11.6.1982: Feuerzeichen am Nollendorfplatz

Autonome aus Berlin

11.6.1982. Der US Präsident besucht Westberlin, die Stadt ist die letzte Etappe einer 10 tägigen Visite in Westeuropa, am 9. und 10. Juni hatte er an der NATO-Ministerkonferenz in Bonn teilgenommen, eine Rede im Bundestag gehalten. In Bonn hatten 300.000 Menschen an einer Demonstration der Friedensbewegung teilgenommen, die Berliner FRIKO (Friedenskoordination), in der über 100 Gruppen zusammensaßen hatte sich mehrheitlich für die Deeskalation entschieden und die große Demo gegen den US Präsidenten auf den Vorabend des Besuches gelegt. Lediglich die Autonomen und Antiimps sowie die Alternative Liste (AL), der Westberliner Ableger der Grünen, halten daran fest, am Tag des Staatsbesuchs selbst demonstrieren zu wollen. 

Seit Wochen fiebern die Stadt dem Besuch entgegen, aus durchaus unterschiedlichen Gründen. Halbkonspirative Vernetzungstreffen finden fast täglich statt, etliche Genoss⁺innen sind schon Tage vor dem Besuch “abgetaucht”, verbringen die Tage und Nächte in Wohnungen von Leuten die nicht so polizeibekannt sind. Seit Wochen tobt der sogenannte Lappenkrieg, seitdem die Bullen angefangen haben, Transparente gegen den Besuch von Reagan zu entfernen, vorzugsweise von den Fassaden der besetzten Häuser, tauchen für jedes entfernte Transparent, jede übertünchte Parole 10 neue auf, es ist wie bei Hase und Igel:  „Ick bün all hier!“ 

Die Demonstration am 11.6., die im Herzen der Berliner Besetzerbewegung, das damals noch am lautesten rund um den Schöneberger Winterfeldtplatz schlägt, beginnen und in Richtung Schloss Charlottenburg führen soll, wo der US Präsident eine Rede vor ausgewähltem Publikum halten soll, wird frühzeitig verboten. Trotzdem halten autonome und antiimperialistische Zusammenhänge aus dem gesamten Bundesgebiet an der Mobilisierung fest. Auch die AL knickt nicht ein, auch wenn ihre Mobilisierung zum Nollendorfplatz eher symbolischer Natur ist. Die  Transitstrecken in Richtung Berlin werden von den Bullen hermetisch kontrolliert, ein Konvoi aus Westdeutschland landet in ihren Fängen (s.u.), trotzdem dürften um die 2000 Menschen aus Westdeutschland, die meisten sehr gut organisiert, den Weg nach Berlin gefunden haben. 

Die Demonstration der FRIKO am 10.6.in Westberlin, an der sich um die 80.000 Menschen beteiligen, sind nur eine Randnotizen in den Lokalnachrichten und der Tagesschau, die Bilder des Geschehens am 11.6. dagegen werden u.a. von US amerikanischen Fernsehsendern weltweit versendet. 

Der 11.6. selber beginnt scheinbar ganz entspannt, entgegen der allgemeinen Erwartungen gibt es auf dem Weg zur verbotenen Demo am Nolli keine Bullensperren, die auf alles vorbereiteten und größtenteils mit Helmen und sonstiges Notwendigkeiten ausgestatteten grösseren Zusammenhänge können sich überraschend auf dem Platz sammeln, schnell sind es um die 4000 Menschen, lediglich an den zuführenden Straßen in westlicher und nördlicher Richtung  sind Bulleneinheiten postiert.

Doch die Freude darüber, sich ungehindert sammeln zu können währt nicht lange. Die Bulleneinheiten im Norden und Westen des weitläufigen Platzes rollen urplötzlich NATO – Stacheldraht aus, der mit Stahlkrampen im Asphalt verankert wird, im Süden und Osten des Platzes rücken innerhalb kürzester Zeit ebenfalls starke Bulleneinheiten an, auch hier wird Stacheldraht ausgerollt. Die Demo findet sich in einer gigantischen Mausefalle wieder, vieles an Material für den Tag befindet sich in angelegten Bunkern an der geplanten Demoroute und steht nicht zur Verfügung. Trotzdem brechen innerhalb von wenigen Minuten heftige Kämpfe aus, an mehreren Stellen wird versucht die Bullenabsperrungen zu durchbrechen, im Norden gelingt auch ein Geländegewinn von einigen hundert Metern, dann muss der Durchbruchversuch an dieser Stelle aufgegeben werden. Wannen rasen immer wieder mit hohem Tempo kreuz und quer über den Platz und mitten durch die Menschenmenge, von allen Seiten prasseln Steine auf die Fahrzeuge, im Kreuzfeuer erwischt der eine oder andere Stein auch die eigenen Leute. In der Bülowstraße gelingt dann mit der Unterstützung von Leuten, die die Bullen von außerhalb der Absperrung angreifen, der Durchbruch, eine Bullenwanne wird ebenso wie der Mercedes eines amerikanischen Fernsehteams auf die Seite, bzw. auf das Dach gelegt, beide Fahrzeuge gehen in Flammen auf, die Rauchwolken sind kilometerweit zu sehen. Die Kämpfe dehnen sich nun auf ein mehrere Quadratkilometer großes Gebiet aus, Schwerpunkt der Auseinandersetzungen wird die Gegend um den Winterfeldtplatz, hier gibt es ein knappes Dutzend besetzte Häuser. Die Kämpfe ziehen sich bis in den Abend hin, später stürmen die Bullen zwei besetzte Häuser und zerkloppen die gesamte Inneneinrichtung. Die Berliner Hausbesetzerbewegung tanzt einen letzten, wilden Tanz, bevor die sich endgültig in Verhandler- und Nichtverhandler spaltet und nur noch eine historische Reminiszenz darstellt. 

Wir erinnern an diesen Tag mit einigen “historischen” Dokumenten, beginnen jedoch mit einem Kapitel aus dem Buch “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” von Sebastian Lotzer, dass uns der Autor auf Nachfrage freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Autonome aus Berlin

Die Schlacht am Nolli – Sebastian Lotzer (1)

Sie sind gut vorbereitet. 

Fünfzig Leute. Fast alle mit Helm in der Hand. An den Vorabtreffpunkten keine Bullen. Ein Blick auf die Uhr. Der Melder kommt um die Ecke gesprintet, gibt das verabredete Zeichen. Zügig setzen sie sich in Bewegung. Rechts in die Zietenstraße, dann durch die trostlose Fußgängerzone der Nollendorfstraße. Die Straßen wirken so ausgestorben. Ein weiteres Zeichen. Alle bleiben stehen. Tücher werden vor die Gesichter oder die Motorradmasken über die Köpfe gezogen. Die Helme werden aufgesetzt und festgeschnallt. Dann geht es um die Ecke. Pauls Herz rast in Erwartung der überfälligen Bullensperre. Aber der Weg durch die Maaßenstraße in Richtung Nollendorfplatz ist frei. Er kann es nicht fassen. 

Auf dem Platz stehen schon über zweitausend Leute. Darunter angereiste Genossen und Genossinnen aus Hamburg und Göttingen. Aber Paul sieht auch Leute von der AL und sogar ein paar Friedensbewegte. Immer mehr Leute strömen auf den Platz, die Bullen sind nur in der Ferne zu sehen. Paul bekommt Magenkrämpfe und weiß nicht warum. Langsam stellt sich der Demonstrationszug in Richtung City auf. Bei den Bullen beginnt plötzlich eine hektische Aktivität. Mit Erstaunen beobachtet Paul, wie die Bullen Stacheldrahtrollen über die Fahrbahnen ziehen. Anschließend fixieren sie den Draht mit Krampen, die mit großen Bolzenschußapparaten in den Asphalt geschossen werden. Ungläubig und gebannt schauen alle dem surrealen Spektakel zu. Nun rücken auch aus südlicher und östlicher Richtung Bulleneinheiten vor. Entgegen der Absprachen stehen die Göttinger an der Spitze des Demonstrationszuges. Schick anzusehen, so ganz in schwarz und durchgängig mit Helm auf dem Kopf. Und diese Göttinger stehen da und stehen da und schauen dem Treiben der Bullen einfach tatenlos zu. 

Paul schreit, alles um ihn herum schreit: „Losgehen, losgehen!“

Aber die scheiß Göttinger bewegen sich keinen Millimeter. 

Innerhalb von nicht einmal fünf Minuten hat sich der Nollendorfplatz in ein Internierungslager verwandelt. Sie sind jetzt von allen Seiten eingekreist. Ein Bullenlautsprecherwagen fährt vor und in einer Durchsage wird irgendetwas von Kontroll- und Durchlasspunkten gelabert. Es ist kaum zu verstehen. 

Macht nichts, interessiert hier eh keinen. Hier ist nur noch Hass. Das lassen wir uns nicht bieten! Endlich weicht die Erstarrung und die ersten Gruppen fangen an, die Bullen in der Kleiststraße mit Steinen zu attackieren. Sofort wird von den Bullen massiv Tränengas verschossen. Auch an der Bülowstraße wird der Ausbruch versucht. Hunderte liefern sich schwere Kämpfe mit den Bullen. Einer großen Gruppen gelingt es einige hundert Meter weit in die Mackensenstraße vorzudringen, sie werden jedoch von einem Wasserwerfer zurückgedrängt. Möbel Roland am nördlichen Rand des Platzes verliert sämtliche Schaufensterscheiben, die Stilmöbel des Einrichtungshauses landen als Barrikadenmaterial auf der Straße. Jetzt fangen die Bullen an, mit ihren Wannen in hoher Geschwindigkeit quer über den ausgedehnten Platz zu jagen. Sie kassieren Steine von beiden Seiten, dabei erwischt es auch einige Leute. Endlich gelingt es die Bullensperre in der Bülowstraße zu durchbrechen. Die Bullen müssen auf ihrem Rückzug eine Wanne zurücklassen, die sofort auf die Seite gelegt und in Brand gesetzt wird. Kurz darauf erwischt es einen Mercedes Cabriolet, der ebenfalls quer auf der Straße geschoben und angezündet wird. Die Auseinandersetzungen dehnen sich nun auf mehrere Querstraßen östlich und südlich des Nollendorfplatzes aus. Aber die Bullen können verhindern, dass sich Leute vom Nollendorfplatz in Richtung City vorkämpfen. So tobt die Straßenschlacht über Stunden rund um den Winterfeldtplatz. 

Am frühen Nachmittag lehnt Paul am Schaufenster des Slumberland und gönnt sich eine Verschnaufpause. 

„So geht es nicht weiter“, denkt er sich. 

„Am Ende ziehen wir immer den Kürzeren und die Bullen behalten die Kontrolle. Ich will was anderes.“

Für uns, aus der relativen Schwäche gegenüber einer Macht, die hier fast alles hat, ist die Situation auch – dass sie zwar in der Lage sind – und das noch länger – eine Front, die hier ihre Macht bedroht, nicht zustande kommen zu lassen, dass sie zur Lösung ihrer Gesamtkrise aber auf sozialer, gesellschaftspolitischer, militärpolitischer Ebene gezwungen sind, aggressiv Macht an sich zu reißen und damit die politische Grenze in den Metropolen, die „Belastbarkeit“ zu überschreiten – Demokratie, Wohlstand, innerer Friede – und das sie nicht ewig durchhalten werden. 

Paul zündet sich noch eine Zigarette an. Wieder und wieder hat er den Text in den letzten Tagen gelesen. Der Elfte Sechste hat die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit aufgezeigt. Am Ende hatten sie sich aus der Einkesselung befreien können und die Rauchzeichen der brennenden Barrikaden waren sogar von CNN versendet worden. Aber die Bullen hatten es geschafft, sie von der City fernzuhalten. Alles was sie dort geplant hatten, konnten sie nicht durchziehen. Die zahlreich angelegten Depots waren unnütze Anstrengung gewesen. Aber war das hier der nächste, überfällige Schritt? 

Eigentlich hat Paul mit denen von der Stadtguerilla bisher nicht viel anfangen können. Klar waren Lorenzklau und die Banküberfälle mit Schokoküssen in der Szene populär. Und Stammheim war für sie alle DAS Symbol eines staatsfaschistischen Ausnahmezustandes. 

Solidarität mit den politischen Gefangenen? Sowieso! Aber doch nicht nur mit denen. Alle Knäste mussten gesprengt, alle Gefangenen befreit werden. Wenn die Leute von den Drei Buchstaben im Hungerstreik waren, gegen Isofolter und für Zusammenlegung, war selbstverständlich action angesagt. Paul versteht aber nicht, warum die nicht gemeinsame Sache mit den anderen Gefangenen machen. Dem Hungerstreik der Politischen hatten sich doch sowohl in Moabit, aber vor allem auch im Frauenknast viele andere Inhaftierte angeschlossen. Und nun also das hier. Frontkonzept. Die Sprache irritiert ihn und macht ihn gleichzeitig an. Vieles versteht er nicht. Machte ja nichts, kennt er ja schon, dass ihn etwas was sagt, ohne das er weiß warum. 

Paul hat die Schnauze voll von dem ganzen Symbolischen. Auf der Straße wird ihnen von den Bullen irgendwann immer eine Grenze aufgezeigt werden. Dann ziehen sie nachts los und hauen ein paar Scheiben ein. Sie müssen endlich effektiver werden. Nicht unbedingt Leute abknallen oder sowas, aber raus aus der scheiß Ohnmacht. 

Die Besetzerbewegung ist eh am Ende, Paul macht sich da nichts vor. Die Verhandlerschweine riskieren auf den Versammlungen immer häufiger eine dicke Lippe. Außerdem ist durchgesickert, dass einige Häuser hintenrum sowieso schon kurz vor Vertragsabschlüssen stehen. Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Sollen die doch ihre Verträge machen und sich in ihrem alternativen Spießerleben einrichten. 

Viele, auch er, wollen was anderes. Aber es fehlt an Organisierung. El Salvador, Guatemala, vielleicht geht es da lang. Die Sandinisten hatten doch gezeigt, was möglich ist. 

Über die Mittelamerika Solidaritätsgeschichten hat Paul ein paar Leute kennen gelernt. Straight drauf. Irgendwie auch spießig, aber eben auch straight drauf. Wenn die gerade nicht auf den Demos unterwegs sind, sehen die mit ihren Lederblousons und Bundfaltenhosen aus, wie irgendwelche Banktypen. Morgen ist er zu einem Treffen eingeladen. Irgendwo in Wilmersdorf. Die Vögel haben auch schräge Treffpunkte.

in meinem schönen kinderzimmer – damals noch im ruhrgebiet – herrschte immer die guerilla – guerilla ist der kleine krieg – ulrike meinhof war für mich – als kind ein echter superstar – an meinem heldenfirmament – mit valentina tereschkova, emma peel und raquel welch – in meinem schönen kinderzimmer – damals noch im ruhrgebiet – herrschte immer die guerilla 

Der Konvoi (2)

Kurz vor dem 11.6., auf der letzten Vorbereitungsveranstaltung für die Demonstration, ließen wir unsere Planung für einen Nordkonvoi über Lauenburg fallen. Ausschlaggebend dafür war, daß wir nicht genau wussten, wie viele Autos mit uns fahren würden und auch wieviele für eine Blockade notwendig wären. Wir hatten überlegt, erst ab 50 Autos den Konvoi zu machen, konnten aber auf der Veranstaltung noch nicht einmal dreißig sicher zählen und gaben den Konvoi auf.

Wo lagen unsere Fehler?

Die konkrete Planung für den Konvoi hatte in Hamburg der Verkehrsausschuss übernommen. Er war wohl auf den nationalen und regionalen Plenen diskutiert worden, wie er genau aussehen sollte, wusste aber nur der Ausschuß, der nicht dafür gesorgt hat, daß die Planung in den einzelnen Gruppen diskutiert werden kann. Wir hatten den Zusammenhang Plenum überschätzt, waren davon ausgegangen, daß, wenn der Konvoi im Plenum beschlossen ist, er in den Gruppen diskutiert wird und ,steht‘. Das war nicht so.

Wir waren auch offensichtlich selbst unsicher, konnten uns nicht genau genug vorstellen, wie der Konvoi praktisch aussehen soll und wie wir mit der Blockade politischen Druck ausüben wollen. Unsere Unsicherheit hat dazu geführt, daß wir nicht breit für den Konvoi mobilisiert haben (auf dem Flugblatt zu Westberlin stand z.B. gerade noch der Treffpunkt, aber keine Uhrzeit und auch nicht, daß der Treff da ist, um einen Konvoi aufzustellen) und daß wir auf der Veranstaltung nicht darum gekämpft haben, daß unsere Idee und Vertrauen in die Planung durchsetzt.

Dazu kamen Infos vom letzten nationalen Treffen, auf dem aus vielen Städten berichtet worden war, wieviele Menschen bestimmt nicht im Konvoi fahren würden – und die Tatsache, daß unser Treffen mit anderen norddeutschen Gruppen erst sehr spät stattgefunden hat. Und es war schon auf der Veranstaltung ziemlich klar, daß die Demo verboten sein würde, was wohl bei vielen den Entschluß, sich allein nach Westberlin durchzuschlagen, noch bestärkt hat.

Südkonvoi

Etwa zehn Autos aus Hamburg schlossen sich dann dem Konvoi, der über Helmstedt fahren sollte, an. Insgesamt waren wir dort ca. 40 Autos – unsere Einschätzung, erst ab 50 Autos über Lauenburg fahren zu können, erwies sich gleich praktisch als falsch – mit 40 Autos (und auch weniger) wäre eine Blockade gut möglich gewesen.

Im Helmstedter Konvoi mangelte es an Planung. In Helmstedt schon fuhren wir zu dicht an die Grenze ran, hielten an einer Stelle, wo die Autobahn schon 4 spurig war, eine Blockade wäre hier schlecht möglich gewesen. Wir schickten fünf Autos vor und wollten warten, bis die Kradmelder uns Bescheid zum Durchfahren oder zur Blockade geben würden. Nach den ersten Einschüchterungsversuchen der Bullen (wir hatten auf der rechten Fahrbahn geparkt) sie drohten, die Fahrer zu fotografieren und begannen bei den ersten Autos bereits mit der Feststellung der Personalien – fuhren wir einfach über die Grenze, ohne ein Zeichen der Kradmelder abzuwarten. Wir wurden nicht weiter kontrolliert.

In der DDR teilten uns Entgegenkommende mit, an der Grenze stünden drei Hundertschaften und würden uns erwarten. Daraufhin riefen wir in Westberlin an, um bei den Infobüros genauere Auskünfte zu erhalten, erhielten aber von den Menschen dort nur Auskünfte, mit denen wir nichts anfangen konnten. Wir baten sie, an der Grenze Öffentlichkeit herzustellen, d.h. Zeitungen etc. Bescheid zu geben. Wir waren dann in Bezug auf konkrete Infos über Bullen an der Grenze wieder auf Entgegenkommende angewiesen. Die nächsten sagten, an der Grenze stünden zwei Wannen, das sei normal. Wir bereiteten uns darauf vor, in Dreilinden wieder fünf Autos vorzuschicken und zu warten, was mit denen geschieht, hatten aber nicht klar, wo die restlichen Autos stehen bleiben sollten und wann und wie die Blockade anfangen sollte. Die Führung übernahmen Autos aus einer Stadt, die an den Vorbereitungen nicht teilgenommen hatte und also auch das, was an Planung da war, nicht blickten.

Jedenfalls fuhren wir in Dreilinden in die von den Bullen vorbereitete Falle. Die Bullen hatten sich auf einem Parkplatz aufgebaut, der rechts von den Grenzübergangshäusern war und der aus größerer Entfernung nicht einzusehen war, weil er von Bäumen umwachsen ist. Wir fuhren auf die Grenzhäuser zu und wurden nach rechts gewunken, auf den Parkplatz. Hier standen zu dem Zeitpunkt ca. 10 Wannen, was man auch sah, sobald man auf die Abzweigung zum Platz eingebogen war.

Die einzige Möglichkeit, hier eine Blockade zu machen, wäre gewesen, alle sechs Autospuren dichtzumachen. Wir ließen uns aber alle auf den Parkplatz einweisen, nur zwei Autos blieben stehen, wurden aber von den Bullen so massiv bedroht, daß sie, weil sie auch die einzigen blieben, weiterfuhren.

Unsere Fehler

Der Telefonkontakt zu Westberlin war für uns nicht hilfreich, weil der Genosse am Telefon nicht durchblickte bzw. keinen Bock hatte, uns Auskunft zu geben. Es standen aber Westberliner Genossen seit 15 Uhr in Dreilinden und hatten das Bullenaufgebot beobachtet, wußten auch, daß alle mit Helmen und Gasschutzbrillen im Auto verhaftet worden waren. Sie hatten das auch an die Infobüros weitergegeben. Daß uns nichts davon mitgeteilt wurde, ist ein Skandal. Wir hätten uns dann z.B. überlegen können, Helme und Brillen, die auch nur einige Genossen, die sie nicht vorher hatten nach Westberlin hatten schaffen können, dabei hatten, wegzutun.

Bei uns bestand offensichtlich Unklarheit darüber, wie es in Dreilinden aussieht, wo man sich da genau hinstellt für eine Blockade. Es war auch direkter Kontakt zu Berlinern an der Grenze organisiert, was wir gar nicht berücksichtigt haben. Als erstes im Konvoi fuhren Genossen, die nicht genau durchblickten, das geht nicht.

Die Kritik an uns Hamburgern ist, daß wir, nachdem wir den Nordkonvoi aufgegeben hatten, die Verantwortung für den Konvoi insgesamt den Organisatoren des Helmstedter Konvoi überlassen haben, ohne uns davon zu überzeugen, wie die Planung ist und ob wir noch was dazu tun können.

In Dreilinden wurden insgesamt 73 Genossen/innen nach dem ASOG festgenommen, die z.T. auch erst nach 48 Stunden, nach der Demo also, wieder freigelassen wurden. Wichtig dabei ist, daß die Bullen bei den Festnahmen nicht nach einer Störerdatei vorgegangen sind, sondern die Leute wegen passiver Bewaffnung (Helme, Brillen) mitgenommen haben.

Am Abend wollten wir uns eigentlich nochmal alle treffen, um die letzten Infos zu bekommen. Das war unmöglich. Die Stadt war schon jetzt voller Bullen, viele Häuser hatten sich entschlossen, die Nacht anderwärts zu verbringen, das Fest auf dem Winterfeldtplat, das eigentlich als Treffpunkt gedacht war, wurde punkt zehn von den Bul-len mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst. Trotzdem haben wir es geschafft, alle Hamburger Genossen mit den nötigen Infos zu versorgen.

Erlebnisbericht Dreilinden

Nachdem wir, mehr oder weniger erfolgreich, die Grenze BRD/DDR passiert hatten, trafen wir uns in der DDR an einer Raststätte wieder. Dort hörten wir, daß die Bullen uns am Grenzübergang Dreilinden schon massiv erwartet würden. Die Konfusion zwischen uns – obwohl diese Nachricht voraussehbar gewesen wäre – war groß und die Debatte um die Frage „Was ist zu tun“ entsprechend lahm und entschlusslos.

Abgesprochen wurde dann, daß 5 Autos die Grenze passieren sollten, um nachzuschauen, ob die Luft rein ist, der Rest des Konvois sollte warten und gegebenenfalls der Grenzübergang, noch vor den Bullen, blockieren. Das war der Plan. Aus ihm wurde aber nichts. Nacheinander, schön aufgereiht im Konvoi und die Bullen vor Augen fuhren wir in die Falle. Keiner hielt an, keiner tat was Auch wir in unserem Auto waren nicht mehr fähig, uns rechtzeitig zu entscheiden anzuhalten, alles ging sehr schnell, ich war hauptsächlich nur erschrocken, und die Klarheit über unsere Möglichkeiten, den Schweinen eine Grenzblockade politisch entgegenzusetzen, war nicht da. So fuhr dann einer nach dem anderen auf die Bullen zu und ließ sich von ihnen auf einen Parkplatz einwinken.

Da standen wir nun. Bei mir machte sich ein Gefühl breit das sich dann im Laufe der Zeit auch noch verstärkte, absolut nichts tun zu können, dem Schicksal ausgeliefert und machtlos zu sein. Links, vorne und hinter uns die Bullen, rechts eine steile Böschung, die Grenze etwas weiter weg und somit noch nicht einmal Öffentlichkeit. Die Bullen – dachte ich mir – konnten also innerhalb ihrer politischen Möglichkeiten mit uns machen, was sie wollten. Wo diese politische Grenze lag – nachdem wir als anreisende „legale RAF“ aufgebaut worden waren -, war mir unklar eine Einschätzung unserer Lage fast unmöglich.

So war es dann ein Warten und Beobachten der Initiative die die Bullen ergriffen. Sie hatten den Befehl, alle Wagen nach „passiver Bewaffnung“ zu durchsuchen. „Passive Bewaffnung“, das war unser Schutz: Gasbrillen, Helme Sturmhauben, technische Mittel, um unseren Widerstand durchführen zu können. Mit diesen „Waffen“ in der Hand suchten sie wohl einen realen Vorwand, möglichst viel Leute festzusetzen.

Ein Wagen nach dem anderen wurde durchsucht; in Arbeitsteilung zuerst von den Bullen und dann nochmal gründlicher vom Zoll. Uns blieb außer verbalem Protest und dem Versuch, noch einige Sachen (die Helme usw.) zu verstecken, nichts anderes, als die pigs machen zu lassen. Einige von uns standen abseits, guckten sich die Szenerie schweigend an, andere versuchten Autos zu schützen, und die Helme noch vor der Durchsuchung raus zu schaffen. An einem Wagen gelang das auch. Aber auch dies eine Niederlage, die Brillen, Helme etc. jetzt schon auf dem Straßenpflaster zu präsentieren.

Mir war inzwischen so ziemlich alles egal, bloß so schnell wie möglich hier weg, daß die andauernden Festnahme aufhören, daß wir uns wieder bewegen können. Die Bullen nahmen so viele Leute mit, wie sie nur konnten, aber daß sie mich mitnehmen würden, daran dachte ich nicht.

Um den Verhaftungen ein Ende zu setzen, wollten wir mit den Bullen verhandeln. Wir geben alles raus, was wir dabei hatten, und die pigs hören dafür auf, jeden, dem eine Brille/Helm zugeordnet wurde, festzunehmen.

Dafür wurde ein Typ bestimmt, das auszuhandeln, der wurde erstmal festgenommen, später zwar freigelassen aber ausrichten konnte er auch nichts. Die Bullen – wie sich später herausstellte , gedrillte Kerle aus Kreuzberg, versuchten ständig, uns durch provokatorische Machtdemonstrationen den letzten Funken Mut zu nehmen. Sie prügelten in die Leute rein, schrieen rum, nahmen welche fest … Schließlich kreisten sie uns vollständig ein und bildeten eine Kette zwischen uns und unseren PKWS. Von denen waren wir inzwischen weggegangen, damit sie nicht mehr feststellen konnten, wer zu welchem Wagen und den darin gefundenen Sachen gehörte bzw. damit niemand da war, der den PKW aufschließen konnte.

Wir waren also jetzt umzingelt. Das Gefühl, wenn Reagan kommt, ist das unser Tag, da drehen wir die Propaganda gegen sie, war verpufft. Und dabei die Gewißheit, eine riesengroße Dummheit begangen zu haben, für die jetzt viele zumindest einen Tag, in den Knast gehen.

Die Autos sollten ein zweites Mal kontrolliert werden. Die Bullen wußten wohl nicht so recht, wen sie schon durchsucht hatten und wen nicht. Wir weigerten uns aber. Es sollten nicht noch mehr von uns abgegriffen werden.

Die Schweine fingen nun an, sich einfach Leute rauszuholen, sie zu durchsuchen und festzustellen, zu welchem Auto sie gehörten. Wir sollten jetzt nämlich vom Grenzpunkt verschwinden. Anscheinend dauerte ihnen ihre Prozedur zu lange, sie drohten an, Wagen abzuschleppen. Irgendeiner dieser Kreuzberger Kerle schnappte mich dann, meinte, ich sollte nicht so zappeln, er wolle mir ja nichts tun (wie lächerlich!), durchsuchte mich und fand auch was.

Den Rest des Ablaufs bekam ich dann nur noch durchs Transportwagenfenster mit. Es wurden noch sehr viele festgenommen, insgesamt waren es über 70. Die restlichen wurden einzeln zu ihren Autos gelassen und durften falls bei ihnen nichts gefunden wurde – abfahren. Der Platz leerte sich allmählich.

Hauptsächlich ärgerte ich mich, am nächsten Tag nicht bei der Demo sein zu können, und überlegte mir, was die anderen wohl machen. Eine, die ich kannte, wurde dann in unseren Transporter gesteckt. Wir grinsten uns an, sagten na, und da war’s schon nicht mehr so schlimm. Am nächsten Tag, als ich dann doch unerwarteterweise auf dem Nolli stand, da war dann auch das Gefühl der Machtlosigkeit verschwunden. Wir handelten.

Erklärung der autonomen und antiimperialistischen Gruppen zur Anti NATO Demo am 11.6. in Westberlin

nato-gipfel hier in der frontstadt westberlin, sollte ihre kriegspolitik mit hilfe fähnchenschwingender berliner legitimieren.

der versuch ist gescheitert – sie mußten sich im schloßgarten verstecken, die 20.000 jubelberliner wurden von Scharfschützen „bewacht“, die fahrtroute mußte militärisch abgesichert werden, statt jubelnden massen: b… und halteverbotsschilder am mehringdamm. reagan verließ die stadt eine stunde früher als vorgesehen.

das demonstrationsverbot (mit der begründung „der legale arm der raf“ würde mobilisieren), die wochenlange vorbereitung des besuchs über „lappenkrieg“, die propaganda: es wäre sowieso nichts möglich, asog, durchsuchungen, war auch der versuch die schlappe vom haig-besuch wettzumachen.

trotz dieser massiven einschüchterungsversuche kamen tausende, um ihren widerstand gegen die nato-politik auf die straße zu bringen und setzten sich über das demonstrationsverbot hinweg. das kalkül der b… war: wir sammeln uns auf dem nollendorfplatz, und sie halten uns dort bis zur abreise von reagan und co. gefangen. verhindert werden sollte, daß überhaupt was passiert. aber auch daß wir die demo entlang der vorgesehenen route durchsetzen und damit konkret institutionen offengelegt u. evt: angegriffen hätten, die in der rüstungs- und forschungsindustrie drinstecken.

der verlauf des tages war der praktische ausdruck der politischen diskussionen, die bis dahin liefen: einerseits die entschlossenheit die demo konsequent durchzusetzen, was die befreiung aus dem kessel erst ermöglichte, andererseits unklarheit darüber, was wir über die störung der propagandashow hinaus erreichen wollten (bestimmung von konkreten angriffszielen). das bewußtsein, gezielt us /nato/brd-institutionen, von denen der krieg ausgeht /geplant wird, angreifen zu wollen, hätte uns vielleicht davon abgehalten, auf den nolli in die falle zu gehen…

unser ziel auf die route zu kommen konnten sie dadurch vereiteln. mit der befreiung aus dem internierungslager nollendorfplatz und der anschließenden Schlacht in Schöneberg, holten wir uns die initiative an diesem tag zurück und störten so massiv die propagandashow. die straßenschlacht lief allerdings da ab (kiez Schöneberg), wo wir sie eigentlich nicht wollten. (vielleicht gibts ja stilmöbel in den kommandoständen, dann stimmt doch wieder alles, oder? d.S.)

die angriffe, die jetzt gegen uns gestartet werden -hausdurchsuchungen, gezielte faschoüberfälle, vorbereitungen zur räumung bestimmter häuser – sind die reaktion und die rache nach der demo, womit sie uns treffen und zurückschlagen wollen. der anschlag auf die al – gleichzeitig mit der forderung der cdu, die alliierten sollten sie verbieten – zielt auf die tatsache, daß die al sich (auf druck von teilen ihrer basis) mit dem aufruf zur verbotenen demo am 11.6 für die herrschenden zu weit vorgewagt hat. die rechnung geht vor allem dann auf, wenn bestimmte al-funktionäre sich jetzt hinstellen können und sich von der demo distanzieren, bzw bedauern, unseren widerstand nicht verhindert zu haben. dabei ist klar, daß die b.. natürlich selber genau wissen, daß die al am zustandekommen der demo nicht gerade den größten anteil hatte, dh, daß sie lediglich ein teil davon war. viel wichtiger für den 11 war die bundesweite vorbereitung und die erfahrungen, die wir dabei gemacht haben.

zur gleichen zeit, als reagan, schmidt usw im schloßpark quatschten, lief gegen uns der krieg mit natodraht /tränengas /einkreisung /vielen Festnahmen am nolli ab. währenddessen lief der völkermord gegen die palästinenser auf hochtouren. wir haben dagegen die parole ‚krieg dem krieg‘ ansatzweise praktisch gemacht. die bekämpfung unseres widerstands läuft weiter, ebenso der krieg gegen unsere palästinensischen genossinnen. die situation am 11.6. war ausdruck des kriegs der täglich stattfindet.

bei der diskussion über den stellenwert unseres vorgehens am 11.6. darf nicht rausfallen, daß diese demo sich einreiht in die nationale und internationale mobilisierung gegen den nato-gipfel (und das kriegsprojekt der nato: die lösung der ökonomischen und politischen krise durch imperialistischen krieg nach innen und außen). die angriffe auf amerikanische und militärische einrichtungen, sowie die anti-nato-wochen und demonstrationen in anderen städten, die demos und aktionen in italien, griechenland, spanien, frankreich usw. das alles zusammen war eine bisher selten erreichte mobilisierung und stärke in westeuropa.

jetzt geht es darum, daß wir uns die politische initiative nicht wieder aus der hand nehmen lassen – indem wir das was wir am 11.6. gemacht haben weiterentwickeln, dh die diskussionen um unsere inhalte und politischen ziele – die zusammenhänge zwischen uns, den gefangenen und denen, die hier wirklich um befreiung kämpfen, und dem befreiungskampf aller völker, jetzt besonders dem palästinensischen volk – die vor der demo angefangen hatten, aber dann zu kurz kamen, weiterführen, und in eine gezielte praxis umsetzen.

solange wirs nicht packen, da politisch weiterzudenken und zu handeln, fehlt uns die langfristige power, die antriebskraft, die wir brauchen, um die schweinekonzepte nicht nur zu stören, sondern zu zerstören, den staat und das system zu stürzen. die kurzfristige power von einem tag verpufft wenn wirs jetzt nicht real angehen, uns so zu organisieren, daß wir angreifen können, fähig werden längerfristig zu denken, d.h. unser handeln so zu bestimmen, damit sich daraus eine perspektive ergibt

autonome und antiimperialistische gruppen

 

Anmerkungen:

  1. “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz”, erschienen 2017 bei Bahoe Books Wien https://www.bahoebooks.net/start_de.php?action=201&id=60
  2. Der Konvoi, Erfahrungsbericht, erschienen in der nach dem 11.6. veröffentlichen „Broschüre Autonomer und antiimperialistischer Gruppen zur Anti NATO Demo am 11.6. in Westberlin“, online bei dem Begleitarchiv zum Buch “Autonome in Bewegung”  https://autox.nadir.org/index.html
  3. „Erklärung  der autonomen und antiimperialistischen Gruppen zur Reagan-Demo”, ebenfalls zu finden in der „Broschüre Autonomer und antiimperialistischer Gruppen zur Anti NATO Demo am 11.6. in Westberlin”, online bei dem Begleitarchiv zum Buch “Autonome in Bewegung” (link siehe oben)