Kriegstagebuch aus der Ukraine [Part 3]: Unter Beschuss

Riot Turtle

Im Mai publizierten wir Teil 1 von Riot Turtles Kriegstagebuchs zur Ukraine. Im Juni folgte Teil 2. Im Juli und August war Riot Turtle ebenfalls in der Ukraine. Anfang Oktober reiste er zum fünften Mal in die Ukraine, seit die aktuelle 3. Phase der Invasion durch die russische Armee am 24. Februar begann. Diesmal reiste er an die Front in der Region Charkiw. Im Folgenden dokumentieren wir Teil 3 von Riot Turtles Kriegstagebuchs zur Ukraine. Sunzi Bingfa

Am 2. Oktober machte ich mich erneut auf den Weg in die Ukraine mit Gefährt*innen der Cars of Hope und Enough 14 Kollektiven. Ich freute mich darauf, einige meiner Freund*innen in Kyiv wiederzusehen, und um ehrlich zu sein, habe ich den Schwachsinn auch satt, den einige der sogenannten „Linken“ hierzulande über einen Krieg in einem Land erzählen, in dem die meisten von ihnen nie waren. Und die Ignoranz, mit der sie denken, sie wüssten alles über die Situation in der Ukraine (und anderen Teilen Osteuropas), ohne auch nur ein Wort mit Genoss*innen zu wechseln, die tatsächlich dort leben. Ja, die gibt es. Reichlich. Die meisten dieser so genannten „Linken“, insbesondere die „Tankies“ [1] unter ihnen, scheinen nicht viel über die völkische Ideologie zu wissen, die eine der Säulen der derzeitigen herrschenden Klasse in Russland ist. Liebe Grüße von Alexander Geljewitsch Dugin.

Ein innerimperialistischen Krieg… Aber die NATO… Ja die NATO ist scheiße, darüber sind wir uns einig, aber der russische Staat ist sehr gut in der Lage seine eigenen imperialistische Politik durchzuziehen, seine eigene völkische Agenda voranzutreiben. Dafür brauchen sie uns nicht und auch die NATO auch nicht. „Der Westen“ ist schon lange nicht mehr Herr der Dinge auf diesem Planeten. Xi Jinping und Putin lassen grüßen. Aber AZOV…, ja AZOV ist auch scheiße. Auch wenn die Faschos, im Gegensatz zur DUMA und zu fast jedem Parlament in den EU-Mitgliedstaaten, bei den letzten Parlamentswahlen in der Ukraine nicht ins Parlament gewählt wurden, sind organisierte Faschisten ein Problem in der Ukraine. Wie hierzulande auch. Da gab es doch was in der Bundeswehr und der Bullerei. Oder nicht? Wie auch immer, nicht zuletzt sind organisierte Faschos in der Ukraine ein Problem was unsere Gefährt*innen dort direkt betrifft. Es gibt seit Jahren immer wieder Auseinandersetzungen zwischen unsere ukrainische Gefährt*innen und Faschisten. Und damit meine ich keine Auseinandersetzungen, wo Faschisten „weggebasst“ werden sollen, sondern handfeste körperliche Auseinandersetzungen.

Es gibt gerade im Westen viele Anarchist*innen und vor allem Linke die die Genoss*innen in der Ukraine nicht unterstützen möchten. Oft aus ideologischen Gründen. Das ist meiner Meinung nach nicht nur politisch katastrophal, es zeigt auch ein Verständnis von Solidarität, die niemand braucht. Natürlich ist eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Krieg richtig und wichtig. Ich bevorzuge es mittlerweile aber solche Gespräche mit Leuten vor Ort zu führen, denn sie stehen unter einem enormen Druck und zwar vor allen Seiten und viele der Schwierigkeiten werden auch dort konkret benannt. Die Schlussfolgerung ist aber oft ein andere. Logisch, denn auf der Couch, weit weg vom Geschehen muss niemand befürchten unter einer repressiven autokratischen Besatzungsmacht leben zu müssen. Die ganzen fleißig kritisierenden Leuten außerhalb der Ukraine erahnen meistens gar nicht unter was für einen Druck Genoss*innen in der Ukraine arbeiten. Dazu kommt dass es in vielen Texten und Diskussionen von falschen Annahmen wimmelt und schlichtweg eine unzutreffende Analyse der Situation vorzufinden ist, denn der kalte Krieg ist vorbei und dieser Krieg braucht sowohl was den völkische Nationalismus in Russland betrifft, als auch der Rolle des Westens, eine völlig neue Analyse. Auch wenn viele westliche Staaten den ukrainische Staat mit Waffenlieferungen unterstützen, bleibt bei vielen der oft grottenschlechten Analysen völlig ausgeklammert dass die gleichen Staaten Monat für Monat ein vielfaches an Milliarden für die russische Kriegsmaschinerie an den russischen Staat überweisen. Seien es die Vereinigten Staaten für Uran(Importe von russischen Brennstäben für ihre AKWs, diese sind von Sanktionen ausgenommen), oder viele andere westliche Staaten für russisches Öl und Gas. Die Sanktionen gegen z.B. russisches Öl umfassen vor allem eins: Ausnahmen. Und wenn Deutschland im Moment weniger Geld an der russischen Staat überweist als noch vor einigen Monaten, dann weil Gazprom & Co kaum noch Gas liefern. Die NATO hat sich mehrheitlich mehrmals geweigert, den ukrainischen Staat als Mitglied aufzunehmen. Auch das hat Gründe. Es gibt in der Haltung und der Politik vieler westlicher Staaten viele Widersprüche was den russischen Staat betrifft. Die Situation spitzt sich immer mehr zu und natürlich verfolgen auch die westlichen Staaten eigene Ziele. So wie sie das immer tun. Aber uns kann es nicht darum gehen, wie es in vielen der Texte aus westlichen Ländern passiert, die über diesen Krieg verbreitet werden, das ganze auf einen „interimperialistischen“ Krieg zu reduzieren und Menschen die in Gebieten leben, die angegriffen werden einfach außen vor zu lassen. Das tut man wenn man diesen Menschen nicht zuhört und in solchen Texte oft noch nicht mal erwähnt. Als ob die Ukraine nicht existiert. Oder Georgien, oder Tschetschenien. All das zeigt dass es ein völlig neue Analyse braucht und es wäre angebracht dies nicht mit einer westliche Sicht auf die Dinge zu machen, sondern stattdessen eine gemeinsame Analyse mit Genoss*innen aus Osteuropa zu entwickeln. Das würde ich auf jeden Fall begrüßen.

Ich nehme an, Ihr habt inzwischen gemerkt, dass ich das Niveau des Diskurses von einigen Strömungen in diesem Land mittlerweile zum Kotzen finde. Dieses Tagebuch sollte kein Rant werden, dennoch möchte ich meinen Frust darüber nicht unerwähnt lassen.

Ich habe das Gefühl, dass ich seit Monaten in zwei verschiedenen Welten lebe, und abgesehen vom Krieg fühle ich mich in der Ukraine oft wohler als hier. Vor allem wenn ich mit Genoss*innen unterwegs bin, die dort leben. Unsere Genoss*innen in der Ukraine befinden sich in einer schwierigen Situation. Alleingelassen von vielen „Genoss*innen“ im sogenannten Westen, kämpfen sie gegen einen faschistischen russischen Staat und wissen, dass sie dem ukrainischen Staat nicht trauen können, der jederzeit eine Repressionswelle gegen sie starten könnte. Einige sagen ganz offen, dass sie davon ausgehen, dass dies spätestens nach Kriegsende passieren wird. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Faschos gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen. Aber sie geben alles, obwohl sie wissen, dass sie nicht viele Möglichkeiten haben, denn wenn sie sich nicht einbringen, werden die Faschos in der Ukraine auf jeden Fall die lachenden Dritten sein.

Ihr Trumpf ist das hohe Maß an Selbst-Organisierung in der ukrainischen Gesellschaft. Viele Menschen wissen, dass sie sich nicht auf den Staat verlassen können und unterstützen sich deswegen gegenseitig. Gegenseitige Hilfe findet überall in der Ukraine statt, weit über die Bubbles der üblichen Verdächtigen hinaus. Genau da liegen Chancen und die werden genutzt. Viele Gefährt*innen wissen sie, dass sie diese Lücke auch (aber nicht nur!) füllen müssen, damit das Feld nicht den Faschos überlassen wird. Andere Genoss*innen agieren gegen neue neoliberale Reformen in der Ukraine, die die eh schon spärlichen Arbeitnehmer*innenrechten de facto komplett abschaffen. Trotzdem ist das für sie kein Grund, nicht gegen die russische Invasion zu kämpfen. Natürlich nicht. Wer möchte schon in einer homophobe Autokratie mit starken faschistischen Elementen leben. Also ich nicht. Das sollte auf so manchen bequemen Couches in der BRD und anderen westlichen Staaten mitgedacht werden. Viele Queers, die in den vergangenen Jahren aus Russland und Belarus in die Ukraine geflüchtet sind, kämpfen jetzt gegen die russische Invasion (Aus Gründen!). Unter äußerst schwierigen Bedingungen, aber auch sie haben nicht wirklich eine Wahl. Natürlich wäre es besser, die russische Armee mit anarchistischen Truppen zu bekämpfen, aber wer kommt in die Ukraine, um solche Kampftruppen zu bilden? Wer wird sie mit den nötigen Waffen versorgen? Die antimilitaristischen Positionen von Anarchist*innen haben nach wie vor ihre Berechtigung und sind nach wie vor richtig, dennoch kann ich nachvollziehen, dass es in Osteuropa (nicht nur in der Ukraine, aber auch in z.B. Belarus und Russland) Genoss*innen gibt, die durch den praktischen Mangel an eigenen Alternativen in der territoriale Verteidigung gegen die russische Armee kämpfen. Die Vorstellung, unter Besatzung einer Autokratie leben zu müssen, ist vor allem bei Geflüchteten aus Belarus und Russland, die in der Ukraine kämpfen, ein Horrorgedanke. Aus diesem Grund haben sie auf ihrer Prioritätenliste das Zurückschlagen der russischen Armee ganz oben stehen. Dass der ukrainische Staat nicht ihr Freund ist, ist diesen Menschen völlig bewusst. Oder wie meine Oma früher oft über den Widerstand während der Nazibesatzung in den Niederlanden sagte: „Wir koordinierten unsere Aktionen oft auch mit Konservativen, die später die Christen-Demokraten wurden, wir wussten, dass dies keine Freunde waren. Uns war auch bewusst, dass genau diese Leute nach dem Krieg gegen uns vorgehen würden und dass wir den Kürzeren ziehen würden. Der Kampf gegen die Nazis hatte für uns aber Priorität und ohne Koordination mit diesen Gruppen wäre der Widerstand geschwächt worden. “Wir hatten nicht wirklich eine Wahl.“ Nun, das war natürlich ein ganz anderer Krieg in einer ganz anderen Zeit, das macht aber nicht weg, dass es für mich legitim ist, den Kampf gegen einen Angriffskrieg von Autokraten erst mal als oberste Priorität in Angriff zu nehmen.

Für mich war es nie eine Frage, ob ich Leute unterstützen werde, die gegen eine imperiale Invasion durch einen Staat kämpfen, der so ziemlich alle faschistischen Parteien in Westeuropa unterstützt. „Wehret den Anfänge“ gilt für mich immer noch. Und ja, dabei müssen wir uns die Hände schmutzig machen. Wenn wir das nicht tun, dann können wir auch gleich damit aufhören, gegen Orban, Le Pen, AfD und andere Faschisten in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (und darüber hinaus) zu kämpfen. Nicht, dass ich von dem „Wegbassen“ von Faschisten in Berlin und anderen Städten hierzulande beeindruckt bin. Diese Art von Event-Aktionen wird meiner Meinung nach der Situation nicht gerecht und wird den Kampf gegen den Faschismus keinen Schritt weiterbringen. Auch in der Ukraine ist vielen Menschen bewusst, dass selbst wenn es gelingt, die russische Armee aus der Ukraine zu drängen, das Ganze nicht vorbei ist. Letztendlich muss es ja darum gehen, die bestehende Verhältnisse zu ändern. Überall.

Faschismus zu bekämpfen, ohne die herrschenden Verhältnisse zu bekämpfen, ist wie Wischen mit laufendem Wasserhahn: Sinnfrei. Das heißt für mich aber nicht, dass in einer Kriegssituation Menschen sich nicht temporär entscheiden dürfen, sich erst mal gegen die angreifende Armee zu wehren. Auch wenn dies nicht ungefährlich ist für die Entwicklung der eigenen Bewegung. Ich sehe das hier bei uns sogar kritischer. All diese antifaschistischen Bündnisse bei uns, wo auch die SPD mitmacht. Eine der Parteien, die mitverantwortlich für tausende von Toten im Mittelmeer und eine rassistische Abschiebepolitik ist. Zum Kotzen und meines Erachtens kontraproduktiv. Aber es gibt sie auch hierzulande noch: Menschen, die den Kampf gegen den Faschismus und die bestehenden Verhältnisse ernst nehmen. Um die Verhältnisse hier zu ändern, empfehle ich Post Covid Riot Prime Manifest von „Doc“ Mccoy zu lesen. Da findet man interessante Gedanken und Ansätze. Weit weg vom „Event-Aktivismus“. Letzten Monat wurde Teil 1 der dritten Serie von Post Covid Riot Prime Manifest veröffentlicht. Aber ich schweife ab. Vielleicht aber auch nicht, denn all diese Kämpfe sind miteinander verbunden, auch wenn es oft nicht direkt ersichtlich ist.

2. Oktober, 2022

Ursprünglich wollten wir schon im September fahren, aber wir hatten technische Probleme mit zwei unserer Autos, so dass wir beschlossen, uns zuerst darum zu kümmern und die Fahrt in den Oktober zu verschieben. Aber wir waren jetzt endlich wieder unterwegs zur Ukraine. Wir wussten alle, dass dieser Einsatz anders sein würde als die vorherigen: Wir werden mit Gefährt*innen aus Kyiv an die Front in der Region Charkiw reisen. Wir hatten das zusammen mit Gefährt*innen aus Kyiv schon länger geplant.

Im Juli haben wir an einem Tac-Med [2] Training in Kyiv teilgenommen und lernten u.a. wie wir Schussverletzungen behandeln müssen, was zu tun ist bei Phosphor auf der Haut, wie Tourniquets angelegt werden usw. Das was wir dort gelernt haben reicht nur als temporäre erste Hilfe, aber bis der Notarzt kommt, kann dies entscheidend sein. Wir haben natürlich auch viel gesprochen in Bezug auf die Gefahren die jede(r) einzelne von uns an der Front nun mal ausgesetzt ist und wo unsere Grenze liegt. Über die Motivation und Ziele die wir selbst und als Gruppe haben. Wir entschieden uns auch gegen Konsensentscheidungen was diese Gefahren angehen. Jede(r) hat das Recht sofort auszusteigen wenn es für sie oder ihm zu viel oder zu krass wird. Der Rest der Gruppe würde dann schauen wie bestimmte Aufgaben neu aufgeteilt werden können. Wir sprachen aber auch über Themen wie was fotografiert werden kann und was nicht. Über Lebensnotwendige Sachen wie das nicht verlassen der Straße nah an der Front, denn viele Gebiete sind vermint in erst vor kurzem von der ukrainische Armee zurückeroberte Gebiete aber noch nicht gekennzeichnet. Mögliche Sprengfallen waren auch Thema. Nichts anfassen, nicht in halb Zerbombten Gebäuden gehen die nicht freigegeben sind usw.

Als wir an Magdeburg vorbei fuhren, fragte ich mich, ob wir in der Vorbereitung etwas übersehen oder vergessen hatten. Mir wurde aber schnell klar, dass wir bestimmt etwas übersehen hatten. Krieg ist nicht nur grausam, sondern auch ein dynamisches Geschehen. Frontlinien ändern sich immer mal wieder und Waffen, die gestern noch nicht eingesetzt wurden, werden heute auf einmal gegen den Stadtteil eingesetzt, wo du dich gerade aufhältst. Mal davon abgesehen, dass uns allen bewusst war, dass du gegen Raketenangriffen und Mörserbeschuss wenig machen kannst. Wir fahren ja nicht auf ein Aktions-Event, sondern in ein Kriegsgebiet. Bald würden wir von der A2 auf die A10 wechseln. Berlin war nicht mehr weit, aber wir würden kurz vor Berlin Richtung polnische Grenze fahren. Aber soweit waren wir noch nicht. Ich merkte, dass ich nicht nervös war, aber eine gesunde Anspannung hatte. Eine Anspannung, die ich brauche, um mich 100% konzentrieren zu können. Unter Anspannung komme ich immer zur Höchstform. Meine Ängste habe ich unter solchen Bedingungen auch immer gut im Griff, ich kann sie dann gut kontrollieren. Das war während des Kosovo-Krieges schon so, als ich Teil einer Gruppe war, die Menschen aus dem ehemaligen Kriegsgebiet evakuiert haben. Bei früheren, mittlerweile verjährten, klandestinen Aktivitäten hatte ich auf dem Gebiet viel gelernt. Ich ließ alles noch mal durch meinen Kopf gehen, während wir auf der Autobahn an Städtchen und Dörfern vorbei rasten, wovon ich die Namen noch nie auf Verkehrsschilder gelesen hatte, obwohl ich die Strecke Richtung Berlin schon oft gefahren bin. Schön dachte ich, 100% konzentriert und sehr Aufmerksam, auch was die Umgebung betrifft, ist was ich jetzt brauche. Alles wird gut. Zeit, um noch mal ein paar Seiten im Post Covid Riot Prime Manifest, der allererste Serie aus der Reihe, zu lesen. Ohne es zu wissen, fährt Doc McCoy mit.

Ursprünglich hatten wir geplant, schon im August an die Front zu gehen, aber wegen unerwarteter Ereignisse in Charkiw haben wir es damals nicht geschafft. Es machte zu diesem Zeitpunkt einfach keinen Sinn, da für Charkiw eine 24-stündige Ausgangssperre herrschte, weil der ukrainische Staat im August einen Großangriff der russischen Armee erwartete. Während einer Ausgangssperre erhält man keinen Passierschein, um die Militärkontrollpunkte zu passieren, und während einer Ausgangssperre kann man auch keine Hilfsgüter verteilen, weil schlichtweg fast niemand auf der Straße ist. Wir mussten ein paar Tage später wieder zurück nach Deutschland fahren, so dass die Zeit nicht reichte, um nach dem Ende der Ausgangssperre nach Charkiw zu fahren. Unsere Freund*innen aus Kyiv verteilten einige Tage später die Hilfsgüter, die wir mitgebracht hatten und wir vereinbarten, bei unserem nächsten Besuch in der Ukraine gemeinsam nach Charkiw zu fahren.

Wir passierten die deutsch-polnische Grenze und machten kurz darauf einen Fahrerwechsel. Ich sitze jetzt am Lenker und fahre durch die Nacht. Ich komme gut voran, denn nachts ist die polnische Autobahn ziemlich leer. Vorbei an Warschau und dann direkt zur polnisch-ukrainischen Grenze.

3. Oktober, 2022

Wir fingen an zu raten, wie lange es dieses Mal dauern würde, die Grenze zu passieren. Aber wir hatten Glück, es ging alles ziemlich schnell. Wir machen wieder einen Fahrerwechsel und nachdem ich die ganze Nacht am Lenkrad verbracht hatte, bin ich sofort auf der Rückbank eingeschlafen. Ich bin froh, dass ich überall schlafen kann, aber vielleicht ist das auch nur so, weil ich in solchen Situationen immer bis an meine Grenzen gehe, weiterfahren bis kurz vor dem Sekundenschlaf…

Nach etwa 27 Stunden erreichten wir Kyiv. Ich war froh zu sehen, dass unsere Freund*innen alle wohlauf sind. In den letzten 6 Monaten haben sich einige Freundschaften entwickelt und wir wurden dann auch herzlich empfangen. Sie hatten ein köstliches Abendessen für uns zubereitet, danach noch einen Kaffee und dann begannen wir, die 2 Bullis zu packen. Wir hatten eine Menge medizinisches Zeug mitgebracht, Verbandszeug, Tourniquets, zwei gefüllte tac-med-Rucksäcke, ein Set mit einer Menge Material zur Behandlung von Brandverletzungen, Medikamente, Wasseraufbereitungstabletten und andere Sachen. Unsere Freund*innen von der autonomen Initiative „Help War Victims – Ukraine“ (HWV) hatten bereits eine Menge anderer Dinge wie u.a. Lebensmittel, Hygieneartikel, Streichhölzer und Kerzen in ihrem Lager, teilweise als Spende erhalten, teilweise selbst gesammelt oder gekauft. Sie hatten auch einen Holzofen für Menschen organisiert, die in einem halb zerbombten Hochhaus ohne Strom und Heizung in Charkiw lebten. Nach ein paar Stunden des Sortierens und Packens beschlossen wir, schlafen zu gehen. Müde von der langen Reise.

4. Oktober, 2022

Wir sind früh aufgestanden und nachdem wir in der Stadt gefrühstückt hatten, fuhren wir wieder zum HWV-Lagerhaus. Wir tranken noch einen Kaffee mit unseren HMV-Gefährt*innen und packten danach den Rest der Hilfsgüter in die Lieferwagen. Wir sprachen mit den Gefährt*innen aus Kyiv noch ein paar Sachen durch und fuhren dann los nach Charkiw. Wir hatten viel Zeit uns unterwegs zu unterhalten, die Metropole im Osten der Ukraine ist knapp 500 Kilometer von Kyiv entfernt. Seit Anfang des Krieges wird Charkiw fast täglich mit Raketen angegriffen, seit einigen Monaten werden aber immer wieder einige der Raketen von der Luftabwehr abgefangen, bevor sie ihre zerstörende Wirkung entfalten können.

Nach 7 Stunden kommen wir in Charkiw an. Die Stadt ist komplett verdunkelt und wirkt dadurch gespenstisch. So soll es der russischen Armee erschwert werden, während der Nacht Angriffsziele in der Stadt auszumachen. Ich denke an meine Oma, die mir oft über die Verdunkelung in Holland während des Zweiten Weltkriegs erzählt hat. Ich schaue durch dem Fenster nach oben und sehe das durch die Verdunkelung in der 1.5 Millionen Einwohner*innenstadt viele Sternen zu sehen sind. Nature is healing, denke ich, auch in Kriegszeiten.

Wir werden bei Freund*innen der Gefährt*innen aus Kyiv untergebracht. Sie wohnen am Rand der Stadt, weit weg vom Gewusel. Wir werden alle mit einer großartigen Mahlzeit herzlich empfangen. Das pittoreske Häuschen wird in eine Kommandozentrale für eine Hilfsoperation verwandelt. Inklusive zu Schlafräumen umgewandelten Wohn- und andere Zimmer. Die Bewohner*innen, neben 2 Menschen, leben dort auch ein Hund und 2 Katzen, sind alle (!) wunderbare Gastgeber*innen. Wir trinken nach dem Essen noch ein Bier, während wir kurz die Pläne für den morgigen Tag besprechen. Danach legen wir uns hin, die kommenden Tage werden anstrengend, es ist wichtig, noch mal gut zu schlafen.

5. Oktober, 2022

Nach dem Frühstück haben wir uns direkt auf den Weg gemacht. Heute werden wir nach Kucherivka (Кучерівка) fahren. Das kleine Dorf liegt relativ nah an der Front und es befinden sich dort hauptsächlich ältere Menschen. Aber zuerst besorgen wir uns einen Passierschein, ohne den Schein kommt man nicht weit in der Nähe der Frontlinie. Überraschenderweise bekamen wir den Passierschein relativ leicht. Es werden viele Sachen gebraucht und viele NGOs fahren nicht bis in die Nähe der Frontlinie. Wir ziehen Schutzwesten an. Ob sie uns schützen werden, wissen wir nicht. Bei einem Volltreffer eher nicht, aber gegen Gewehrfeuer und kleinere Granatsplitter schon.

Wir fahren durch Charkiw Oblast immer weiter Richtung Osten, die russische Grenze ist jetzt nicht weit mehr. Wir sind jetzt in einem Gebiet, das vor einigen Wochen noch durch die russische Armee besetzt wurde. Hier werden wir die Straße nicht verlassen, denn das Gelände drumherum ist oftmals vermint, aber noch nicht gekennzeichnet. Immer wieder passieren wir Objekte, woran zu sehen ist, dass dieses Gebiet bis vor kurzem besetzt war.

Je tiefer wir in dieses Gebiet rein fahren, desto heftiger werden die Kriegsschäden werden. Das Gedonner von Artillerie ist immer wieder zu hören, aber noch ist es weiter weg. Ich schätze etwa 20 Kilometer. An den Kontrollpunkte merken wir das die Soldat*innen zwar freundlich, aber auch zunehmend nervös wirken. Auf der Straße begegnen wir fast nur noch Militärgerät, Krankenwagen und Feuerwehr. Abgesehen von Soldat*innen und Rettungskräfte sind hier kaum Menschen auf der Straße. Wir fahren durch ein Dorf, das dem Erdboden gleichgemacht wurde. Im Auto wird geschwiegen.

Wir sehen auch immer wieder verlassene Kontrollposten der russischen Armee, aber auch verlassene russische Kampfpanzer, manchmal zerstört, manchmal auch nur verlassen. An der Krach von Artillerie-Einschläge kann ich hören, dass wir noch näher an die Front kommen. Schließlich kommen wir in Kucherivka an. Das letzte Dorf vor diesem Abschnitt der Frontlinie. Es ist ein kleines Dorf mit ein paar hundert Einwohner*innen, viele haben das Dorf vor Monate verlassen. Anfangs sehen wir keine Menschen auf der Straße, wir Hupen ein paar mal. Nach einigen Minuten kommen ein paar Menschen aus den malerischen kleinen Häuschen. Meistens ältere Menschen, aber nicht nur. Nach und nach kommen mehr Menschen zu unseren Wagen. Wir erfahren dass der zweite Bulli an ein anderen Punkt im Dorf schon angefangen hat Hygiene-Artikel und Lebensmittel zu verteilen. Die Tac-Med fragt nach ob es Menschen gibt die Medikamente brauchen und wie es diese Menschen geht. Auch wir fangen mit unsere Verteilungsaktion an. Viele Dorfbewohner*innen fragen die Genoss*innen aus Kyiv wer wir sind. Die Menschen reagieren begeistert, als sie hören, dass wir aus Westeuropa kommen. Sie fühlen sich von alles und allem verlassen und es tut ihnen gut zu hören, dass es Menschen gibt, die sich die Mühe machen, sie zu besuchen. Hier, am Ende der Welt, gibt es viel Redebedarf. Währenddessen hören wir auch hier immer wieder Einschläge von Artillerie an der Front. Ich schätze, dass es ungefähr 10 bis 15 Kilometer von uns entfernt ist. Im Moment also keine Gefahr für uns und die Dorfbewohner*innen. Wir sind längst fertig mit dem Verteilen von Hilfsgüter, aber die Gespräche halten an. Eine ältere Dame läuft mit ihr Lebensmittel-Paket zurück zu ihrem Häuschen. Ich filme ihr dabei von hinten, breche sie aber nach ein paar Sekunden wieder ab. Diese Frau hat mich irgendwie berührt.

Wir fahren zurück nach Charkiw. Wir haben keinen Zeitdruck, was nach den vielen Eindrücken ganz gut ist. Der Passierschein befreit uns auch von der Ausgangssperre. Als wir in unserer „Basis“ in Charkiw ankommen, können wir sofort was essen. Unsere Gastgeber*innen haben erneut eine wunderbare Mahlzeit gezaubert.

Vernünftig wäre was zu essen und früh ins Bett zu gehen, aber das macht niemand. Auch die Genoss*innen aus Kyiv nicht. Es ist zwar wichtig, die eigene Batterie aufzuladen, aber man muss auch schlafen können, nachdem man tagsüber das Grauen des Krieges, die enorme Zerstörung und wie viele Menschen, die nah an der Front leben leiden, hautnah miterlebt hat. Statt früh schlafen zu gehen, wird also einiges an Alkohol konsumiert. Nicht übertrieben viel, aber ein paar Gläser werden es schon. Währenddessen reden wir viel miteinander über das Erlebte und die Planungen für Morgen. Auch wir hatten jetzt viel Redebedarf. Ich lege mich hin und denke an die ältere Frau in Kucherivka. Ich hoffe, es geht ihr gut und sie überlebt den ganzen Scheiß.

6. Oktober, 2022

Ich stehe morgens früh auf und sehe, dass ich besser geschlafen haben muss als ich dachte. Ich stelle fest, dass ich von dem Hörspiel, was ich zum Einschlafen angemacht hatte, bis auf die ersten paar Zeilen nichts gehört hatte. Ich muss also nach dem Gedanken an die ältere Dame direkt eingeschlafen sein. Das ist gut, denn auch heute wird ein harter Tag. Da bin ich mir sicher. Nach und nach stehen alle auf. Wir frühstücken was, gehen kurz die für heute benötigten Hilfsgüter durch und machen uns auf den Weg. Durch den Passierschein kommen wir nicht nur gut, sondern auch schnell durch die vielen Kontrollen. Heute fahren wir nach Kupiansk(Купянск). Auch dieser Ort war vor einigen Wochen noch von der russischen Armee besetzt. Kupiansk ist etwa 5 bis 6 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Dass in der Nähe von diesem Ort voller Zerstörungen an diesem Tag hart gekämpft werden wurde, wussten wir noch nicht, als wir losgefahren waren. Auch heute sind die Straßen schlecht, große Schlaglöcher und immense Schäden durch Kampfpanzer. Hier und da Schäden durch Einschläge auf der Straße. Das erste, was wir in Kupiansk zu sehen bekommen, sind verwüstete Straßenzüge. Am Straßenrand stehen zwei verlassene PKWs. Durchlöchert. Bei einem der Autos liegt ein Teddybär auf dem Boden. Ein stiller Zeuge von was sich hier abgespielt hat. Im Hintergrund hören wir immer wieder Artillerie-Feuer, aber es ist weit weg.

In dieser Provinzstadt sind noch Menschen auf der Straße, aber es sind nicht viele. Wir laufen kurz durch das Zentrum der Stadt, überall sind Kampfspuren zu sehen. Überall Kugellöcher und bombardierte Gebäude. Wir sprechen ein paar Menschen an und starten unsere Verteilungsaktion. Auch hier ist die Versorgung abgebrochen. Auch hier fahren kaum NGOs hin. Zu nah an der Front. Wir verteilen Lebensmitteln, Hygiene-Artikel, Lebensmittel, aber auch Kerzen, Streichhölzer und Taschenlampen, denn Strom gibt es hier schon lange nicht mehr. Unser Tac-Med verteilt Medikamente. Die Einschläge kommen immer näher. Bäng! Bäng! Bäng! Der Stadtteil, wo wir uns befinden, wird mit Mörsergranaten beschossen. Mein Puls geht hoch, dennoch bleibe ich ruhig. Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, in gefährlichen Situationen auf eine Art Roboter-Modus umzuschalten und ziehe in diesen Zustand das durch wovon ich denke, dass es in der Situation wichtig, notwendig und angemessen ist. Ängste kann man kontrollieren. Ich stellte fest wie gut unser Kollektiv und die Genoss*innen auch in dieser Situation harmonierten und wie gut und effektiv wir zusammenarbeiten. Während alle Umwohnenden die Straße schnell verlassen, bleibt eine Frau beim Bulli stehen. Sie hat Tränen in ihren Augen und wirkt total verzweifelt. Sie braucht ein Medikament für ihr Herz. Sie hat Angst, dass wir sofort abziehen werden, aber die Tac-Med von unserer Bande sucht seelenruhig weiter nach dem richtigen Medikament. Beim Suchen spricht sie mit einer beruhigenden Stimme weiter mit der Frau. Das benötigte Medikament haben wir dabei und übergeben es der Frau. Wir sind mit einem guten Team unterwegs, denn obwohl die ganze Gruppe sich erschrocken hat, reagieren alle über die ganze Zeit ruhig und besonnen. Nachdem die Frau ihre Medikamente bekommen hat, ein kurzes Nicken Richtung Autotür und alle steigen sofort, aber in Ruhe ein.

Wir fahren zu einem anderen Stadtteil und setzen unsere Verteilungsaktion fort. Jetzt checken 3 Leute permanent die Umgebung. Alle sind nach wie vor ruhig, aber jederzeit vorbereitet für den Fall, dass wir abziehen müssen. Ich kam erst jetzt auf die Idee, meine Schutzweste anzuziehen. Auch du bist manchmal echt ein dummer Ignorant, denke ich und muss kurz schmunzeln.

Der Stadtteil, den wir kurz zuvor verlassen hatten wird immer noch beschossen, wir hören die Einschläge und sehen einige Rauchschwaden. Die großartige Genoss*in aus Kyiv, die eine komplette Tac-Med Ausbildung absolviert hat, wir haben nur den Schnellkurs gemacht, kümmert sich erneut um eine ältere Frau, die völlig aufgelöst ist. Die Frau heult. Sie ist fix und fertig. Unsere Tac-Med nahm ihre Hand und sprach ihr beruhigend zu. Es gelang ihr, die alte Dame zu beruhigen. Auch diese Frau bekam Hygiene-Artikel und Lebensmittelpakete und ein Medikament gegen Bluthochdruck. Währenddessen setzten wir die Verteilungsaktion an andere Bewohner*innen des Stadtteils fort. In Ruhe. Keine Hektik. Viele Menschen, die hier leben, sind logischerweise nervös. Da kann niemand zusätzliche Unruhe gebrauchen. Es funktionierte alles besser, als ich mir während der Vorbereitungszeit erhofft hatte. Für mich unterstrich das noch mal, wie gut wir uns ergänzen, sowohl individuell, als auch als Zusammenschluss von 2 Gruppen, die normalerweise komplett autonom arbeiten.

Wie der Tag zuvor in Kucherivka entwickeln sich auch hier viele Gespräche. Ein ältere Mann zeigt mit seinem Finger auf ein Haus mit kaputten Scheiben (Bild unten). „Ruski“, sagte er mir. Von den von einigen westlichen „Tankies“ verbreitete These, dass die russischsprachige Bevölkerung in der Ost-Ukraine die russische Invasion begrüßen würde, war nicht nur gestern nichts zu merken, auch in Kupiansk kann davon keine Rede sein. Es wird Menschen geben, die die Invasion für gut heißen, die Mehrheit der Menschen hier tut das mit Sicherheit nicht. Sie erzählen immer wieder, mit welcher Brutalität die russische Armee während der Besatzung vorgegangen ist. Wir sehen die Zerstörung, aber auch die tiefen psychischen Verletzungen der Menschen, die wir hier getroffen haben. Ich erspare euch diverse Horrorgeschichten, worüber die Menschen hier berichten und belasse es dabei, dass es ähnliche Erzählungen wie die bekannten Geschichten aus Orte wie z.B. Butscha oder Irpin sind. Mir wird immer wieder schlecht, wenn ich solche Geschichten höre und das ist nur einer der Gründe warum die Moskautreue Propaganda von Tankies mittlerweile hochgradig aggressiv macht.

Als wir mit der Verteilungsaktion in diesem Stadtteil fertig waren, fuhren wir zur anderen Seite von Kupiansk. Um dorthin zu kommen, mussten wir nochmal durch den Stadtteil, der zuvor beschossen wurde. Wir waren uns einig, dass wir dies tun würden, nicht rasen, aber schon sehr flott. Also zurück in die Fahrzeugen und los. Die Idee, noch mal durch den beschossenen Teil der Stadt zu fahren, löste natürlich bei niemand Begeisterung aus, aber der Beschuss hatte im Laufe der letzten Stunde nachgelassen. Ich hatte selbst schon seit einer Weile nichts mehr gehört, bzw. nichts, was nah genug war, um den Stadtteil treffen zu können. Für viele Leser*innen mag es befremdlich sein, dass wir uns entschieden haben, da noch mal durch zu fahren, aber wir haben uns monatelang darauf vorbereitet und wussten wo wir uns darauf einlassen. In einem der Videos, die wir in den vergangenen Monaten veröffentlicht haben, heißt es nicht umsonst „Willkommen am Ende der Welt.“

Augen zu und durch trifft es zwar nicht wortwörtlich, denn wir waren in Alarmstufe 1 Modus, aber im bildlichen Sinne der Redewendung trifft es absolut zu. Wir kamen gut durch und kurze Zeit später kamen wir in einer Hochhaussiedlung an. Ich schaute aus dem Fenster vom Bulli und sah Menschen um ein Feuer vor einem der Hochhäuser stehen. Viele Häuser werden hier mit Strom geheizt und Strom gibt es hier schon lange nicht mehr. Wir steigen aus unsere Fahrzeugen und es bildet sich sofort eine Schlange. Es gibt aber kein Gedränge. Die Menschen sehen müde aus. Zermürbt vom Leben an der Frontlinie, vom ständigen Beschuss, vom Mangel an so ungefähr allem, was sie brauchen. Von dem Stromausfall und dem damit verbundenen Heizungsausfall. Nachts ist es hier deutlich kälter als in Deutschland. Gefragt sind vor allem Kerzen, Streichhölzer, Lebensmittel und Hygiene-Artikel. Wir verteilen die Sachen und unterhalten uns mit einigen Menschen. Auch hier haben einige Menschen, obwohl müde, viel Redebedarf. Das Gesicht einer Frau strahlt auf einmal, als sie hört, wo wir herkommen und dass wir hierhin gekommen sind, um zu unterstützen. Auch hier sind viele Menschen schon vor Monaten geflüchtet und auch hier ist es wichtig mit Menschen zu sprechen, zuzuhören, aber auch einfach da zu sein. Die Angst, dass die Welt sie und ihre Situation vergessen wird, ist immer wieder Thema. Unsere Anwesenheit durchbricht das ein wenig. Vor unserer Fahrt war mir das nicht so bewusst. Manchmal sind auch die kleinen Dinge wichtig, sie können für einzelne Menschen einen großen Unterschied ausmachen. Es ist ja nicht verwunderlich dass Menschen die als letzten in einer Provinzstadt oder Dorf nah an der Frontlinie übrig geblieben sind, wo außer Militär fast niemand von Außen noch hinfährt, sich freuen ein paar andere Gesichter zu sehen und sich freuen sich einfach mit ein paar andere Menschen zu unterhalten. Das hätte ich eigentlich wissen müssen.

Wir steigen wieder in den Bulli ein und fahren zurück zur Basis in Charkiw. Unterwegs, irgendwo in der Charkiw Oblast, sehen wir ein brennendes Fahrzeug. Wir halten kurz an, um zu schauen, ob die Leute erste Hilfe brauchen. Kurz darauf treffen ukrainische Soldat*innen ein. „Go Go Go, die Karre kann gleich explodieren.“ Wir fahren wieder.

Im Bulli denke ich viel nach. Zu meiner Überraschung nicht über den Mörsergranaten die heute doch verdammt nah eingeschlagen waren. Mir wird immer klarer, dass sich hier alles richtig zuspitzen wird im kommenden Winter. Die Kälte wird die Lage vieler Menschen, die hier leben, verschärfen. Was tun? Ich überlege, welche Möglichkeiten wir haben, was wir umsetzen können und was nicht. Holzöfen organisieren? Powerstations für Elektroheizungen? Beides?

Als wir in unserer Unterkunft ankamen, haben wir etwas gegessen und sprachen über den heutigen Tag. Ich sagte, dass ich sehr zufrieden war, wie wir Mittags auf den Beschuss reagiert haben und mit der ganzen Situation umgegangen sind. Aber auch, dass ich mich wohlfühle mit den Leuten von HWV. Die Meinung wurde geteilt, auch von den Genoss*innen aus Kyiv. Da für den nächster Tag ein deutlich ruhigeren Programm anstand, krönten die Gastgeber*innen unsere Unterhaltung durch eine Flasche Wodka zu öffnen. Vielleicht aber auch nur weil das Bier alle war und wir zu spät zurück auf unserer Basis waren, um Bier einzukaufen, denn das ist im Kriegsgebiet abends verboten.

7. Oktober, 2022

Obwohl wir ausschlafen konnten, bin ich auch heute früh aufgestanden. Das hat mich nicht gewundert, denn ich stehe fast immer früh auf. Obwohl der gestrige Tag ein echt harter Tag war, hatte ich gut geschlafen. Ich machte mir einen Kaffee und ging raus, um eine Zigarette zu rauchen. Luftschutzalarm. Kurz darauf knallte es 2 mal. Aber es war weit weg. Ich schüttelte den Kopf, rauchte noch eine Zigarette und checkte diverse Quellen, um den Frontverlauf auf mögliche Veränderungen zu checken, ein Ritual, das ich jeden Morgen und auch Abends betreibe. Ab und zu auch noch ein paar Mal am Tag, vor allem an Tagen, wo wir nah an der Front sind, oder weil ich morgens ein paar Veränderungen festgestellt habe, die ich im Auge behalten möchte.

Alle werden nach und nach wach, wir frühstücken was und fahren zum Zentrum von Charkiw. Heute wird der HWV Tac-Med einen Tac-Med Workshop durchführen. Denn neben das Verteilen von Hilfsgüter ist das Unterstützen von Hilfe zur Selbsthilfe wichtig für die Genoss*innen aus Kyiv. Für uns übrigens auch.

Es sind viele Menschen gekommen. Menschen wird gelehrt, wie sie bei schweren Verletzungen mit einem Tourniquet Gliedmaßen abbinden können, um Blutungen zu stoppen, aber auch, wie sie dies machen können, wenn sie keinen Tourniquet zur Verfügung haben. Wie Druckverbände angelegt werden müssen. Auch Brandwunden sind Thema. Es geht dabei immer um die erste Behandlung bis Rettungskräfte eintreffen. Das kann aber schon mal dauern in abgelegenen Dörfern, oder wenn es gleichzeitig mehrere Angriffe gibt.

Danach sind wir in die Stadt gegangen und haben u.a. Batterien für Taschenlampen eingekauft. Im Zentrum der Stadt wurde viel zerstört. Immer wieder sind zerbombte Gebäude zu sehen. Oft auch Wohngebäude. Im Gegensatz zu den Orten an der Front sind hier aber viele Menschen auf der Straße unterwegs. Vor der 24. Februar wohnten hier 1.5 Millionen Menschen. Viele sind geflüchtet, viele sind aber auch hier geblieben, andere sind zurückgekehrt.

Zwei Cars of Hope Gefährt*innen haben sich auch einen der größten Märkte angeschaut. Dieser Markt wurde vor einigen Monaten am helllichten Tag zerbombt, dabei gab es viele Todesopfer. Der Markt liegt jetzt in Trümmern.

Als ich abends in unserer Unterkunft rausgegangen bin, hörte ich den Alarm wieder. Da hatte ich mich längst daran gewöhnt. Aber unmittelbar nach dem Alarm gab es wieder einen Knall. Dieses Mal deutlich lauter als heute Morgen. Kurz darauf noch ein Knall. Über dem Dach vom Nachbarhaus war ein großer Lichtblitz zu sehen. Das war nah, dachte ich. Es gab danach noch drei Explosionen. Schon schnell war klar, dass das Zentrum von Charkiw von mehreren Raketen getroffen wurde, es war also weiter weg als ich ursprünglich dachte, denn das Zentrum ist etwa 5 Kilometer weit weg von dem Stadtteil, wo wir uns aufgehalten haben. Vielleicht kam es, weil Raketen deutlich lauter sind als Mörsergranaten, vielleicht hab ich mich auch geirrt durch den großen Lichtblitz. Oder das Gesamtpaket hatte mich einfach nervös gemacht. Ohne den Fokus die ich während einer Verteilaktion habe, haben Explosionen vielleicht auch eine andere Wirkung auf mich.

Wir unterhielten uns über den nächsten Tag und haben dabei ein Bierchen getrunken. Das Bier blieb mir aber schon schnell im Hals stecken. Der OB von Charkiw gab bekannt, dass ein Krankenhaus in der Stadt getroffen wurde. Ich spürte nur noch blanke Wut. Währenddessen ließen die Gastgeber*innen sich von dem allem nicht beirren und kochten eine nahrhafte Mahlzeit in großen Töpfen. Diese sollte am nächsten Tag nach Charkiw gebracht werden.

8. Oktober, 2022

Obwohl ich durch meine Wut und entsprechend hohen Puls zum ersten Mal nicht sofort einschlafen konnte, habe ich gut geschlafen. Heute würden wir das Essen das unsere Gastgeber*innen gestern Abend gekocht hatten zu einer ‘Küche für Alle’ im Zentrum von Charkiw bringen. Danach fuhren wir zu einem Kinderkrankenhaus. Dort haben wir u.a. Decken und Hygieneartikel hingebracht. Die Kinder, die dort behandelt werden, wohnen alle in von der russischen Armee besetzten Gebiete. Als ich reinkam, sah ich in die leeren, traurigen Augen von zwei Jungs. Das haute mich innerlich richtig um. Ich ließ mir das aber nicht anmerken und hoffe, dass niemand es bemerkt hat. Denn das ist wahrscheinlich das letzte was diese Kinder brauchen. Später erzählte mir einer der Cars of Hope Genoss*innen das diese Kinderaugen ihn auch tief getroffen haben. Eine Ärztin führte uns rum und erzählte, dass das komplette Personal im März und April, als Charkiw mehr oder weniger im Dauerbeschuss stand, wochenlang rund um die Uhr im Krankenhaus geblieben war, um den Kindern in dieser schwierigen Zeit beizustehen. Sie ging sehr liebevoll mit ihren kleinen Patienten um. Immer wieder klammerten Kinder sich an sie. Sie umarmte die Kinder und sprach liebevoll und mit einem beruhigenden Ton mit den Kindern. Als wir durch einen langen Flur gingen, erzählte sie wie alle Mitarbeiter*innen und die Kinder während der Bombardierungen lange Zeit im Flur verbracht haben, da dort keine Fenster sind, die durch Druckwellen nach Explosionen kaputt gehen können. Das war auch angebracht, denn wir haben in diesem Krankenhaus einige kaputte Fenster gesehen.

Danach sind wir zu einer Hochhaussiedlung, die nördlich von Saltivka liegt. Saltivka ist im Nordosten in der Region Charkiw. Eines der Hochhäuser war durch die Bombardierungen schwer beschädigt. Es bildete sich eine Schlange und wir fingen an Medikamente, Hygiene-Artikel , Lebensmittel und andere Sachen zu verteilen. Auch hier war auffällig, dass die Menschen sich sehr ruhig verhielten, obwohl sie sich in einer absolut miserablen Lage befinden.

Zusammen mit einer der Cars of Hope Gefährt*innen dokumentierte ich die Schäden an dem halb zerbombten Hochhaus in der Straße. Ein Bewohner fragte, ob wir ein Bild von ihm vor dem Gebäude machen könnten. Ich sah ihm in seine Augen und konnte nicht. Für einen Moment war ich völlig blockiert. Ich weiß nicht, wie viele traurige paar Augen ich in den vergangenen Tagen gesehen habe, es waren viele. Zum Glück hatte jemand anderes aus unserer Gruppe die Kraft, seinen Wunsch zu erfüllen. Er stellte sich vor das Hochhaus und wurde fotografiert. Als wir uns später das Bild angeschaut haben, stellte ich fest das es der Gefährt*in gut gelungen war diesen Gesichtsausdruck ins Bild zu bringen. Er hatte echt ein gutes Bild geschossen.

Die HWV Genoss*innen waren schon mal in dieser Hochhaussiedlung und hatten beim letzten Besuch versprochen, das nächste Mal einen Holzofen mitzubringen, denn auch hier können die meisten Menschen nicht heizen. Die Menschen haben sich enorm gefreut das die Genoss*innen es nicht vergessen hatten und sie jetzt heizen können. Kein großer Akt für uns, für die Leute dort ein großer Unterschied.

Nach dieser Verteilaktion sind wir zurück nach Kyiv gefahren. Während der Fahrt hatte ich 1000 Gedanken. Nach etwa 7 Stunden kamen wir beim HWV Lagerhaus in Kyiv an. Wir haben noch was getrunken und waren uns alle einig, dass die Hilfsaktion gut gelaufen war. Es gibt natürlich Details, die wir verbessern können und müssen, aber vor allem, dass die Chemie zwischen allen stimmte, auch in Momenten, wo wir unter Druck standen, hat uns echt viel Energie gegeben. Die Genoss*innen sagten bei der Gelegenheit, dass sie gerne noch mal mit uns an die Frontlinie fahren würden. Wir sagten direkt zu. Morgen geht es zurück nach Deutschland, aber bald werden wir wieder in die Ukraine fahren. Am Ende der Welt.


INFO

Das Cars of Hope Kollektiv benötigt sowohl Sach- als auch Geldspenden für ihren nächsten Hilfstransport in die Ukraine. Im Moment bereiten sie auch eine Kampagne für einen gebrauchten Bulli vor. Als Sachspende werden folgenden Sachen gebraucht: Tourniquets, Druckverbände, Medikamente, Powerbanks, Kerzen, Streichhölzer, Wasseraufbereitungstabletten, Taschenlampen und Batterien in allen Größen. Außerdem werden Powergeneratoren die im Optimal fall sowohl mit Solar, Autobatterien und normalem Strom aufgeladen werden können. Sie brauchen aber auch Geldspenden, um Transporte zu finanzieren und Hilfsgüter in der Ukraine zu kaufen. Viele Dinge sind dort viel günstiger. Und nicht zuletzt brauchen sie Geld für einen gebrauchten Bulli, um ihre Transportkapazitäten zu erhöhen.

E-Mail-Adresse für Sachspenden:
carsofhopewtal@gmail.com

Bankverbindung für Geldspenden:
Volksbank im Bergischen Land, Kontoinhaber: Hopetal e.V., Verwendungszweck: Cars of Hope, IBAN: DE51 3406 0094 0002 9450 87, BIC: VBRSDE33XXX

Cars of Hope in der Ukraine Video aus August 2022

Fußnoten

[1] Tankie ist eine abwertende Bezeichnung für Linke, insbesondere Stalinist*innen, die die autoritären Tendenzen des Marxismus-Leninismus oder allgemeiner autoritäre Staaten, die historisch mit dem Marxismus-Leninismus verbunden sind, unterstützen.

Der Begriff wurde ursprünglich von dissidenten Marxist*innen-Leninist*innen verwendet, um Mitglieder*innen der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) zu bezeichnen, die der Parteilinie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) folgten. Insbesondere wurden damit Parteimitglieder*innen bezeichnet, die den sowjetischen Einsatz von Panzern zur Niederschlagung der ungarischen Revolution von 1956 und später des Aufstands des Prager Frühlings von 1968 befürworteten, oder, allgemeiner ausgedrückt, diejenigen, die generell prosowjetische Positionen vertraten.

[2] Taktische Medizin oder taktische Notfallmedizin ist das medizinische Fachgebiet, das sich mit der notfallmedizinischen Unterstützung befasst, die notwendig ist, um die Sicherheit sowie die körperliche und geistige Gesundheit von Menschen bei Spezialeinsätzen (taktischen) und anderen Einsätzen in Kriegsgebieten und anderen Krisensituationen zu erhalten.