Sūnzǐ Bīngfǎ Nr. #39 – 22. August 2022

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Bonus Beiträge in der PDF Ausgabe: Manifest der Jugend (Frankreich 2022) und Konfliktbereite Gewerkschaften unter Beschuss: Der Krieg der Bosse gegen die sozialen Kämpfe (Italien)

Themen in diese Ausgabe:

Von der Inflation zur Revolte

Rostock Lichtenhagen – Die Tage die alles veränderten

Konspiration und Rauschen

MANIFEST: الشعوب تريد – Einladung zu einem Internationalismus von unten

Libanon: Unsere Kräfte

Die französischen Anarchisten, die es mit finsteren Tech-Giganten aufnahmen – Machine in Flames

Kuba: Anarchistische Überlegungen ein Jahr nach dem 11. Juli (Interview)

Zurück zum Leben

Paris 1973: Die Schlacht im Quartier Latin gegen Bullen und Faschisten

Griechenland – Gegen das Vergessen

Rostock Lichtenhagen – Die Tage die alles veränderten

Am 22. August 1992 begann das Pogrom von Rostock Lichtenhagen, das vier Tage dauerte und auf dessen Höhepunkt nur durch Zufälle einer Gruppe von einhundert Menschen, die meisten von ihnen ehemaligen DDR Vertragsarbeitern aus Vietnam, die Flucht aus einem brennenden Hochhaus gelang.

  • Bereits am 23.8. waren etliche organisierte Nazis, darunter viele Führungskader, aus Westdeutschland in Rostock eingetroffen und beteiligten sich an den Angriffen auf die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST). Aber auch antifaschistische Zusammenhängen waren vor allem aus Berlin und Hamburg angereist um die zahlenmäßig überschaubaren antifaschistischen Rostocker Gruppen zu unterstützen. Am späten Abend gelang es einer größeren Gruppe von Antifas aus der Rostocker Innenstadt fast bis zum Ort des Pogroms vorzustoßen, sie wurde dann aber von den Bullen gestoppt, wobei mehrere Dutzend Antifaschisten festgenommen wurden.

Nachdem die Bewohner der ZAST am 24.8. evakuiert worden war, richteten sich die Angriffe von mehreren tausend Menschen gegen das daneben liegende Wohnheim für die vietnamesischen Vertragsarbeiter. Die Bullen unternahmen wenig, ihre eh sehr überschaubaren Kräfte wurden teilweise weit entfernt vom Brennpunkt der Krawalle eingesetzt. Am 24.8. waren mittlerweile einige hundert Leute vor allem aus Hamburg und Berlin eingetroffen, darunter viele Genoss*innen mit Erfahrungen aus militanten Auseinandersetzungen. Es gelang jedoch den ganzen Abend über nicht, zu einer einem gemeinsamen Handeln zu kommen. Im zentralen Treffpunkt, im Jugendzentrum in der Rostocker Innenstadt, gingen Gruppen rein und andere wieder raus, ständig tagten Plenas, die aber nur wenige Zusammenhänge repräsentierten, die Rostocker waren völlig übermüdet und überfordert, ständig tauchten neue Gerüchte auf, teilweise auch völlig unzutreffende wie das die Nazis vorhätten das Jugendzentrum in der Rostocker Innenstadt anzugreifen, was viele, im Zusammenhang mit fehlenden Ortskenntnissen, dazu brachte, nicht nach Lichtenhagen aufzubrechen. So fuhren immer wieder nur kleine Konvois nach Lichtenhagen, waren aber angesichts von tausenden von Rassisten und Nazis nicht handlungsfähig. Zusammenfassend muss man konstatieren, dass es an diesem Abend bei besserer Koordination vielleicht möglich gewesen wäre, bis zu dem später in Brand gesetzten Wohnheim vorzustoßen. Die Entschlossenheit, dies trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit zu wagen, war bei vielen Genoss*innen vorhanden. So aber kam es nur zu einer symbolischen bundesweiten Demonstration am Wochenende nach dem Pogrom, um die es auch noch viele Konflikte gab, weil die vorbereitenden Gruppen in erster Linie daran interessiert waren, eine “autonome Strafexpedition” in Rostock Lichtenhagen zu verhindern. Der Vorbereitungskreis ging soweit, intern anzukündigen, dass man militante Aktionen in Lichtenhagen mit Gewalt unterbinden würde.

Die Tage von Rostock sorgten im Ausland dafür, dass die Fratze des “hässlichen Deutschen” wieder überdeutlich wahrgenommen wurde, ein Bild, das später unter anderen mit den medial inszenierten “Lichterketten”, bei denen Hunderttausende das “bessere Deutschland” repräsentieren sollten, wieder versucht wurde zu korrigieren. Es folgten die Mordanschläge von Mölln und Solingen, die weitgehende Abschaffung des Asylrechts, und eine linksradikale Grundsatzdebatte über das Verhältnis zum mörderischen deutschen Sonderweg.

Wir erinnern am Jahrestag des Beginns des Pogroms von Rostock Lichtenhagen mit einem Buchauszug aus “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” von Sebastian Lotzer, in dem seine subjektiven Erinnerungen an das Geschehen aufgeschrieben hat , sowie der fünf Jahre nach dem Pogrom entstandene “Blick zurück im Zorn” aus dem Antifa Infoblatt (AIB). Außerdem mit dem 2012 stattgefundenen Gespräch “Es waren nicht die bleiernen Jahre” mit mehreren Leuten aus Berlin und Rostock, die 1992 vor Ort waren (ebenfalls Antifa Infoblatt), sowie der grundsätzlichen Diskussion “Von der aufgezwungenen Selbstverteidigung zur Gegenmacht” aus dem “Telegraph”, ein Gespräch, dass sich auch im empfehlenswerten Buch “30 Jahre Antifa in Ostdeutschland” wiederfindet. Sunzi Bingfa

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Konspiration und Rauschen

Doc McCoy

Als 2010 “Der kommende Aufstand” auf deutsch erschien, fanden sich schnell Rezensionen in den einschlägigen linken Publikationen die das Werk als rechts, antiemanzipatorisch, verschwörungstheoretisch labelten, Geschichte wiederholt sich als Tragödie oder Farce, wie der alte Mann sagte. Das Manifeste conspirationniste, das nun als Broschüre auf deutsch vorliegt, fand gar nicht erst einen deutschsprachigen Verlag, was wohl nicht der Tatsache geschuldet ist, das es nicht mit jener sprachlichen und gedanklichen Brillanz wie dieser erste Text des “Unsichtbaren Komitees” daherkommt, auch wenn, was die Urheberschaft betreffend, jenes Pamphlet das im Original beim angesehenen Edition Seuil Verlag erschien, Gerüchte kursierten, es sei eben Werk zumindestens eines Teils jenes sagenumwobenen Komitees. Sondern der endgültigen politischen und intellektuellen Kapitulation der deutschen Linken im Pandemie Ausnahmezustand.

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Libanon: Unsere Kräfte

Ghassan Salhab

Erschienen in Lundi Matin #345  am 27. Juni 2022, übersetzt von C. für Sunzi Bingfa

“Die Menschheit ist eine physikalische Enttäuschung, die mit Naturnotwendigkeit eintritt: Denn der Liberalismus stellt sein Licht immer unter eine Glocke aus Glas in dem Glauben es werde da brennen, wo keine Luft ist. Doch jenes brennt viel besser im Sturm des Lebens. Wenn kein Sauerstoff mehr da ist, erlischt das Licht . Aber glücklicherweise befindet sich die Glocke im Wasser der hohlen Phrasen und der Pegel steigt in dem Augenblick, in dem die Kerze erlischt. Wenn man die Glocke anhebt, riecht man die wahren Begebenheiten des Liberalismus. Er stinkt nach Kohlenmonoxid” – Karl Kraus

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Kuba: Anarchistische Überlegungen ein Jahr nach dem 11. Juli (Interview)

Black Rose Anarchist Federation

Am 11. Juli erschütterte eine Welle von Antiregierungsprotesten die kubanische Realität auf nationaler Ebene. Ausgehend von den Außenbezirken des Archipels, wie San Antonio de los Baños in der Nähe von Havanna und Palma Soriano in der Provinz Santiago, breiteten sich die Proteste in weniger als 24 Stunden auf mehrere Städte und Gemeinden aus. Tausende von Menschen, angeführt von den prekärsten Schichten der kubanischen Gesellschaft, gingen landesweit auf die Straße. Ein Ereignis dieses Ausmaßes war nicht nur dem kubanischen Staat unbekannt – der letzte Volksaufstand, bekannt als „Maleconazo“, fand 1994 statt – sondern auch den kubanischen Volksschichten selbst. Diese beiden unversöhnlichen Feinde – der Staat und die vom Staat Beherrschten – maßen ihre Kräfte vor dem Hintergrund eines entscheidenden Ereignisses. Die Reaktion des kubanischen Staates war äußerst gewaltsam – 1.848 Verhaftungen im Zusammenhang mit dem 11. Juli wurden verzeichnet. An der historischen Bedeutung dieser Ereignisse kann kein Zweifel bestehen.

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Paris 1973: Die Schlacht im Quartier Latin gegen Bullen und Faschisten

Für den 21. Juni 1973 hat die faschistische Gruppe ‘Ordre nouveau’ (ON) zu einer grösseren Saalveranstaltung nach Paris im Quartier Latin aufgerufen. In der ON ist zu diesem Zeitpunkt die Avantgarde der extremen Rechten in Frankreich aktiv, in ihrer Betonung der militanten Auseinandersetzung und ihren “flachen Hierarchien”, ihrer Schwerpunktsetzung auf den Kampf gegen “die Ausländer und Immigranten” ist sie “ihrer Zeit voraus”, was sich später als neue Rechte rund um die Kameradschaftsszene, um die Ideen von Kühnen und Worch formiert, findet hier ihren historischen Vorläufer. In den Wochen vor dem Treffen zieht der Ordnungsdienst der Faschisten immer wieder durch das Quartier Latein, gut ausgerüstet werden Überfälle und Schlägereien inszeniert. Der Kampf gegen die Faschos ist zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich die Angelegenheit der radikalen Linken, nach dem Mai 1968 sind dies vor allem die Maoisten und Trotzkisten, die beiden bedeutendsten sind die Gauche Prolétarienne (GP) (Proletarische Linke) und die Ligue communiste (LC) (Kommunistische Liga). Beide Gruppierungen haben eine gewisse Verankerung in den Fabriken, vor allem im Großraum Paris, beide sind bekannt für ihr militantes Vorgehen, wobei die LC eher auf eine “Massenlinie” bedacht sind, während die GP immer wieder durch spektakulären Aktionen u.a. mit Molotows von sich reden machen. Es kommt auch zu Treffen von Leuten aus der RAF mit der GP, allerdings lehnen die GP den Schritt zum bewaffneten Kampf ab. Im Juni 1973 sind es diese beiden Gruppen, die das Gros der organisierten Militanten stellen, die sich in Richtung Tagung der Faschisten in Bewegung setzen, der Demonstrationszug umfasst je nach Angaben zwischen 5.000- 10.000 Menschen. Es kommt zu heftigen Kämpfen mit den Bullen, die mit einem großen Aufgebot Stellung in unmittelbarer Nähe zum Tagungsort der Faschisten bezogen haben, zwei Polizeifahrzeuge gehen in Flammen auf, sieben weitere werden völlig zerstört. Etliche Polizisten werden verletzt, einige davon schwer. Trotz aller Militanz und obwohl mehrmals Polizeiabsperrungen durchbrochen werden, gelingt es nicht zum Tagungsort vorzustoßen und die Faschisten aus dem Saal zu prügeln. Im Anschluss wird die LC verboten, der Tag bleibt trotzdem ein wichtiger Bezugspunkt für die kommenden Generationen von Militanten in Frankreich. Wir haben einen Bericht von Alain Cyroulnik, damals einer der führenden Kader der Ligue communiste in Paris über diesen Tag und den Kontext übersetzt. Sunzi Bingfa

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