausgearbeitete soziale Figur als der Massenarbeiter. (Sozusagen könnte der „immaterielle Arbeiter“ des Empire als Weiterentwicklung oder aktuelle Erscheinungsform des operaio sociale aufgefasst werden, vgl. Empire S. 302-305, 416, AdÜ).

(25) Ein Hinweis auf Magistratura Democratica, eine Organisation radikaler Richter, die versuchten, sich der Welle repressiver und antiterroristischer Gesetzgebung, die die autonomen Sozialbewegungen ab Mitte der 1970er Jahre umklammerte, entgegenzustellen oder sie zumindest zu verlangsamen und zu „demokratisieren“.

(26) Franco Basaglia ist einer der Gründer der italienischen Antipsychiatriebewegung und einer der treibenden Kräfte hinter dem Gesetz Nr. 180, das die Wegschließung von psychisch Kranken in Anstalten beendete und sie in kommunale Fürsorge freigab. Tragischerweise wurde diese Maßnahme zynisch weltweit kopiert und von den neoliberalen Regierungen der 1980er und 1990er Jahre als Instrument zur Kosteneinsparung missbraucht. In Italien führte die Unterversorgung mit sozialen Dienstleistungen auf kommunaler Ebene zu weiterer Marginalisierung der psychisch Kranken.

(27) Nanni Balestrini, Dichter, Schriftsteller und Historiker der Bewegungen der 1970er Jahre. Seine wichtigsten Werke sind Vogliamo Tutto (Wir wollen alles!), ein Bericht über den Heißen Herbst in Turin aus der Sicht eines süditalienischen Arbeiters bei FIAT (Wir wollen alles. Roman der FIAT-Kämpfe, München 1972, AdÜ); Gli Invisibli (1987), die Geschichte einer Gruppe autonomi aus der Region Mailand in der Zeit der 1977er Bewegung (Die Unsichtbaren, München 1988, 2. Auflage Berlin 2001, AdÜ) sowie L´Orda d´Oro (1988) eine zusammen mit Primo Moroni verfasste Geschichte der Bewegungen von 1968 bis 1978 (Die goldene Horde, Berlin 1994; ferner liegt der Roman I Furiosi, Berlin 1995 über die Subkultur der linken Fussballfans und der Roman „Der Verleger“, Hamburg 1992 über den linken Verleger Giangiacomo Feltrinelli vor, AdÜ).

(28) Montedison ist die größte private chemische Firma in Italien. Sie war tief in das Netz der Korruption verstrickt, in das der größte Teil der politischen und ökonomischen Klasse Italiens verwickelt war, wie es in den tangentopoli Skandalen der frühen 1990er Jahre enthüllt wurde.

(29) Die verdi (Grünen) tauchten als eine politische Partei, die an lokalen und nationalen Wahlen teilnahm, ab Mitte der 1980er Jahre auf. Zusammengesetzt aus ehemaligen Militanten der Neuen Linken und einer neuen Generation von ökologischen Aktivisten, die sich als „Weder (von) rechts noch (von) links“ ansahen, und deshalb objektiv im Klassenkampf neutral waren. Anfänglich hatten sie auf Kosten der Entfremdung von einem großen Teil der organisierten Arbeiterbewegung, der sie als eine Bedrohung ihrer Arbeitsplätze und ihres Lebensstandards ansah und den radikalen Sozialbewegungen, die sie als zentristische Opportunisten ohne eine seriöse Analyse der sozio-ökonomischen und politischen Ursachen der ökologischen und Umweltkrise ansahen. an den Wahlurnen spektakuläre Erfolge, die sie aber in den 1990er Jahren nicht fortsetzen konnten.

(30) Eine operaistische Zeitschrift, die eine unabhängigere Linie gegenüber den Entwicklungen in den sozialen Bewegungen und den Klassenkämpfen der 1970er Jahre einnahm, als die Projekte die mit der Autonomia organizzata verbunden waren, wie Rosso (Rot) oder Senza Tregua.

(31) Pietro Calogero, ein mit der PCI sympathisierender Ermittlungsrichter in Padua nahm am 7. April 1979 Toni Negri und die meisten der mit der Autonomia Organizzata in Verbindung stehenden Intellektuellen und Universitätswissenschaftler fest und klagte sie wegen Terrorismus und versuchtem Umsturz gegen den Staat an. Seine Theorie war, dass die Autonomia Organizzata die „Gehirne“, der Kopf der Brigate Rosse (BR), dass die beiden Organisationen ein und dasselbe und Negri und andere in der Autonomia die „intellektuellen Urheber“ der Entführung und der Ermordung von Aldo Moro, dem ehemaligen Ministerpräsidenten, im Jahre 1978 seien. Schließlich konnten die Angeklagten beweisen, dass die Theorie unbegründet und kaum mehr war als ein Vorwand für eine Hexenjagd auf die außerparlamentarische Linke und speziell die Autonomia. Die Autonomia hatte die Brigate Rosse immer als rohen anachronistischen, marxistisch-leninistischen Rückfall zu den partigiani (Partisanen) des Zweiten Weltkrieges kritisiert, der nur dem Staat in die Hände spiele. Die Einschätzungen variierten vom Unentschiedenen („Sie sind GenossInnen, die es falsch machen“) bis zu Negris Aussage, die BR seien die „Syphillis der Bewegung“. In der Tat waren die Beziehungen zwischen den politischen Gefangenen der BR und denen der Autonomia, um es vorsichtig auszudrücken, angespannt. Schließlich wurden die Anklagen auf die Bildung nicht näher bestimmter „bewaffneter Banden“ (banda armata) verringert und die meisten Angeklagten 1985 freigesprochen. Einige wurden ohne Verurteilung fünf Jahre in Untersuchungshaft gehalten, eine Situation, die Amnesty International und andere Bürgerrechtsorganisationen zu einer Kampagne veranlasste. Negri wurde als Kandidat der Radikalen Partei ins Nationalparlament gewählt, unter parlamentarischer Immunität aus dem Gefängnis entlassen und floh nach Frankreich kurz bevor das Parlament 1983 entschied, seine Immunität vor der Strafverfolgung aufzuheben. Hier schloss er sich einer wachsenden Gemeinschaft italienischer politischer Exilant(inn)en an, die vor der schlimmsten Repressionswelle seit dem Faschismus geflohen waren. Tausende wurden auf die Aussagen von pentiti (reumütige Ex-Militante) hin in „Spezialgefängnisse“ geworfen. Negri setzte seine politische und akademische Karriere in Paris fort, wurde von Althusser eingeladen an der Ecole Normale zu lehren und half Futur Anterieur (dt: Vorweggenomme Zukunft, mittlerweile eingestellt. Nachfolger ist multitude, AdÜ) herauszugeben.

1997 entschied er sich freiwillig nach Italien zurückzugehen, den Rest seiner Strafe abzusitzen und sich für eine Generalamnestie für alle linken politischen Gefangenen einzusetzen. Er erwartet, wie mehrere Autonomia und über 100 politische Gefangene der Brigate Rosse und anderer Gruppierungen und über 200 politische ExilantInnen die lange versprochene, aber sich langsam verwirklichende „politische Lösung“ für die „bleiernen Jahre“ der späten 1970er und frühen 1980er Jahre.(Neben den pentiti gibt es noch eine große Anzahl sog. dissociati, die sich zwar von ihrer bewaffneten Gruppe gelöst haben, aber keine Aussagen gegenüber den Behörden machen, AdÜ.)