Sebastian Lotzer
It will be a long night.
It is good, on the night shift, oooh
You found another home
I know that you’re not alone on the night shift
Vier Abende und Nächte. Verschärfte Ausgangssperre. Zehn Jahre, nachdem Muḥammad al-Būʿazīzī sich und das was die weiße Welt die arabische Welt nennt, in Brand gesetzt hat. Pandemie Ausgangssperre. Niemand hat ihnen das abgekauft. Die Angehörigen Jener, die vor 10 Jahren gefallen sind, haben sich wie jedes Jahr in der Innenstadt von Tunis versammelt, um zu gedenken, um dafür zu sorgen dass die Toten nicht vergessen werden, um an alles zu erinnern, um daran zu erinnern, dass sich nichts geändert hat. Man hat ihnen Pfefferspray in die Gesichter gejagt, so als wenn da eh schon nichts als Tränen wären.
Seit der ersten Nacht der verschärften Ausgangssperre brennen auf den Straßen der Arbeiter*innenviertel Tunesiens wieder die Autoreifen, fliegen Steine… “Das ganze System muss verschwinden … Wir werden auf die Straße zurückkehren und unsere Rechte und unsere Würde zurückgewinnen, die eine korrupte Elite nach der Revolution an sich gerissen hat.“… Eine Stimme von vielen, hier denkt fast jede und jeder so. Regierungsgebäude werden mit Steinen und Brandflaschen bedacht. Die Vororte von Tunis, Kasserine, Gafsa, Sousse, Monastir, die gleichen Namen, die gleichen Orte wie vor zehn Jahren. Nichts hat sich geändert. Alles muss sich ändern. Die Regierung hat die Armee und die Nationalgarde mobilisiert, Radpanzer rollen durch die Straßen, werden von den Dächern aus mit Molotows eingedeckt. Über 700 Jugendliche sind mittlerweile festgenommen worden, vor dem Justizpalast von Tunis stehen ihre Familien und fordern ihre Freilassung. Mittlerweile wachsen die täglichen Demos in der Hauptstadt an, auf der geschichtsträchtigen Avenue Habib Bourguiba sammeln sich die Menschen: “Das Volk will den Sturz des Regimes”. Immer noch. Eine Ansprache des Premierministers im TV: “Die Klagen und Anliegen der Jugend sind berechtigt, wir haben sie vernommen, aber wir werden mit Härte gegen jegliche Gewalt vorgehen.” Es ist, als wenn Ben Ali niemals gestürzt worden wäre.
Das Jahr hat erst begonnen und schon erscheint es, als wenn die Welt nur für ein paar Monate (scheinbar) die Luft angehalten hätte. In Guatemala drängt eine neue Karawane der Hoffnung in Richtung USA, in Indien sind seit Wochen Millionen von Bauern auf den Straßen, in Frankreich fliegen wieder jedes Wochenende die Tränengaskanister durch die Luft. Und dies sind nur Bruchstücke jener Sequenzen, die derzeit die Zuspitzung der sozialen Konfliktualität trotz oder gerade wegen des Corona Ausnahmezustand wieder auf die Tagesordnung setzen.
Der Riot möchte nichts bewahren, nichts affirmieren. Er möchte höchstens die Existenz eines gemeinsamen Gegners, einer geteilten Notlage, einer geteilten Negation bekräftigen.
Joschua Clover Riot.Strike.Riot
Wenn wir an dieser Stelle über die Aufstände in Tunesien reden, dann auch deshalb, weil niemand hierzulande über die Unruhen im Sommer in Stuttgart mehr redet. Oder anders gesagt, weil es für jenes Surplus Proletariat das voller Stolz für die Riots verantwortlich zeichnet, keine wirkliche räumliche/perspektivische Trennung gibt. Es nur den Irrtum der Linken über die Genese und die Perspektive der ganzen Angelegenheit gibt. Zu großen Teilen abgespalten von jeglicher proletarischen Lebensrealität richtet sie sich im stay home Biedermeier häuslich ein, bis der Staat die Pandemie aus der Welt geschafft hat oder gefällt sich darin, ausdifferenzierte Konzepte des Ausnahmezustandes in den Diskurs einzubringen. Bis heute gibt es keinen lesenswerten linken Bericht zu der Revolte in Stuttgart, keine Interviews mit den Beteiligten, niemand kennt die Namen der Inhaftierten, es werden keine Spendengelder für die Prozesse gesammelt, niemand besucht oder schreibt den Gefangenen. Und dies ist keine Frage der Moral, obwohl es das auch ist, sondern eine Frage der Notwendigkeit, denn woher sonst sollen zukünftige gemeinsame Kämpfe kommen, wenn nicht aus den konkreten Kämpfen die schon da sind.
Wir werden 2021 eine weitere Generalisierung der Aufstände erleben, die Folgen der weltweiten Ausnahmezustände werden Millionen Menschen das Leben kosten, die Flucht-und Migrationsbewegungen werden unvermeidlich sich multiplizieren. Unsere Gegner, die im Gegensatz zur hiesigen Linken ein klares Bewusstsein über die Klassenfrage besitzen, werden das Instrumentarium, dass sie sich im Pandemie Ausnahmezustand angeeignet haben, bedingungslos in der Unterwerfung der kommenden sozialen Unruhen zur Anwendung bringen. Kategorisierung, räumliche Abschottung, Kontrolle über Straße und Plätze, manipulative soziale Techniken,… taugen nicht nur zur “Bekämpfung” von Pandemien, sondern sind ebenso hilfreich zur Unterdrückung sozialer und politischer Widerstände, bzw. fließen die verschiedenen Ausnahmezustände schon ineinander über, wie man z.B. derzeit in Griechenland sehr gut beobachten kann, dass ja schon 2008 ein Experimentierfeld für die Bewältigung einer krisenhaften Zuspitzung gewesen ist.
Aufgabe jener linksradikalen Splitter hierzulande, die zaghafte Versuche unternehmen, das vorherrschende Narrativ des Pandemie Ausnahmezustandes infrage zu stellen und Möglichkeiten und Orte des Widerstandes zu schaffen, müsste nun u.a. die Diskussion darüber sein, wie die Isolierung von der wirklichen gesellschaftlichen Realität aufgehoben werden kann. Jenseits von wohlfeilen Phrasen von Solidarität und Forderungskatalogen an den Staat. Initiativen wie die Demo am 23. Januar in Berlin, für die begrüßenswerterweise im real life breit plakatiert wurde, könnten ein Schritt in diese Richtung sein, wenn sie sich im bewussten Bruch zu jenen Teilen der Linken positionieren, die den Ausnahmezustand durch Schweigen und Akklamation mittragen. Ebenso könnten die Mobilisierungen zum 1. Mai einen Ort bieten, wenn sie sich nicht in der Reproduktion bekannter Rituale und Handlungsabläufe erschöpfen. Jenseits dieser ganz praktischen Fragen gilt es die Debatte zu intensivieren, die durch die unsägliche #ZeroCovid Kampagne dankenswerterweise aufgebrochen ist. Wenn die Nacht am tiefsten ist der Tag am nächsten…