Azurblau für Cesare Battisti

Sebastian Lotzer

Manchmal ist es notwendig, unvermeidlich, sich abzuwenden, fortzugehen, etwas oder jemanden hinter sich zu lassen. Eine Passion, eine Liebe, eine Gelegenheit, ein Leben. Und manchmal ist es unvermeidlich, noch einmal zurückzukehren, weil noch etwas offen, etwas zu sagen ist, oder eine Geste notwendig erscheint. Vor ein paar Wochen beschloss ich, für einige Zeilen aus dem Nebel zurückzukommen, weil ein alter Gefährte aus den Kämpfen der 80iger, Bernd Heidbreder, im Exil in Venezuela verstorben war und es für mich unvermeidlich schien, einige wenige Worte dazu zu sagen.

Nun also spreche ich erneut aus dem Nebel zu euch, weil mich das Schicksal eines “alten” Mannes bewegt. Cesare Battisti befindet sich seit dem 2. Juni im Hungerstreik, zusätzlich verweigert er seine Medikamente, die er aufgrund der langwierigen Folgen einer Hepatitis B Infektion zu sich nehmen muss. Seit über 28 Monaten befindet er sich defacto in Einzelhaft, als Reaktion auf seinen letzten Hungerstreik im Herbst letzten Jahres hat ihn der italienische Staat in den Knast von Rossano verschleppt, wo er im Hochsicherheitstrakt für ‘islamistische Terroristen’ einsitzt, umgeben von Gefangenen, die ihm nach dem Leben trachten, wiederholt ist er schon vor Jahren von Islamisten mit dem Tode bedroht worden u.a. wegen seines Engagement für den kurdischen Befreiungskampf. Nun also verlässt er seine Zelle praktisch nicht mehr und wenn er sie verlässt, dann darf er ‘Hofgang’ in einem Betonloch machen, das ganze 2 mal 3 Meter misst, die Wände so hoch, dass er den Himmel nur erahnen kann, der noch zu allem Überdruss hinter einem Gitter versteckt.

Über 40 Jahren sind die Geschehnisse her, für die Cesare Battisti einsitzt. 40 Jahre. Mittlerweile ist er 67 Jahre alt. All diese ‘Taten’, die ihm zur Last gelegt werden, waren Teil der Klassenauseinandersetzungen Ende der 70iger in Italien. Er war Mitglied der Proletari Armati per il Comunismo (PAC), eine der zahlreichen Gruppen die innerhalb dieser zugespitzen Klassenauseinandersetzungen in Italien bewaffnet operierten. Nach einer kurzen Zeit der Inhaftierung gelang ihm 1981 die Flucht aus dem Gefängnis, zuerst lebte er wie viele italienische Exilanten in Frankreich, dann ging er nach Mexiko, kehrte erneut nach Frankreich zurück, wo die Mitterand Regierung die Anwesenheit der Exilanten mittlerweile offiziell duldete. Nachdem er in Italien in Abwesenheit für alle Toten der PAC verantwortlich gemacht und verurteilt worden und die “Mitterand Doktrin” widerrufen worden war, floh er nach Brasilien.

Seitdem hat er über ein dutzend Bücher veröffentlicht, politische Literatur, Krimis, wunderbare Kurzgeschichten und Gedichte. Er hat in seiner Zeit in Brasilien über diverse Kanäle versucht, eine Möglichkeit zu finden, legal nach Italien zurückzukehren, er hat in diversen Interviews und Stellungnahmen die persönliche und politische Verantwortung für die Praxis der PAC übernommen, er hat seinen persönlichen Anteil, auch an den Fehlern und Irrwegen, in keinster Weise als geringer zu erscheinen lassen versucht. Er hat alles getan, was ein Mensch tun kann, um seinen bescheidenen Frieden in dieser Welt zu finden, er hat wirklich alles getan, außer sich zu unterwerfen und sich als reuiger Sünder selbst zu kreuzigen. Es hat ihm alles nichts genutzt. Sein Status in Brasilien wurde immer prekärer, um seiner Auslieferung nach Italien zu entkommen floh er nach Bolivien. Von dort wurde er jedoch von einer wortbrüchigen linken Regierung unter Morales unter Verletzung des internationalen Rechts nach Italien ausgeflogen.

Nun sitzt er also in diesem ISIS Hochsicherheitstrakt, wie er ihn nennt. Alle seine Anträge auf Wiederaufnahme seiner Verfahren wurden abgelehnt, obwohl niemand mehr ernsthaft behauptet, er sei wirklich an allen Aktionen beteiligt gewesen, die zu dem Tod von vier Menschen führten. Aber es spielt keine Rolle, dass er nachgewiesenerweise zu einigen von den ‘Tatzeitpunkten’ sich an ganz anderen Orten aufgehalten hat, es spielt keine Rolle, dass ihm eigentlich die Möglichkeiten der “Resozialisierung” eingeräumt werden müssen, es spielt keine Rolle, was im italienischen Strafvollzugsgesetz steht. Nicht für Cesare Battisti. Wie in einem extralegalen Raum wird die Rache des italienischen Staates exekutiert. Entweder Cesare Battisti lässt sich brechen oder er wird gebrochen werden, die Dialektik der Vernichtungshaft.

Der Brief, den er kurz nach dem Beginn seines Hungerstreiks geschrieben hat, gehört zu dem traurigsten, was ich jemals übersetzt habe. In völliger Klarheit über seine Situation nimmt er Abschied von allen, die ihm nahestehen und lieben, bittet um Verzeihung für den Schmerz, den er ihnen zufügt, zufügen wird. Er weiß, dass seine Aussichten in diesem Kampf verschwindend gering sind, dass ihn dieser Kampf wahrscheinlich das Leben kosten wird, obwohl er doch genau darum kämpft: leben zu können. Rauszukommen aus diesem Loch, in das man ihn geworfen hat. Aber er sagt, dass er nicht anders kann, als seine Würde und seine Selbstachtung, die individuelle und kollektive Erinnerung an die Kämpfe, die er, die wir gekämpft haben, zu verteidigen.

Die Feinde des Lebens, die Organisatoren der Barbarei, in der wir alle leben müssen, haben die alten Kämpfer*innen für eine andere Welt, für ein lebenswertes Leben nicht vergessen, sie jagen und verfolgen sie noch Jahrzehnte nachdem die konkreten Konfliktualitäten nur noch Teil der Geschichte sind. Sie machen immer noch Jagd auf die Genossen vom K.O.M.I.TT.E.E, sie fahnden nach Genoss*innen aus der RAF, die seit 20, 30, 40 Jahren untergetaucht sind. Wer ihnen in die Finger fällt, hat nur das Schlimmste zu erwarten. Dimitris Koufontinas kämpfte Anfang dieses Jahres, im Alter von 63 Jahren, in seinem 5. Hungerstreik 66 Tage lang gegen seine Sonderhaftbedingungen, er gelangte nicht nur an die Schwelle zum Tod, sondern musste sogar wiederbelebt werden, als seine vitalen Körperfunktionen als Folge der Unterernährung und der Dehydrierung versagten. Nein, unsere Gegner “vergessen” die alten Kämpfer*innen nicht. Sie sind nachwievor das Ziel von Sonderhaftbedingungen, die auf die Zerstörung der Subjektivität, der Identität abzielen. Die Frage ist nur, ob WIR ebenfalls die alten Kämpfer*innen nicht vergessen, ob wir an ihrer Seite sind, wenn sie uns am dringendsten brauchen. Cesare Battisti braucht uns jetzt. Er braucht eine Perspektive jenseits von Einzelhaft und Verrecken im ISIS Trakt. Azurblau für Cesare Battisti.

In Liebe und Verbundenheit aus dem Nebel, Sebastian Lotzer. Berlin, den 26. Juni 2021.

Update 27. Juni, 2021: