Das Konzept der Revolution durch die syrische Erfahrung überdenken

Charlotte Al-Khalili

Eine Anthropologie der syrischen Revolution

Kann man zehn Jahre nach den ersten Protesten in Syrien immer noch von einer „syrischen Revolution“ sprechen, zumal sich der Begriff „Syrienkonflikt“ spätestens seit Mitte der 2010er Jahre als bevorzugter Begriff zur Beschreibung der Ereignisse vor Ort durchgesetzt zu haben scheint? Vielleicht erscheint es utopisch, von einer syrischen „Revolution“ zu sprechen, wenn die Zahl der Toten und Verschwundenen in den Gefängnissen des Assad-Regimes in die Hunderttausende geht und die Zahl der gewaltsam Vertriebenen 13 Millionen übersteigt. Kein Wunder, dass man jetzt häufiger von einer humanitären Krise und einem endlosen Konflikt hört.

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Fiat im „Heißen Herbst“: Arbeitergemeinschaft

Die autonomen Arbeiter*innenkämpfe bei FIAT Ende der 60iger, Anfang der 70iger gehörten wohl zu den Geschehnissen in Italien, die damals mit am meisten mit der Hoffnung verknüpft waren, “den Himmel zu stürmen”. Vieles bleibt ja nur als vage Erinnerung erhalten, vieles gerät in Vergessenheit, so z.B. dass damals eigentlich alle antagonistischen Gruppierungen in den Fabriken verankert waren, auch die bewaffneten. Über die Kämpfe bei Fiat mag dieser Text vielleicht ganz gut Auskunft geben, auch wenn er als Auszug weder die Genese dieser Organisierung, noch ihr tragisches Scheitern (u.a. an den eigenen Begrenzungen) abzubilden vermag. Der Text entstammt dem Buch ‘Lavorare in Fiat’ von Marco Revelli, dass von den Genoss*innen von ‘wildcat’, (früher Karlsruher Stadtzeitung) komplett übersetzt und in ihrer Reihe ‘TheKla’ veröffentlicht wurde. Wir haben das Original etwas bearbeitet um es online stellen zu können (die Fußnoten haben wir aus praktischen Gründen weggelassen). Wir setzen damit unsere lose Reihe zur italienischen Autonomia und der italienischen Arbeiter*innenbewegung fort. Sunzi Bingfa

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Der Aufstand gegen den Besuch – Papst Johannes Paulus II in den Niederlanden

Riot Turtle

Im Mai 1985 kam der Papst in die Niederlande, es sollte ein Desaster werden. Nicht nur wegen der stundenlangen Straßenkämpfe während des Besuchs von Papst Johannes Paulus II in Utrecht, sondern auch, weil der Papst in den Niederlanden schlichtweg nicht willkommen war. Auch viele Katholiken gingen auf die Straße, um gegen den Besuch zu protestieren. Sunzi Bingfa

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„Die Revolte stellt alles in den Schatten, was die Welt zu bieten hat“

Idris Robinson

Ein Gespräch mit Gerardo Muñoz, übersetzt von Sunzi Bingfa

Idris Robinson ist ein junger afro-amerikanischer Denker, der in seinen Überlegungen die Geschehnisse in einem Land beleuchtet, das von einem Bürgerkrieg an mehreren Fronten gezeichnet ist. Das Erscheinen seines Textes „How it Might Should Be Done“ (Deutsche Version in Sunzi Bingfa #3) im Juli 2020 verdeutlichte vieles im Durchdenken der Spannungslinien, die durch den Mord an George Floyd, die repressive Verschärfung des Trumpismus, die kapillaren Formen der Proteste, die Ausdehnung des „Hinterlandes“ (ein Niemandsland zwischen den Städten und dem Land) und die neue technisch-räumliche Hegemonie der Großstädte entstanden sind. In diesem Text, der mit poetischer Kraft und analytischer Leidenschaft ausgestattet ist, hat Robinson eine Diskussion angestoßen, die bis heute offen geblieben ist, nämlich die Frage, was das Ergebnis dessen ist, was man mit Nicole Loraux und Giorgio Agamben als einen Bürgerkrieg bezeichnen kann, der sowohl die alten politischen Paradigmen der Autorität als auch die Vermittlungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft überwindet. Diese theoretische Reflexionslinie aufgreifend, wurde sie auf die konkrete historische Linie des Konflikts angewandt, der zum Ende der Sklaverei in seinem Geburtsland führte, es aber nie schaffte, seinen allgegenwärtigen thanatopolitischen Antrieb des anti-schwarzen Rassismus abzuschaffen. Offensichtlich taucht in diesem Zwischenraum die Frage der Verelendung und neuer Formen des Exodus als Vorbereitung auf ein mögliches ethisches Leben auf. Seitdem haben wir weiter mit Robinsons Texten während des dunklen Moments des amerikanischen Interregnums gerungen.

Robinson ist von Beruf Philosoph an der University of New Mexico, wo er an einer Dissertation über Wittgensteins morphologische Logik und Enzo Melandris Arbeit über Analogie arbeitet, aber er ist auch eine prominente Figur in der sozialen Bewegung nach der Ermordung von George Floyd gewesen. In den letzten zwei Jahren hat er mit Ill Will Editions und Red May Seattle zusammengearbeitet. Persönlich möchte ich anmerken, dass Ende letzten Jahres einige von uns im Rahmen einer Konferenz über undercommons and destituent power einen Dialog mit Robinson (1) begannen, in dem es um die Beziehung zwischen Bürgerkrieg, dem Horizont der Destitution und der Möglichkeit einer Verklärung der zeitgenössischen Politik ging. Und im Lichte dieses Austauschs entstand die Idee, einige der Themen, die nun in Form eines Gesprächs erscheinen, zu ordnen. Dabei handelt es sich keineswegs um ein fertiges Gespräch, sondern um eine unabgeschlossene Konversation, in der die Möglichkeiten des Denkens und die Hektik der Ereignisse in einer Epoche außerhalb ihrer selbst zusammenkommen. Die Originalversion dieses Austauschs erschien in Revista Disensoin (Chile Anfang März 2021) und die englische Version erscheint zum ersten Mal hier bei Tillfällighetsskrivande (24. Mai 2021).

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Cesare Battisti im Hungerstreik

Wie seine Familienangehörigen mitteilten befindet sich Cesare seit einigen Tagen im Hungerstreik. Seit Monaten in Totalisolation im Trakt im Knast in Kalabrien gehalten, weil seine einzigen Mitgefangenen dort islamistische Terroristen sind. Cesare hat wiederholt seine Verlegung gefordert, weil er mehrfach von Islamisten mit dem Tode bedroht wurde und er seine Angehörigen praktisch nicht sehen kann. Eingesperrt 40 Jahre nach Taten, für die er selbstkritisch die politische Verantwortung übernommen hat, wird ihm von den Behörden eine besondere Gefährlichkeit unterstellt, um die Rache des Staates zu exekutieren.

Cesare muss raus aus dieser Situation, die auf seine Vernichtung abzielt

Kurz vor Beginn seines Hungerstreiks hat er dies noch einmal in einem Brief Ende Mai an die zuständigen Behörden gefordert und erneut darauf hingewiesen, dass er sich faktisch seit 27 Monaten in Totalisolation befindet. 

Es folgt die Übersetzung eines Briefes von ihm, der jüngst am 6. Juni 2021 auf Carmilla erschien und während seines letzten Hungerstreiks im Herbst 2020 verfasst wurde. Wir weisen an dieser Stelle auch nochmal auf den Beitrag ‘Kalabrisches Guantanamo’ hin, den wir in der letzten Ausgabe der Sunzi Bingfa veröffentlicht haben und in dem Cesare ausführlich auf seine politische Geschichte eingeht. 

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Zum Tod von Bernd Heidbreder

Und immer das gleiche Bild. Man hat zwei Augen zuviel. Nur in der Nacht manchmal glaubt man den Weg zu kennen. Vielleicht kehren wir nächtens immer wieder das Stück zurück, das wir in der fremden Sonne mühsam gewonnen haben. Es kann sein. Die Sonne ist schwer, wie bei uns tief im Sommer. Aber wir haben im Sommer Abschied genommen. Die Kleider der Frauen leuchten lang aus dem Grün. Und nun reiten wir lang. Es muss also Herbst sein. Wenigstens dort, wo traurige Frauen von uns wissen.

Rainer Maria Rilke

Wie soll das gehen, über jemanden zu schreiben, den man das letzte Mal vor über einem Vierteljahrhundert gesehen hat und den man damals schon nicht wirklich gekannt hat, obwohl man so viel zusammen erlebt hat. Wie soll man das erklären, diese verrückten Zeiten, in denen wir alle jeden Tag mit einem Bein im Knast gestanden haben und trotzdem jeden Abend in aller Seelenruhe zu Bett gegangen sind. Ich habe letztens noch eine alte Gefährtin durch Zufall direkt vor meinem Wohnhaus in Kreuzberg getroffen, wir haben über “die Drei” vom K.O.M.I.T.E.E geredet, über alte Verbindungen, die durch die Flucht gekappt wurden, über die verschlungenen Wege, über die einige der alten Weggefährt*innen all die Jahre hindurch Kontakt zu den Genossen gehalten haben. Vieles kann man bis heute nicht öffentlich erzählen, auch wenn es im Moment so aussieht, als wenn die Bemühungen der deutschen Justiz der drei habhaft zu werden, nicht von Erfolg gekrönt zu sein scheinen. Vor einigen Monaten entstand sogar die Initiative “Bring The Boys Back Home”, deren Ziel es war, den dreien eine legale Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen.

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Slowenien – Die antiautoritäre Linke in Zeiten von Corona [Teil 3]

Brigate Plavi

Als am Dienstag den 27.04.2021 etwa 15.000 Menschen durch die Straßen von Ljubljana zogen, war dies nach Wochen der Agonie der Proteste gegen die rechtsextreme Regierung ihre endgültige Wiedergeburt. In den Wochen davor gab es einige Ereignisse, die dazu geführt haben und auch die Ungeduld der Protestbewegung mit der Regierung wachsen ließen. Im folgenden Text wird die Entwicklung im Land nach der Räumung des AT Rog kurz dargestellt. Auf alle Ereignisse im Land im Detail einzugehen ist nicht möglich und auch alle Einzelheiten der politischen Entwicklungen darzustellen würde den Rahmen sprengen. Daher ist der folgende Text eine grobe Zusammenfassung von einigen wichtigen Ereignissen. In den Monaten seit Februar ist das Land noch weiter nach rechts gerückt und dabei wurde es außenpolitisch immer isoliert. Der Rechtsruck zeigt sich beispielsweise in den Gastgeschenken, die das Land anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft verteilen an seine Gäste verteilen will. Es handelt sich dabei um Manschettenknöpfe mit dem „Karanthanischen Panther“, einem Symbol welches auch von slowenischen Neonazis verwendet wird. Dieses Symbol wurde von einem Nationalisten in den 80er Jahren eingeführt, der unter anderem auch die Theorie verbreitete, die Slowenen stammten von den Venetern ab und nicht von den Slawen. Ein Symbol der Rechten soll so zu ein Symbol des Landes umgedeutet werden. Die politische Isolation zeigt sich zum Beispiel daran, dass der rechtsextreme Regierungschef, obwohl er bald die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird, nicht bei einer EU-Konferenz zur Zukunft der EU sprechen durfte.

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Memes ohne Ende

Adrian Wohlleben

Die Genossen von Ill Will veröffentlichen immer wieder wichtige Beiträge über den aktuellen Zyklus der Revolte.Wir übersetzten „Memes without Ends“, einen Beitrag von Adrian Wohlleben über die wichtigen Veränderungen in der Art und Weise, wie Revolten heutzutage gestaltet, stattfinden und organisiert werden. In Europa waren die Gilets Jaunes ein Beispiel, das von großen Teilen der europäischen Linken immer noch nicht wirklich verstanden wird. Wohlleben erklärt auch, wie Teile der Linken Teil der Aufstandsbekämpfungsstrategie der Herrschenden sind. Manchmal unfreiwillig. Sunzi Bingfa.

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Kalabrisches Guantanamo

Cesare Battisti

Vieles was dieser von uns übersetzte aktuelle Brief von Cesare Battisti enthält, wird regelmäßigen Leser*innen der Sunzi Bingfa bekannt vorkommen. Wir veröffentlichen ihn trotzdem aus zwei Gründen. Erstens, weil jeder Brief aus dem Knast, besonders aus den Isolationstrakten, es wert ist, geteilt zu werden. Und zweitens vor dem Hintergrund des repressiven Vorgehens der französischen Justiz gegen dort seit Jahrzehnten im Exil lebende italienische Militante aus den Kämpfen der 70iger. Wir hatten ja schon in der letzten Sunzi Bingfa einen Beitrag dazu. Die ‘Soligruppe für Gefangene’ hat zwei Beiträge die zu der Repression auf Lundi Matin erschienen sind, ins deutsche übersetzt. Ihr findet sie hier und hier. Der Staat vergisst nie, vor allem nicht seine erbittertsten Feinde, eine wichtige Lektion.

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