“Ich hab’ so Heimweh nach dem Kurfürstendamm”

Sebastian Lotzer

Wenigstens keine neue “Offensive”, kein “Unregierbar”, keine vollmundig verbalradikalen Ankündigungen, stattdessen nun also bunt und divers, der 1. Mai in Berlin soll “familienfreundlich” werden, das Schweinesystem hat versagt, weil es keinen “echten Lockdown” gestemmt bekommen hat, bald kommt die revolutionäre Ausgangssperre. Gruppierungen, die sich nicht zu schade waren, mit Grünen, Linke und SPD Menschenketten zu bilden, verkünden nun mit stolzgeschwellter Brust die Übernahme des Frontblocks. Der 1. Mai in seiner Essenz: Einmal im Jahr die eigene gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit vergessen machen, eine Demo mit 10.000 Menschen anführen. Selber unfähig Geschichte zu schreiben, bietet das Event 1. Mai seit vielen Jahren Gelegenheit sich im historischen Kontext herausputzen zu können. Eitle Selbstgefälligkeit, der die dumpfe Masse, die hinterher latscht, völlig egal ist, so wie der dumpfen Masse selber, die mit dem Wegebier in der Hand irgendwelchen roten oder was auch immer für Fahnen hinterher latscht, eigentlich auch die genauen Bestimmungen des Ganzen ziemlich egal sind. Mensch könnte am 1. Mai auch für niedrige Bierpreise oder kostenlose Bartrasuren demonstrieren, es kämen trotzdem jene 10.000 die Teil des fifteen-minutes-fame framing sein wollen.

Das zweite Jahr in Folge Corona bedingt kein Ballermann Fest zwischen Oranienplatz und Schlesisches Tor. Das war es schon mit den guten Nachrichten. Waren es im letzten Jahr nur 2000, 3000 Leute, die trotz Pandemie nach Kreuzberg zum 1. Mai kamen, wussten die offensichtlich wenigstens zum großen Teil, warum sie da waren. Keine pseudoradikale Runde mit Hassi unangemeldet durchs Myfest, wobei eh immer die Hälfte inmitten des Ballermannpublikums verloren ging. Kein überdimensionierter Truck, der in ohrenbetäubender Lautstärke die immer gleichen Phrasen und Parolen unters Volk brachte. Kein pseudomilitanter Frontblock, der Jahr für Jahr Prügel bezog, wenn die Bullen die Zeit für gekommen hielten. Stattdessen zog mensch 2020 kreuz und quer durch Kreuzberg, die Bullen kamen das erste Mal seit Jahren ins Schwitzen und es brauchte keine grossen militanten Auseinandersetzungen, um das Gefühl zu bekommen, heute sei es am 1. Mai mal wirklich um etwas gegangen und an diesem Abend fand dann auch das Lächeln zurück auf den Heinrichplatz. Aber was zählt schon ein Lächeln im Geschacher der Bündnisse und Politgruppen um die Zielgruppe.

Nun also alles neu erfinden, gewiefte PR Strategen platzieren eine neue Verpackung auf dem Markt. Dass das mit dem Aufstand von 1987 alles schon lange nichts mehr zu tun hat, ist eine Binse, aber sei trotzdem immer und wieder erzählt. Weil es Zeiten gibt, in denen es nur möglich ist trotzig-beharrlich die eigene Geschichte nicht vergessen zu machen. Auch daran zu erinnern, dass der Aufstand 1987 eben auch einer der proletarisch-migrantischen Community war, wie mensch heutzutage sagen würde. Das Jahr für Jahr migrantische Combos und Autonome in Kreuzberg Seite an Seite randaliert haben, dass erstere eben aber auch immer schon ihr eigenes Ding gemacht haben, schon bevor Antifa Genclik ins Spiel kam. Und dass das gut und richtig und wichtig war. Das mensch sich auf Augenhöhe begegnet ist und das aus diesem gegenseitigen Respekt der gemeinsame Kampf gegen die Faschos resultierte, das man den ersten Faschos, die nach dem Mauerfall nach Kreuzberg kamen, sofort aufs Maul haute, die dann auch nicht wiederkamen. Mensch sofort nachsetzte und so lange zum Alex zog und den Nazis dort das Fell über die Ohren zog bis es nicht mehr ihre Homebase war. Das alles gilt es immer und immer wieder zu erzählen, weil sich nichts an den Notwendigkeiten geändert hat.

Der Preis für die innovativste Aktion zum 1. Mai in Berlin der letzten Jahrzehnte gebührt ausgerechnet den Faschos, denen 2010 der Einfall kam, mit 300 Leuten überraschend auf dem Kurfürstendamm aufzutauchen, während Tausende einen Naziaufmarsch in Pankow blockierten. Die “revolutionäre” Linke hat es in all den Jahren eine Zeitlang mal nach Prenzlberg, Mitte und Friedrichshain geschafft, aber niemals dahin, wo es “wirklich weh” tut. Das gelang dann ein paar Spaßvögeln die als QM Grunewald zu einem Spaziergang ins Villenviertel einluden, was dann zur allgemeinen Überraschung, auch der Bullen, tatsächlich 2000, 3000 Leute anzog, aber wie immer wird jede Wiederholung eines solchen Coup schnell schal. Geschichte wiederholt sich als Tragödie oder Farce.

Nun also scheint es in Berlin nur noch die Wahl zwischen Cholera und Pest zu geben, entweder im Bullenkessel zu latschen wie vor und nach der Räumung der Meuterei, oder sich als träge Masse durch die immer gleichen Straßen zu wälzen, sich selber dabei immer wieder die gleichen Redebeiträge zu erzählen. 2021 ist noch so jung, verspricht aber schon jetzt noch beschissener als 2020 zu werden, das immerhin einen sonnendurchfluteten 1. Mai Abend in der Oranienstraße und einen militanten Tanz im Regen in Mitte nach der Räumung der Liebig 34 bereit hielt. Die Akteure des Spektakels wechseln alle paar Jahre, das Schauspiel am 1. Mai selbst bleibt in seiner Erbärmlichkeit das Gleiche. Mögen bessere Tage und wagemutige junge Menschen kommen, die die alten Götzen endlich stürzen und neue Feuer entfachen, an die sich die Menschen noch Jahre später mit Tränen der Leidenschaft erinnern zu vermögen.